Urteil vom Verwaltungsgericht Greifswald (3. Kammer) - 3 A 356/10

Tenor

1. Der Bescheid vom 16.11.2009 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 17.03.2010 wird insoweit aufgehoben, als die Festsetzung den Betrag von 4.271,85 Euro übersteigt.

2. Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auferlegt.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der Vollstreckungsschuld abzuwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Heranziehung zu einem Straßenausbaubeitrag.

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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks G1 in einer Größe von 1.013 m². Das im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 65 „Grimmer Straße“ gelegene Grundstück ist als allgemeines Wohngebiet ausgewiesen. Des Weiteren weist der Bebauungsplan auf dem Grundstück eine 150 m² große Fläche aus, die mit Geh-, Fahr- und Leitungsrechten zu Gunsten der Anlieger und Ver- und Entsorgungsträger zu belasten ist. Es grenzt an die Grimmer Straße und ist mit einem dreigeschossigen Hauptgebäude sowie einem eingeschossigen Nebengebäude nebst zweigeschossigem Anbau bebaut. Das Hauptgebäude wird zu Wohnzwecken genutzt. Das Nebengebäude sowie das Obergeschoss des Anbaus werden gewerblich genutzt. Im Erdgeschoss des Anbaus befinden sich der Sanitärbereich des Gewerbebetriebes sowie zwei Garagen und ein Lagerraum.

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Mit Endbescheid 16.11.2009 zog der Beklagte den Kläger zu einem Straßenausbaubeitrag i.H.v. 6.485,45 EUR für die Straßenausbaumaßnahme Grimmer Straße in dem Abschnitt zwischen der Einmündung der Straße neben dem Gebäude Grimmer Straße 4-6 (Einkaufsmarkt) und der Einmündung der Straße Mühlenweg heran. Dabei zog er von der Grundstücksfläche die mit Geh-, Fahr- und Leitungsrechten zu belastenden Fläche ab, multiplizierte die Restfläche von 863 m² mit dem Faktor für eine dreigeschossige Bebauung (1,5) und dem Faktor für den gewerblichen Artzuschlag (1,5). Gegen die Berücksichtigung des zuletzt genannten Faktors wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch vom 16.12.2009, der vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 17.03.2010 als unbegründet zurückgewiesen worden ist.

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Am 16.04.2010 hat der Kläger Anfechtungsklage erhoben. Er ist der Auffassung, die Berücksichtigung des gewerblichen Artzuschlages sei fehlerhaft. Das Grundstück weise eine Gesamtgeschossfläche von 684,51 m² auf. Davon werde eine Geschossfläche von 219,09 m² gewerblich genutzt. Der gewerblich genutzte Teil der Gesamtgeschossfläche erreiche die von der Rechtsprechung geforderte Grenze von einem Drittel nicht.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 16.11.2009 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 17.03.2010 insoweit aufzuheben, als die Festsetzung den Betrag von 4.271,85 EUR übersteigt.

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Der Beklagte verteidigt den angegriffenen Bescheid und beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Der Kammer haben bei der Entscheidung die beim Beklagten entstandenen Verwaltungsvorgänge vorgelegen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO), so dass er im Umfang der Anfechtung aufzuheben ist.

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Ihm fehlt die gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Kommunalabgabengesetz (KAG M-V) erforderliche Rechtsgrundlage, denn die Satzung der Hansestadt Greifswald über die Erhebung von Beiträgen für den Bau von Straßen, Wegen und Plätzen (Straßenausbaubeitragssatzung - SABS) vom 02.11.2000 i.d.F. der ersten Änderungssatzung vom 06.05.2009 ist nichtig. Die Maßstabsregelung über den gewerblichen Artzuschlag in § 5 Abs. 5 SABS verstößt gegen das Vorteilsprinzip (§ 7 Abs. 1 Satz 3 KAG M-V) und ist daher unwirksam. Dies hat die Gesamtnichtigkeit der Satzung zur Folge, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG M-V. Soweit das Gericht in früheren Entscheidungen von der Wirksamkeit der Straßenausbaubeitragssatzung ausgegangen ist (zuletzt: Urt. v.09.02.2011 – 3 A 505/10), wird daran nicht mehr festgehalten.

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§ 5 Abs. 5 SABS bestimmt, dass zur Berücksichtigung der unterschiedlichen Art der Nutzung die nach Abs. 3 ermittelte Fläche mit 1,5 vervielfacht wird, wenn das Grundstück innerhalb eines tatsächlich bestehenden (§ 34 Abs. 2 BauGB) oder durch Bebauungsplan ausgewiesenen Wohngebiets (§§ 3, 4, 4a Baunutzungsverordnung – BauNVO), Dorfgebietes (§ 5 BauNVO) oder Mischgebietes (§ 6 BauNVO) oder ohne entsprechende Gebietsfestsetzung innerhalb eines Bebauungsplanes gewerblich oder in einer der gewerblichen Nutzung ähnlichen Weise (z.B. Verwaltungs-, Schul-, Post, Bahnhofsgebäude, Parkhaus, Praxen für freie Berufe, Museen) genutzt wird.

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Der so genannte Artzuschlag resultiert aus dem dem Vorteilsprinzip innewohnenden Differenzierungsgebot. Er trägt den Verschiedenheiten in der Art der baulichen oder sonst beitragserheblichen Nutzung Rechnung. Gewerbliche und dem Gewerbe vergleichbare Nutzungen schöpfen regelmäßig aufgrund des durch sie typischerweise verursachten verstärkten Ziel- und Quellverkehrs aus einer Straße einen größeren Vorteil als eine Wohnnutzung. § 7 Abs. 1 Satz 3 KAG M-V schreibt zwar nicht vor, in welcher Weise die unterschiedliche Nutzungsart im Vergleich zum Nutzungsmaß beitragsrechtlich zu bewerten ist. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Vorschrift dem Ortsgesetzgeber für die Berücksichtigung der Nutzungsart im Verteilungsmaßstab ein weitgehendes (Bewertungs-) Ermessen einräumt. Die Ausübung dieses Ermessens ist jedoch durch das Vorteilsprinzip eingeschränkt (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: VGH München, Urt. v. 08.04.2008 – 6 B 05.1276 – juris Rn. 37).

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Anknüpfungspunkt für den Artzuschlag ist der durch die gewerbliche Nutzung vermehrte Vorteil aufgrund der im Vergleich zur Wohnnutzung typischerweise deutlich intensiveren Inanspruchnahme einer Straße. Zwar ist nicht von Bedeutung, welchen Charakter das Gewerbe und welchen Umfang der von der Nutzung ausgelöste Verkehr im jeweiligen Einzelfall hat. Um den Typus Gewerbe von dem Typus Wohnen noch unterscheiden zu können, muss jedoch bei gemischt genutzten Grundstücken oder Gebäuden die gewerbliche Nutzung im Verhältnis zur Wohnnutzung ein gewisses Gewicht haben. Je geringer der gewerbliche Nutzungsanteil an einem Grundstück bzw. Gebäude ist, desto geringer wird erfahrungsgemäß der dadurch ausgelöste Verkehr und damit der Vorteil durch die Verkehrsanlage sein. Wenn der gewerbliche Nutzungsanteil nahezu gegen Null gehen kann, ist ein vermehrter Vorteil im Vergleich zur Wohnnutzung nicht mehr erkennbar, die Grenzen werden verwischt. Dass der Artzuschlag die Nutzungsfaktoren erhöht, Art und Maß der baulichen Nutzung also aneinander koppelt, verstärkt den Effekt (VGH München a.a.O.).

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Den daraus folgenden Anforderungen wird § 5 Abs. 5 SABS nicht gerecht. Die Vorschrift normiert für den Artzuschlag keine Untergrenze für den gewerblichen Nutzungsanteil. Der Artzuschlag ist daher immer zu berücksichtigen, wenn das von der Vorschrift erfasste Grundstück gewerblich oder in einer der gewerblichen Nutzung vergleichbaren Weise genutzt wird. Dies führt dazu, dass Grundstücke, die in geringstem Umfang gewerblich genutzt werden, mit Grundstücken gleichbehandelt werden, die von einer ausschließlichen gewerblichen Nutzung geprägt sind. Damit verstößt die Regelung jedenfalls dann gegen das Differenzierungsgebot, wenn der Zuschlag – wie hier – 50 v.H. beträgt. Daraus folgt zwar nicht, dass die Satzung bei gemischt genutzten Grundstücken erst bei einer überwiegenden gewerblichen Nutzung eine Belastung mit dem grundstücksbezogenen Artzuschlag vorsehen darf. Die entsprechende Grenze kann auch niedriger festgesetzt werden. So ist eine Regelung unbedenklich, nach der die Belastung mit einem Artzuschlag einsetzen soll, wenn mehr als ein Drittel der vorhandenen bzw. zulässigen Gebäudeflächen tatsächlich gewerblich genutzt werden (VGH München, Beschl. v. 08.02.2010 – 6 ZB 08.2719 – juris Rn. 6; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Auflage 2012, § 18 Rn. 66 m.w.N.). Die Kammer lässt offen, ob die Grenze noch niedriger bestimmt werden kann. Maßgeblich ist allein, dass in der Satzung die Anwendung des gewerblichen Artzuschlages in den Fällen geringfügiger gewerblicher oder einer geringfügig der gewerblichen Nutzung vergleichbaren Nutzung ausschließt. Hieran fehlt es vorliegend jedoch.

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Gegenteiliges folgt entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht aus dem Urteil des OVG Schleswig vom 11.02.1998 (- 2 L 79/96 – juris Rn. 47). Zwar hat das Gericht eine Bestimmung nicht beanstandet, wonach der Zuschlag bereits dann fällig ist, wenn ein Grundstück außerhalb von Gewerbe- und Industriegebieten liegt und nicht ausschließlich reinen Wohnzwecken dient. Dies führt dazu, dass der Zuschlag auch bereits bei einer ganz geringfügigen gewerblichen Nutzung eingreift. Nach Auffassung des OVG Schleswig dürfte dies aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität zulässig sein, solange ein Zuschlag von nicht mehr als 25 v.H. gewählt wird. Diese Erwägung trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu, da § 5 Abs. 5 SABS den Faktor 1,5 enthält und der Artzuschlag daher bei 50 v.H. liegt.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Nebenentscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO). Gründe für eine Zulassung der Berufung sind nicht ersichtlich.

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