Beschluss vom Verwaltungsgericht Köln - 12 L 320/22
Tenor
1. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, vorläufig bis zu einer durch ihren Gesundheitsdienst oder durch ihr Gesundheitsamt erfolgten Untersuchung der Antragstellerin oder – im Fall, dass eine solche Untersuchung aus anderen als von der Antragstellerin zu vertretenden Gründen nicht stattfindet – bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren von einer Abschiebung beider Antragsteller abzusehen.
Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.
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Gründe
2Der lediglich im Wortlaut berichtigte Antrag,
3der Antragsgegnerin im Wege des Erlasses der einstweilen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, einstweilen, zumindest aber bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren von aufenthaltsbeenden Maßnahmen gegen die Antragsteller abzusehen,
4hat zum überwiegenden Teil, nämlich aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang, Erfolg.
5Dieser Antrag ist nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft, zulässig und begründet. Die Antragsteller haben einen entsprechenden Anordnungsanspruch im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Letztere Voraussetzung liegt zwar vor, jedoch ist derzeit davon auszugehen, dass die Abschiebung zumindest der Antragstellerin ohne eine weitere Untersuchung bzw. ohne weitere Maßnahmen krankheitsbedingt unmöglich ist.
6Zwar wird laut § 60a Abs. 2c S. 1 AufenthG vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, und muss der Ausländer gemäß § 60a Abs. 2c S. 2 AufenthG eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, deren Voraussetzungen § 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG aufstellt. Insoweit kann hier dahinstehen, ob sämtliche von den Antragstellern vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen diesen Voraussetzungen entsprechen. Denn es liegen jedenfalls in der Gesamtschau im Sinne des § 60a Abs. 2d S. 2 AufenthG tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer – wenn auch nicht lebensbedrohlichen, so doch schwer wiegenden – Erkrankung der Antragstellerin vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde und deshalb ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis entsprechend § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG darstellt.
7Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten für die Antragstellerin geht ausreichend substantiiert und detailliert hervor, dass sie aus orthopädischen Gründen nur für kurze Zeiten stehen, gehen und sitzen kann. Das entsprechende ärztliche Attest der S. GmbH vom 08.11.2021 führt aus, dass bei der Antragstellerin ein fortgeschrittenes degeneratives Syndrom insbesondere der Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule besteht, sie dauerhaft auf einen Rollator angewiesen ist und trotzdem nicht schmerzfrei gehen kann und auch Sitzen von mehr als 10-15 Minuten zu starken und anhaltenden Beschwerden führt, weshalb aus orthopädischer Sicht Situationen zwingend vermieden werden sollten, in denen sie länger als 10-15 Minuten in sitzender Haltung verbringen muss. Die angeführten Beschwerden bestehen ausweislich des von dieser Praxis für eine neurologische Konsultation ausgestellten Überweisungsscheins vom 19.01.2022 in Schmerzen (wegen Myelopathie [M50.0 G]). Eine Myelopathie kann Schmerzen auslösen.
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9Dass die Antragstellerin unter Schmerzen leidet, wird untermauert durch die – isoliert allerdings nicht den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG entsprechende – ärztliche Bescheinigung des Orthopäden der Antragstellerin vom 19.01.2022, wonach neben den degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule zwischenzeitlich von neurologischer Seite ausgeprägte Nervenschäden diagnostiziert worden seien, die dringend weiter abgeklärt werden müssten. Gerichtsbekannt ist, dass Nervenschäden zu schweren Schmerzen führen können.
10Nach allem stellen die für die Antragstellerin zu befürchtenden auftretenden schweren Schmerzen im Rahmen einer länger als 15 Minuten dauernden, in sitzender Haltung erfolgenden Abschiebung eine schwer wiegende Erkrankung im Sinne des § 60a Abs. 2d S. 2 AufenthG in Form sich verstärkender Schmerzen dar, von der momentan nicht gesagt werden kann, ob sie durch entsprechende Schmerzmittel oder andere Maßnahmen ausreichend bekämpft werden kann. Zu letzterem Gesichtspunkt hat insbesondere die Antragsgegnerin nichts vorgetragen und kann es offensichtlich vor einer entsprechenden fachlichen Begutachtung ebenso wenig wie das Gericht.
11Ob das selbe auch für den Antragsteller gilt, für den die von einem praktischen Arzt ausgestellte Überweisung an die Unfallchirurgie wegen (auf mehrfache Brüche zurückzuführender) “stärkste(r) Schmerzen“ allerdings als Überweisung nicht den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG entsprechen kann, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Jedenfalls ausweislich des Notfallscheins Ambulanz des T. in Köln vom 21.01.2022 ist zwar eine deutliche Verbesserung der Schmerzsituation mittels einer Operation wahrscheinlich nicht zu erreichen. Immerhin wurde aber aktuell u.a. die Vorstellung bei einem Schmerztherapeuten empfohlen. Trotzdem ist weder dargelegt, geschweige denn im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht, welchen Grad die Schmerzen des Antragstellers erreichen und wie er seine Schmerzen in den Griff bekommt oder bekommen kann.
12Allerdings bestehen zumindest erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass bei ihm eine tatsächliche Reiseunfähigkeit wegen nicht auszuschließender tätlicher Handlungen während einer Abschiebung besteht. Das ergibt sich aus dem fachärztlichen Attest des medizinischen Versorgungszentrums F. in Köln vom 08.01.2022, das eingehend und substantiiert beschreibt, dass der psychisch labile und zusätzlich hirnorganisch wesensveränderte Antragsteller einen verminderten Realitätsbezug im Rahmen psychotischen Erlebens sowie eine massive Kritikminderung und nur ansatzweise eine Krankheitseinsicht aufweist und davon auszugehen ist, dass eine erzwungene Ausreise zu einer akuten psychischen Dekompensation bei ihm führen würde. Aufgrund seiner geminderten Kritik- und Urteilsfähigkeit ist eine Einsichtsfähigkeit bezüglich einer Ausreise beim Antragsteller nicht zu erwarten. Dementsprechend sind weder fremdaggressive noch autoaggressive Impulskontrollverluste in diesem Zusammenhang auszuschließen.
13Wie die Antragsgegnerin mit einer solchen potentiellen, hinreichend wahrscheinlich gemachten Gefährdung des Antragstellers und dritter Personen im Fall einer Abschiebung umzugehen gedenkt, hat sie nicht dargelegt.
14Im Übrigen bestünde für den Antragsteller wegen seiner Ehe mit der Antragstellerin, für die eine Untersuchung bezüglich der aufgeworfenen gesundheitlichen Fragen vor einer Abschiebung unumgänglich ist, jedenfalls ein aus Art. 6 GG folgendes inlandsbezogenes Abschiebungsverbot für den Zeitraum bis zu einer Untersuchung seiner Ehefrau oder für den Fall, dass eine Untersuchung aus nicht von ihr zu vertretenden Gründen nicht erfolgt, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens.
15Sachgerecht wäre vor einer Abschiebung der Antragsteller darüber hinaus auch eine entsprechende Untersuchung des Antragstellers bezüglich der aufgeworfenen gesundheitlichen Fragen und Gefährdungsaspekte.
16Bis zu den Ergebnissen der Untersuchung zumindest der Antragstellerin, gegebenenfalls auch des Antragstellers, oder für den Fall, dass ein solches Ergebnis – aus nicht von den Antragstellern zu vertretenden Gründen – nicht erreichbar ist, hat bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens eine Abschiebung zu unterbleiben.
17Der über den letztgenannten Zeitpunkt hinausgehende Antrag ist dagegen unbegründet. Dieser Zeitraum fällt aber kostenmäßig nicht ins Gewicht, weshalb die Antragsgegnerin gemäß § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO die gesamten Kosten des Verfahrens zu tragen hat.
18Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG.
19Rechtsmittelbelehrung
20Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
21Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
22Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
23Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
24Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
25Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
26Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
27Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
28Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Referenzen
- § 60a Abs. 2c S. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60a Abs. 2c S. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 123 2x
- § 60a Abs. 2d S. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 920 Arrestgesuch 2x
- § 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 294 Glaubhaftmachung 2x