Beschluss vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 9 L 765/20
Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
1
Gründe:
2Der Einzelrichter ist zuständig, nachdem ihm der Rechtsstreit mit Beschluss der Kammer vom 14. Juli 2020 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
3Der auf die im Verfahren 9 K 2216/20 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Mai 2020 erhobene Anfechtungsklage bezogene Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ordnungsverfügung der Stadt F. , Aktenzeichen
5wiederherzustellen,
6ist bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) dahin auszulegen, dass sich der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung, nicht aber auch auf die Verwaltungsgebühr bezieht. Da nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 Straßenverkehrsgesetz (StVG) eine Klage gegen eine auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis und nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 Satz 1 Justizgesetz NRW (JustG NRW) eine Klage gegen eine Zwangsgeldandrohung bzw. Zwangsgeldfestsetzung keine aufschiebende Wirkung entfaltet, ist insoweit ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sachgerecht und wird als gestellt angesehen. Bezüglich der Gebührenfestsetzung entfällt die aufschiebende Wirkung ebenfalls kraft Gesetzes, nämlich gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, so dass ebenfalls die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt werden müsste. Ein darauf gerichteter Antrag wäre aber unzulässig, wenn ein Antragsteller vor Antragstellung bei Gericht keinen Antrag nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO bei der Behörde gestellt hat. Allerdings verbietet sich eine Auslegung, die zu einem unzulässigen Antrag führt. Da der Antragsteller ersichtlich zuvor keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 6 VwGO bei der Antragsgegnerin gestellt hat, geht das Gericht davon aus, dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Gebührenfestsetzung nicht umfasst.
7Der in dieser Auslegung zulässige Antrag ist nicht begründet.
8Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, Alternative 1 VwGO hängt von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits ab. Bei der Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der sofort vollziehbare Verwaltungsakt rechtswidrig ist, überwiegt das private Aufschubinteresse des Antragstellers. An der Vollziehung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen der angegriffene Bescheid rechtmäßig, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Bestand der sofortigen Vollziehbarkeit.
9Die erhobene Klage hat voraussichtlich keinen Erfolg, weil die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung sich nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellen.
10Rechtsgrundlage der Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Vorschrift gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich 8 oder mehr Punkte ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Die nach Landesrecht zuständige Behörde ist in dieser Hinsicht an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden (§ 4 Abs. 5 Satz 3 StVG). Sie hat für das Ergreifen der Maßnahmen auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (Tattagprinzip, § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG).
11Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 C 21/15 -, BVerwGE 157, 235, juris Rn. 25; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juli 2019 – 9 K 1438/19 –, juris.
13Die Voraussetzungen der unwiderlegbaren gesetzlichen Fiktion des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG lagen vor, so dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entziehen musste. Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit war der 12. Januar 2019. In diesem Zeitpunkt lagen 9 Punkte vor, ohne dass der Punktestand insbesondere durch Tilgungen verringert wurde. Dies ergibt sich aus der Anwendung des gesetzlichen Fahreignungs-Bewertungssystems.
14Gemäß § 4 Abs. 2 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung sind für die Anwendung des Fahreignungs-Bewertungssystems die in einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe s StVG – der Fahrerlaubnisverordnung – bezeichneten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten maßgeblich. Sie werden nach Maßgabe der in Satz 1 genannten Rechtsverordnung wie folgt bewertet:
151. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern in der Entscheidung über die Straftat die Entziehung der Fahrerlaubnis nach den §§ 69 und 69b des Strafgesetzbuches oder eine Sperre nach § 69a Absatz 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches angeordnet worden ist, mit drei Punkten,
162. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern sie nicht von Nummer 1 erfasst sind, und besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten jeweils mit zwei Punkten und
173. verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten mit einem Punkt.
18Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Soweit in Entscheidungen über Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten auf Tateinheit entschieden worden ist, wird nur die Zuwiderhandlung mit der höchsten Punktzahl berücksichtigt.
19Gemäß § 40 FeV sind dem Fahreignungs-Bewertungssystem die in Anlage 13 bezeichneten Zuwiderhandlungen mit der dort jeweils festgelegten Bewertung zu Grunde zu legen. Anlage 13 FeV wiederum enthält tabellarisch die Bezeichnung und Bewertung der im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems zu berücksichtigenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.
20Straftaten werden gemäß Ziffer 2.1 Anlage 13 FeV mit 2 Punkten bewertet, soweit die Entziehung der Fahrerlaubnis oder eine isolierte Sperre angeordnet worden ist (dann 3 Punkte gemäß Ziffer 1. Anlage 13 FeV). Hierzu gehören Nötigung, soweit ein Fahrverbot angeordnet worden ist und die Tat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen wurde (§ 240 StGB, Ziffer 2.1.3 Anlage 13 FeV), unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB, Ziffer 2.1.7 Anlage 13 FeV), Führen oder Anordnen oder Zulassen des Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis, trotz Fahrverbots oder trotz Verwahrung, Sicherstellung oder Beschlagnahme des Führerscheins (§ 21 StVG, Ziffer 2.1.11 Anlage 13 FeV).
21Geschwindigkeitsüberschreitungen werden gemäß Ziffer 2.2.3 Anlage 13 FeV als besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 2 Punkten bewertet, soweit für ihre Ahndung 9.1 bis 9.3, 11.1 bis 11.3 jeweils in Verbindung mit 11.1.6 bis 11.1.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.5 bis 11.2.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.5 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) oder 11.3.6 bis 11.3.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs gemäß Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) einschlägig sind. Sie werden gemäß Ziffer 3.2.2 Anlage 13 FeV als (schlicht) verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 1 Punkt bewertet, soweit für ihre Ahndung 8.1, 9, 10, 11 in Verbindung mit 11.1.3, 11.1.4, 11.1.5, 11.1.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.2, 11.2.3, 11.2.4, 11.2.5 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.2 nur innerhalb, 11.2.5 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.3.4, 11.3.5, 11.3.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs einschlägig sind.
22Zuwiderhandlungen gegen die sonstigen Pflichten des Fahrzeugführers werden gemäß Ziffer 3.2.15 Anlage 13 FeV i.V.m. Ziffern 108, 246.1, 247 der Anlage zur BKatV mit 1 Punkt bewertet. Hierzu gehören das Führen eines Fahrzeugs, ohne dafür zu sorgen, dass das Fahrzeug, der Zug, das Gespann, die Ladung oder die Besetzung vorschriftsmäßig waren, wenn dadurch die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt war oder die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs durch die Ladung oder die Besetzung wesentlich litt (Ziffer 108 der Anlage zur BKatV) sowie das rechtswidrige Benutzen eines elektronischen Geräts beim Führen eines Fahrzeugs (Ziffer 246.1 der Anlage zur BKatV).
23Aus der Verwaltungsakte ergeben sich die folgenden Verkehrsordnungswidrigkeiten:
24Nr. |
Bl. |
Datum |
OWi. / Straftat |
P. |
Rechtskraft |
Tilgung |
1 |
14 VV |
24. 4. 17 |
+ 29 km/h (PKW a.o.) 14. 6. 17, 80,00 € 11.3.5 BKatV |
1 |
5. 7. 17 |
5. 1. 20 |
2 |
15 VV |
18. 8. 17 |
+ 30 km/h (PKW a.o.) 4. 10. 17, 80,00 € 11.3.5 BKatV |
1 |
9. 2. 18 |
9. 8. 20 |
3 |
16 VV |
27. 1. 18 |
Nötigung (§ 240 StGB) 23. 4. 18, 30 Ts., 3 M. FV |
2 |
10. 5. 18 |
10. 5. 23 |
20 VV |
25. 5. 18, |
eing. 4. 6. 18: Mitteilung der Zuwiderhandlungen Nr. 1-3 durch das KBA |
||||
4 |
17 VV |
21. 7. 17 |
+ 21 km/h (PKW i.o.) 19. 9. 17, 120,00 € 11.3.4 BKatV |
1 |
8. 5. 18 |
8. 11. 20 |
25 VV |
29. 5. 18, |
eing. 7. 6. 18: Mitteilung der Zuwiderhandlung Nr. 4 durch das KBA |
||||
5 |
18 VV |
4. 5. 18 |
Führen eines nicht vorschriftsmäßigen Fahrzeugs, 21. 6. 18, 80,00 €108 BKatV |
1 |
25. 7. 18 |
25. 1. 21 |
6 |
19 VV |
29. 3. 18 |
Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) 14. 6. 18, 50 Ts. |
2 |
3. 7. 18 |
3. 7. 23 |
13 VV |
27. 8. 18, |
eing. 4. 9. 18: Mitteilung der Zuwiderhandlungen Nr. 5-6 durch das KBA |
||||
30 VV |
27. 8. 18 |
Ermahnung (abgesandt 13. 9. 18, PZU 17. 9. 18) |
||||
7 |
46 VV |
16. 9. 17 |
+ 49 km/h (PKW i.o.) 11. 10. 17, 200,00 € 11.3.7 BKatV |
2 |
5. 9. 18 |
5. 9. 23 |
8 |
47 VV |
16. 6. 18 |
Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) 30. 10. 18, 50 Ts. |
2 |
23. 11. 18 |
23. 11. 23 |
9 |
48 VV |
17. 1. 18 |
Mobiltelefon, 16. 8. 18, 100,00 €246.1 BKatV |
1 |
6. 11. 18 |
6. 5. 21 |
37 VV |
19. 12. 18, |
eing. 4. 1. 19: Mitteilung der Zuwiderhandlungen Nr. 7-9 durch das KBA |
||||
49 VV |
18. 1. 19 |
Verwarnung (abgesandt 18. 1. 19, PZU 25. 1. 19) |
||||
10 |
100 VV |
12. 1. 19 |
Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) 9. 10. 19, 70 Ts. + 6 M. FV |
2 |
17. 10. 19 |
17. 10. 24 |
Die Zuwiderhandlungen wurden jeweils den zutreffenden Bestimmungen des Bußgeldkatalogs zugeordnet und nach Maßgabe der Anlage 13 FeV durchgehend korrekt bewertet.
26Von den verwirklichten Punkten wurde im Zeitpunkt des jüngsten Tattags kein Punkt getilgt. Die Tilgung der Punktbewertungen richtet sich nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG jeweils für die mit einem Punkt bewerteten Ordnungswidrigkeiten – dann zweieinhalb Jahre – und nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) StVG hinsichtlich der mit zwei Punkten bewerteten Ordnungswidrigkeiten – dann fünf Jahre. Die Tilgungsfristen beginnen jeweils mit dem Tag der Rechtskraft (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Im Zeitpunkt des letzten Tattages (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG) vor der Entziehung der Fahrerlaubnis, dem 12. Januar 2019, war der erste Tilgungszeitpunkt, nämlich der 5. Januar 2020 für die am 5. Juli 2017 rechtskräftig geahndeten Zuwiderhandlung vom 24. April 2017, noch nicht erreicht.
27Ungeachtet der nachträglichen Tilgung am 5. Januar 2020 des durch die 24. April 2017 begangene Zuwiderhandlung verwirklichten Punktes konnte die Eintragung für die Entziehung der Fahrerlaubnis verwertet werden. Sie war nicht gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG zu löschen, weil sie sich in der einjährigen Überliegefrist von einem Jahr befand und daher gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 StVG zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG verwertet werden durfte.
28Weitere Voraussetzung für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist, dass die Vorstufenmaßnahmen gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG ergriffen worden sind. Ergeben sich vier oder fünf Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Ergeben sich sechs oder sieben Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG).
29Die Vorstufenmaßnahmen sind ergriffen worden, ohne dass erhebliche Verringerungen des Punktestandes eingetreten sind. Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG ordnungsgemäß mit Schreiben vom 27. August 2018, abgesandt am 13. September 2018 und zugestellt am 17. September 2018 ermahnt, nachdem er durch folgende Handlungen
30Nr. |
Bl. |
Datum |
OWi. / Straftat |
P. |
Rechtskraft |
Tilgung |
1 |
14 VV |
24. 4. 17 |
+ 29 km/h (PKW a.o.) 14. 6. 17, 80,00 € 11.3.5 BKatV |
1 |
5. 7. 17 |
5. 1. 20 |
2 |
15 VV |
18. 8. 17 |
+ 30 km/h (PKW a.o.) 4. 10. 17, 80,00 € 11.3.5 BKatV |
1 |
9. 2. 18 |
9. 8. 20 |
3 |
16 VV |
27. 1. 18 |
Nötigung (§ 240 StGB) 23. 4. 18, 30 Ts., 3 M. FV |
2 |
10. 5. 18 |
10. 5. 23 |
4 |
17 VV |
21. 7. 17 |
+ 21 km/h (PKW i.o.) 19. 9. 17, 120,00 € 11.3.4 BKatV |
1 |
8. 5. 18 |
8. 11. 20 |
5 Punkte auf Grund rechtskräftig geahndeter, der Antragsgegnerin durch das Kraftfahrtbundesamt unter dem 29. Mai 2018 gemäß § 4 Abs. 8 StVG mitgeteilter Zuwiderhandlungen erreicht hatte. Die am 27. Januar 2018 begangene Nötigung stand nach summarischer Prüfung im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs. Dies ergibt sich aus der Auswertung des Registerauszugs, der als Tatort die Bundesautobahn 1 bei Oyten und als Art der Beteiligung des Antragstellers Führer des PKW ausweist.
32Die Ermahnung enthielt nach § 4 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 7 StVG einen zutreffenden Hinweis auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar, die – unter weiteren Voraussetzungen – zu einer Reduktion um einen Punkt führen könne. Eine Bescheinigung über die Teilnahme an einem solchen Seminar hat der Antragsteller ausweislich des Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin, der keine Anhaltspunkte für eine Unvollständigkeit aufweist, nicht vorgelegt.
33Dass die Ermahnung die vor Ergreifen der Maßnahmenstufe begangenen Zuwiderhandlungen mit den laufenden Nummern 5 und 6 sowie 7 bis 9 nicht berücksichtigt hatte, führt nicht zu einer Verringerung des für die Entziehung maßgeblichen Punktestandes gemäß der hierfür allein in Betracht kommenden Bestimmung des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG.
34Gemäß § 4 Abs. 6 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 oder 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist (Satz 1). Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen (Satz 2). Im Fall des Satzes 2 verringert sich der Punktestand mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen (1.) Ermahnung auf fünf Punkte, (2.) Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist (Satz 3). Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, erhöhen den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand (Satz 4).
35Sofern die Antragsgegnerin auch in Ansehung der vor der Ermahnung bis zum 16. Juni 2018 begangenen Zuwiderhandlungen die Maßnahmenstufe der Ermahnung zu ergreifen hatte, weil sie noch nicht ergriffen worden war (§ 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG), ergibt sich insoweit keine Punktereduzierung zu Gunsten des Antragstellers gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG. Hinsichtlich aller dieser Punkte ergab sich wieder eine Erhöhung gemäß § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG, weil die Antragsgegnerin insoweit erst nach der Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG Kenntnis von diesen vor der Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG begangenen Zuwiderhandlungen erhielt.
36Maßgeblich für den Zeitpunkt der Verringerung ist der Tag des Ausstellens der Ermahnung bzw. Verwarnung. „Tag des Ausstellens“ im Sinne des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG und damit maßgeblicher Tag für die nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG eintretende Verringerung des Punktestands ist der Tag der endgültigen Fertigstellung des Schriftstücks, nicht der Zeitpunkt der Absendung oder des Zugangs der Ermahnung.
37Hentschel/König/Dauer, StVG, 45. A., § 4 StVG Rn. 88.
38Zeitpunkt des Ausstellens der Ermahnung war demnach der 27. August 2018 und nicht ein späterer Zeitpunkt, insbesondere nicht der Tag der Absendung (13. Septtember 2018) oder des Zugangs des Ermahnungsschreibens (17. September 2018).
39Für diese Auslegung spricht zunächst aus der Gesetzessystematik. Das Gesetz stellt das „Ausstellen“ der Ermahnung bzw. Verwarnung (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG) dem „Ergreifen“ einer Maßnahme (§ 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 StVG) gegenüber. Das Ergreifen von Maßnahmen setzt – wenn nicht bereits die Wirksamkeit der Maßnahme durch Zugang beim Betroffenen – jedenfalls ihre Entäußerung aus der Sphäre der Behörde voraus, während der Zeitpunkt des „Ausstellens“ eines Schriftstücks der aktenkundige Zeitpunkt seiner Fertigstellung sein dürfte.
40Hierfür spricht auch die im Wortlaut zum Ausdruck kommende Intention des Gesetzgebers, von der Warn- und Erziehungsfunktion der Maßnahmenstufen innerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems gemäß § 4 StVG weitgehend abzurücken. Die Erziehungswirkung liegt nicht mehr einzelnen Maßnahmen gegenüber dem Betroffenen, sondern vielmehr dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienen. Die Maßnahmen stellen somit lediglich eine Information über den Stand im System dar.
41Vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 9.
42Hieran anknüpfend stellt § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG für die die Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG ausgleichende Erhöhung des Punktestands auf den Kenntnisstand der Behörde von Zuwiderhandlungen, vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind, im Zeitpunkt der Verringerung ab. Anschließend an § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG ist dies ausschließlich der Zeitpunkt der Ausstellung der Ermahnung bzw. Verwarnung, und nicht erst das Ergreifen der Maßnahmenstufe.
43Ist gemäß § 4 Abs. 8 StVG der sich aus den Übermittlungen des Kraftfahrtbundesamtes ergebende Kenntnisstand der Behörde maßgeblich für die Frage, ob eine Maßnahme zu ergreifen ist und sich folglich, wenn die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, der Punktestand verringert (§ 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG),
44vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 C 21/15 -, BVerwGE 157, 235-249, juris Rn. 25, vgl. zuvor auch BayVGH, Beschluss vom 23. Mai 2016 - 11 CS 16.585 -, juris Rn. 15; VG Karlsruhe, Beschluss vom 15. März 2017 - 3 K 217/17 -, juris Rn. 22 a.E.; zuletzt auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juli 2019 – 9 K 1438/19 –, juris Rn. 53.
45kann nichts anderes für den nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG maßgeblichen Kenntnisstand der Behörde gelten. Der für die Fahrerlaubnisbehörde maßgebliche Kenntnisstand für die Erhöhung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG ergibt sich damit ebenso wie der für das Ergreifen von Maßnahmen gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG mit den Wirkungen des § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 StVG aus den Übermittlungen des Kraftfahrtbundesamtes gemäß § 4 Abs. 8 StVG.
46Hieraus folgt, dass sich mit Wirkung vom 27. August 2018 – dem Tag des Ausstellens der Ermahnung – der Punktestand von 13 auf 5 Punkte verringerte, aber unmittelbar wieder nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG auf 13 Punkte erhöhte. Denn sämtliche dieser Punkte sind durch Zuwiderhandlungen verwirkt worden, die vor der auf den 27. August 2018 wirkenden Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG begangen worden sind und von denen die Antragsgegnerin erst nach der Verringerung mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der Ermahnung Kenntnis erhielt. Dies gilt zunächst für die Zuwiderhandlungen mit den laufenden Nummern 5 und 6, die der Antragsgegnerin durch Mitteilung des Kraftfahrtbundesamt vom 27. August 2018, eingegangen am 4. September 2018, zur Kenntnis gelangt sind. Der Zeitpunkt der Kenntniserlangung lag damit nach dem Zeitpunkt des Ausstellens der Ermahnung am 27. August 2018. Der Erhöhung nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin gleichwohl vor Ergreifen der Ermahnung frühestens durch Absendung des Ermahnungsschreibens am 13. September 2018 bereits in Kenntnis von der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamts war. Zudem kommt dem Antragsteller keine Punktereduzierung hinsichtlich der am 16. September 2017 (rechtskräftig geahndet am 5. September 2018, 2 Punkte), am 16. Juni 2018 (rechtskräftig geahndet am 23. November 2018, 2 Punkte) und am 17. Januar 2018 (rechtskräftig geahndet am 6. November 2018, 1 Punkt) begangenen Verkehrsverstöße (laufende Nummern 7 bis 9) nach § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 Nr. 1 StVG zu Gute, denn auch diese Punkte erhöhen den maßgeblichen Punktestand wieder nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG. Die Antragsgegnerin konnte insoweit den Antragsteller noch nicht verwarnen, weil sie – hinsichtlich der weiteren Zuwiderhandlungen erst nachträglich nach Maßgabe des § 4 Abs. 8 StVG Kenntnis erlangt hat. Die Zuwiderhandlungen sind der Antragsgegnerin erst durch Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 19. Dezember 2018, eingegangen am 4. Januar 2019, und damit weit nach Ausstellen der Ermahnung am 27. August 2018 zur Kenntnis gelangt.
47Nachdem die Antragsgegnerin Kenntnis von diesen, im Ergebnis zu einem Punktestand von 13 Punkten führenden Zuwiderhandlungen erlangt hatte, verwarnte sie den Antragsteller ordnungsgemäß mit Schreiben vom 18. Januar 2019.
48Die Verwarnung enthielt nach § 4 Abs. 5 Sätze 2 und 3 StVG die zutreffenden Hinweise auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar, die jedoch zu keinem Punktabzug führen. Die Antragsgegnerin informierte den Antragsteller zudem darüber, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird.
49Dem Antragsteller kommt hinsichtlich dieser Zuwiderhandlungen mit Wirkung vom 18. Januar 2019, dem Tag des Ausstellens der Verwarnung, eine Punktereduzierung auf 7 Punkte zu Gute. Die Antragsgegnerin hatte, weil die Maßnahmenstufe der Verwarnung noch nicht ergriffen worden war, diese zu ergreifen (§ 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG). Denn im Zeitpunkt des nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG für die Maßnahme maßgeblichen letzten Tattages, am 12. Januar 2019, war der Antragsteller noch nicht verwarnt worden. Dies führte zunächst zu einer Punktereduzierung auf 7 Punkte mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Verwarnung (§ 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG). Eine Erhöhung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG trat nicht ein, weil die Antragsgegnerin im Zeitpunkt des Ausstellens der Verwarnung am 18. Januar 2019 bereits, nämlich seit dem 4. Januar 2019, in Kenntnis sämtlicher Zuwiderhandlungen war. Es bleibt insoweit bei der Rechtsfolge des § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG.
50Sofern die Antragsgegnerin auch in Ansehung der vor der Verwarnung begangenen Zuwiderhandlung vom 12. Januar 2019 die Maßnahmenstufe der Verwarnung zu ergreifen hatte, weil sie noch nicht ergriffen worden war (§ 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG), ergibt sich insoweit keine Punktereduzierung zu Gunsten des Antragstellers gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG, weil die Antragsgegnerin im Unterschied zu den übrigen Zuwiderhandlungen hinsichtlich dieser Straftat schon auf Grund der rechtskräftigen Ahnung erst am 17. Oktober 2019 – nicht nach Maßgabe des § 4 Abs. 8 StVG entsprechende Kenntnis erlangt hat.
51Weil der Antragsteller mit der letzten Straftat, von der die Antragsgegnerin unter dem 29. November 2019 Mitteilung erhielt, 9 Punkte erreicht hatte, galt er als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis war zu entziehen. Für eine von der zwingenden Rechtsfolge des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG abweichende Einzelfallbetrachtung ist nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung kein Raum.
52Die Aufforderung, den Führerschein unverzüglich bei der Antragsgegnerin abzuliefern, findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 und 4 StVG.
53Ermächtigungsgrundlage der Zwangsgeldandrohung sind §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60 und 63 Verwaltungsvollstreckungsgesetz NRW (VwVG NRW). Einer Anhörung bedurfte es gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW nicht. Die Höhe des jeweils angedrohten Zwangsgeldes ist angesichts der drohenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit verhältnismäßig. Sie erscheint erforderlich und angemessen, um einen wirtschaftlich Handelnden in der Position des Antragstellers zur Abgabe des Führerscheins zu veranlassen.
54Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 und 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei orientiert sich das Gericht in Anlehnung an die Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Streitwertbemessung in Hauptsacheverfahren, die die Entziehung oder Erteilung einer Fahrerlaubnis betreffen, nach § 52 Abs. 1 und 2 GKG grundsätzlich am gesetzlichen Auffangwert. Die mit dem Grundverwaltungsakt verbundene Zwangsgeldandrohung wirkt nach Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht streitwerterhöhend. Die erhobene Verwaltungsgebühr bleibt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes außer Betracht, weil bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens nicht davon auszugehen ist, dass der Antragsteller sich entgegen § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO, ohne einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde gestellt zu haben, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Gebührenfestsetzung beantragen wollte. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist der sich für die Hauptsache ergebende Wert von 5.000,00 € nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs auf die Hälfte zu reduzieren.
55Dr. Hahn-Lorber
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