Beschluss vom Verwaltungsgericht Köln - 19 L 1076/22
Tenor
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aufgegeben, dem Antragsteller ab sofort vorläufig einen Betreuungsplatz mit 35 Stunden in einer wohnortnahen und zumutbaren Kindertageseinrichtung zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu 4/5, der Antragsteller zu 1/5.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, ihm zum 01.08.2022 vorläufig einen Betreuungsplatz mit 45 Stunden, hilfsweise 35 Stunden, in einer wohnortnahen und zumutbaren Tageseinrichtung zur Verfügung zu stellen,
4hat nur teilweise Erfolg. Der Hauptantrag ist zulässig, aber unbegründet. Der Hilfsantrag ist zulässig und begründet.
5Der zulässige Hauptantrag ist unbegründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers getroffen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind die tatsächlichen Voraussetzungen für das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.
6Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
7Soweit der Antragsteller mit dem Hauptantrag einen vorläufigen Betreuungsplatz im Umfang von 45 Stunden begehrt, hat er bereits einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
8Dem am 00.00.0000 geborenen Antragsteller steht gem. § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII grundsätzlich ein Anspruch darauf zu, dass ihm die Antragsgegnerin als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe einen Betreuungsplatz in einer wohnortnahen Kindertagesstätte nachweist. Nach der genannten Bestimmung des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das wie der Antragsteller das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gewährt keinen Anspruch auf Förderung in einer bestimmten Tageseinrichtung. Die Tageseinrichtung muss lediglich in zumutbarer Entfernung vom Wohnort des Kindes und seiner Eltern gelegen sein.
9Da der Antrag des Antragstellers bereits nicht auf Zurverfügungstellung eines bestimmten Betreuungsplatzes gerichtet ist, ist der von der Antragsgegnerin vorgebrachte Umstand, dass in Bergisch Gladbach alle Kindertagesstätten von freien Trägern betrieben würden und diese eigenständig über die Vergabe der Plätze entschieden, vorliegend irrelevant. Die Antragsgegnerin trifft im Übrigen eine unbedingte Bereitstellungs- bzw. Gewährleistungspflicht, der nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnet werden kann.
10Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.06.2019 – 10 ME 134/19 –, juris Rn. 5 m.w.N.
11Der Anspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII bezieht sich jedoch nach einhelliger Auslegung in Rechtsprechung und Literatur nicht auf eine Ganztagsbetreuung im Umfang von 45 Stunden. Dies folgt aus einem Umkehrschluss aus § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII, wonach die Träger der öffentlichen Jugendhilfe darauf hinzuwirken haben, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht. Dieser Regelung hätte es nicht bedurft, wenn sich aus Satz 1 bereits ein Anspruch auf einen Ganztagsplatz ergäbe.
12Vgl. VGH BW, Beschlüsse vom 17.08.2020 – 12 S 1671/20 –, juris Rn. 13 und vom 21.07.2020 – 12 S 1545/20 –, juris Rn. 16 ff.; OVG Saarland, Beschluss vom 08.10.2020 – 2 B 270/20 –, juris Rn. 11; OVG Hamburg, Beschluss vom 27.08.2020 – 4 Bs 241/19 –, juris Rn. 21 ff., 44; OVG Nds., Beschlüsse vom 19.12.2018 – 10 ME 395/18 –, juris Rn. 4, vom 20.06.2019 – 10 ME 134/19 –, juris Rn. 3 und vom 24.07.2019 – 10 ME 154/19 –, juris Rn. 4; Hess. VGH, Beschluss vom 24.10.2019 – 10 B 1966/19 –, juris Rn. 13; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17.03.2021 – 10 K 3326/20 –, juris Rn. 59 f.; Rixen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand 26.08.2019, § 24 SGB VIII Rn. 21; Lakies/Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 24 Rn. 47; Tillmanns, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 24 SGB VIII Rn. 5; Struck/Schweigler, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 24 Rn. 63; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 64. Ed. Stand 01.03.2022, § 24 SGB VIII Rn. 43; offen gelassen von OVG NRW, Beschlüsse vom 29.06.2020 – 12 B 1499/19 –, juris Rn. 7 und vom 26.08.2021 – 12 B 815/21 –, juris Rn. 13 f.
13Im Hinblick auf die durch § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII für Tageseinrichtungen formulierten Ziele – insbesondere unter Berücksichtigung veränderter Familienstrukturen und der Möglichkeit einer zumindest halbtägigen Berufstätigkeit der Eltern einschließlich entsprechender Fahrzeiten, vgl. § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII – geht die Kammer von einer Mindestbetreuungszeit von sechs Stunden täglich aus.
14So auch OVG Saarland, Beschluss vom 08.10.2020 – 2 B 270/20 –, juris Rn. 11; wohl auch VGH BW, Beschluss vom 17.08.2020 – 12 S 1671/20 –, juris Rn. 12 ff.; Lakies/Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 24 Rn. 48 f; Etzold, in: Jox/Wellenhofer, beck-online GK, § 24 SGB VIII Rn. 84; Struck/Schweigler, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 24 Rn. 63; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 64. Ed. Stand 01.03.2022, § 24 SGB VIII Rn. 43; Wabnitz, in: ders./Fieseler/Schleicher, Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII, § 24 Rn. 12; Krug/Riehle, SGB VIII Kommentar, Stand 01.08.2022, § 24 Rn. 42; Wersig, in: Goerdeler/Wapler, SGB VIII OK, § 24 Rn. 8; a.A. VG Stuttgart, Beschluss vom 02.09.2021 – 9 K 3324/21 –, juris Rn. 44 (fünf Stunden).
15Ein weitergehender Anspruch ergibt sich auch aus dem Landesrecht nicht.
16Der zulässige Hilfsantrag ist begründet.
17Für den damit begehrten Betreuungsplatz in einem Umfang von 35 Stunden hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zwar ist der Anspruch aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII – wie ausgeführt – grundsätzlich nur auf einen Betreuungsumfang von 30 Stunden gerichtet. Bei der Antragsgegnerin kann im Bereich der Kindertagesstätten jedoch nur zwischen einer Betreuung im Umfang von 25, 35 oder 45 Stunden gewählt werden. Der Anspruch auf einen Betreuungsumfang von 30 Stunden kann daher nur mit einem 35-Stunden-Platz erfüllt werden.
18Die Antragsgegnerin hat den Förderungsanspruch des Antragstellers bislang nicht erfüllt, obwohl seine Eltern die erforderliche Bedarfsanzeige rechtzeitig gestellt haben. Die Eltern haben den Betreuungsbedarf für den 01.08.2022 über die Online-Plattform „Little Bird“ gegenüber der Antragsgegnerin jedenfalls spätestens am 26.08.2021 und damit nach § 5 Abs. 1 KiBiz NRW mindestens sechs Monate vor Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes angezeigt.
19Es ist insoweit auch unschädlich, dass die Eltern des Antragstellers nach Ablehnung durch zwei von sechs angegebenen Tageseinrichtungen keine weitere, neue Bedarfsanmeldungen mehr eingestellt haben. Der Anspruch auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer öffentlich geförderten Kindertageseinrichtung setzt nach der Bestimmung des § 5 Abs. 1 KiBiz NRW nur voraus, dass Eltern allein dem Jugendamt spätestens sechs Monate vor Inanspruchnahme den Betreuungsbedarf, den gewünschten Betreuungsumfang und die Betreuungsart anzeigen. Eine weitergehende Mitwirkung der Eltern an der Begründung des nach § 24 Abs. 3 SGB VIII bestehenden Anspruchs des Kindes auf Förderung in einer Tageseinrichtung sieht § 5 KiBiz NRW nicht vor. Die Zuweisung eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes in einer öffentlich geförderten Einrichtung liegt nach erfolgter fristgerechter Bedarfsanzeige der Eltern gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Kibiz NRW allein im Verantwortungsbereich des Jugendamtes, hier also der Antragsgegnerin.
20Vgl. VG Köln, Urteil vom 21.10.2021 – 19 K 2697/19 –, nicht veröffentlicht.
21Seitens der Antragsgegnerin wurde auch nicht vorgetragen, dass die Anzeige aus anderen Gründen nicht vollständig gewesen ist.
22Der Antragsteller hat auch den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ohne die begehrte Anordnung drohen ihm schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile. Ein Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren ist ihm nicht zuzumuten; der bis zum Schuleintritt bestehende Anspruch auf Förderung gem. § 24 Abs. 3 SGB VIII ginge allein durch Zeitablauf fortschreitend unter und könnte bei einem Abwarten einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache voraussichtlich weitgehend nicht mehr geltend gemacht werden, weil ein Platz in einer Kindertageseinrichtung rückwirkend nicht mehr zur Verfügung
23gestellt werden könnte.
24Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.05.2019 – OVG 6 S 25.19 –, juris Rn. 3; Sächs. OVG, Beschluss vom 07.06.2017 – 4 B 112/17 –, juris Rn. 10 ff., 18; a.A. OVG NRW, Beschluss vom 23. 09.2020 – 12 B 1293/20 –, juris Rn. 7 ff.; VGH BW, Beschluss vom 17.08.2020 – 12 S 1671/20 –, juris Rn. 11.
25Für den ab 01.08.2022 angemeldeten Bedarf ist es entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin im Rahmen der Eilbedürftigkeit weder erheblich, dass der Antragsteller bis zum 31.07.2022 noch betreut wird, noch, dass die vier noch offenen Betreuungsanfragen möglicherweise noch zu dem Angebot eines Betreuungsplatzes führen können. Die Eltern des Antragstellers konnten bei Antragserhebung bereits mit einer Antwort der Antragsgegnerin zu dem angemeldeten Betreuungsbedarf rechnen, da sie gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 KiBiz in der Regel bis acht Wochen, spätestens aber sechs Wochen vor dem Zeitpunkt, für den der Bedarf angemeldet wurde, eine Benachrichtigung über die Zuweisung des Betreuungsplatzes von der Antragsgegnerin hätten erhalten müssen.
26Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 188 Satz 2 VwGO.
27Rechtsmittelbelehrung
28Gegen diesen Beschluss kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
29Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
30Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
31Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
32Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
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