Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (5. Kammer) - 5 A 200/12
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen einen Leistungsbescheid, mit dem die Beklagte ihn auf Schadensersatz aus dem Beamtenverhältnis in Anspruch nimmt.
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Der Kläger ist bei der Beklagten als Polizeiobermeister in der Revierstation B. tätig. Am 24.11.2011 fuhr der Kläger kurz nach Dienstantritt (gegen 14:35 Uhr) während seiner Spätschicht zur Vorbereitung einer Einsatzfahrt in Begleitung von Polizeiobermeister D. das Polizeidienstfahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen LSA – … (Mercedes Benz) rückwärts und geradlinig aus einer Parklücke auf dem vor der Revierstation B. gelegenen Gelände. Eine Einweisung durch den Beifahrer erfolgte nicht. Nach ca. eineinhalb Fahrzeuglängen stieß er mit dem linken hinteren Teil seines Fahrzeugs an die rechte Fahrzeugseite eines PKW (Mazda), der als einziges weiteres Fahrzeug auf dem Gelände (ordnungsgemäß in einer Parklücke) abgestellt war. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden.
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Im Rahmen der Schadensmeldung vom 24.11.2011 gab der Kläger an, dass er rückwärts aus einer Parklücke habe ausparken wollen. Mit Schreiben 20.01.2012 teilte er weitergehend mit, dass das Dienstfahrzeug am Unfalltag aufgrund von Besucherverkehr nicht an seinem üblichen Platz gestanden habe. Das rückwärtige Ausparken sei für ihn ein gewöhnlicher Vorgang gewesen, welcher zur alltäglichen Praxis gehöre und keine Einweisung erfordert habe. Er habe das andere Fahrzeug weder beim Betreten des Geländes noch beim Rückwärtsfahren bewusst wahrgenommen, obwohl er vor dem Losfahren und auch während der rückwärtigen Fahrt in den Rückspiegel geschaut habe. Aufgrund eines schweren Verkehrsunfalls seines Sohnes am Vortag habe er sich in einer extremen Stress- und Ausnahmesituation befunden, die vermutlich zu einer Ablenkung geführt habe.
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Mit Leistungsbescheid vom 22.03.2012 zog die Beklagte den Kläger auf der Grundlage des § 48 BeamtStG zum Ersatz der entstandenen Reparaturkosten in Höhe von 4.534,95 Euro heran. Der Kläger habe gegen die in § 35 BeamtStG normierte Pflicht verstoßen, dienstliche Anordnungen auszuführen und allgemeine Richtlinien zu befolgen. In Ziffer 20 der Dienstanweisung der Beklagten vom 02.09.2010 über die Haltung und Benutzung von Dienstfahrzeugen sei geregelt, dass sich der Beamte beim Rückwärtsfahren habe einweisen zu lassen, sofern ein Einweiser – wie hier – verfügbar sei. Gegen diese Verpflichtung, über die er jährlich informiert worden sei, habe er vorsätzlich verstoßen. Hätte er sich durch seinen Beifahrer, Polizeiobermeister D., einweisen lassen, wäre der Schaden nicht entstanden. Zudem habe der Kläger grob fahrlässig gegen die sich ebenfalls aus dieser Dienstanweisung ergebende Verpflichtung verstoßen, sich beim Rückwärtsfahren mit der nötigen Sorgfalt zu vergewissern, dass der zu befahrende Raum frei sei. Er habe es unterlassen, sich über den Zustand des rückwärts zu befahrenden Bereiches durch Vornahme eines zusätzlichen Blickes in den linken Seitenspiegel sowie durch eine umfassende Rückschau zu vergewissern. Auch auf die optischen und akustischen Warnsignale der im Polizeifahrzeug installierten und funktionierenden Rückfahrsensoren habe er nicht reagiert. Auf eine Ablenkung könne er sich nicht berufen, da aufgrund seines Dienstantritts am Unfalltag von seiner vollen Einsatzfähigkeit auszugehen gewesen sei.
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Gegen den Leistungsbescheid erhob der Kläger am 19.04.2012 Widerspruch. In seiner Begründung führte er aus, dass der von der Beklagten geltend gemachte Regressanspruch gem. Art. 34 S. 3 GG nur auf dem ordentlichen Rechtsweg geltend gemacht werden könne, nicht hingegen mittels Leistungsbescheid. Zudem habe er nicht grob fahrlässig gehandelt. Die durch den schweren Unfall seines Sohnes hervorgerufene hohe psychische Belastung sei als besonderer Umstand zu berücksichtigen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2012 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und forderte vom Kläger weiteren Schadensersatz in Höhe von 1.201,10 Euro. Zur Begründung trug sie vor: Sie habe den Kläger zu Recht per Leistungsbescheid in Anspruch genommen, da es sich um einen Eigenschaden des Dienstherrn handele, für den gem. § 54 BeamtStG der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sei. Was die durch den Kläger begangenen Pflichtverletzungen anbelange, so verwies sie nochmals auf Ziffer 20 der Dienstanweisung vom 02.09.2010, die ihrerseits § 9 Abs. 5 StVO in Bezug nehme. Es sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen der Kläger das andere Fahrzeug nicht gesehen haben will, zumal er die Rückfahrsensoren hätte wahrnehmen müssen. Entweder sei er so abgelenkt gewesen, dass er „blind und taub“ gefahren sei. Oder er sei schneller als 18 km/h gefahren, denn erst ab dieser Geschwindigkeit würden sich die Rückfahrsensoren abschalten. In diesem Fall sei er allerdings mit unangemessener Rückfahrgeschwindigkeit gefahren, was ebenfalls als grob fahrlässiger Pflichtverstoß anzusehen wäre. Der Kläger habe schließlich auch grob fahrlässig gegen die in § 34 Satz 2 und Satz 3 BeamtStG normierte Pflicht verstoßen, mit dem Eigentum des Dienstherrn sorgsam umzugehen. Neben den im Ausgangsbescheid geltend gemachten Reparaturkosten in Höhe von 4.534,95 Euro seien der Beklagten noch weitere Kosten entstanden, die der Kläger ebenfalls zu ersetzen habe. Dies gelte zunächst hinsichtlich entstandener Telefon-, Porto- und Fahrtkosten in Höhe von 25 Euro. Daneben seien Gutachterkosten in Höhe von 226,10 Euro entstanden. Aus diesem Gutachten ergebe sich zudem, dass das Fahrzeug trotz ordnungsgemäßer Instandsetzung einen Wertverlust von 950,00 Euro erlitten habe. Auch diese Schadensposition sei in Ansatz zu bringen. Insgesamt habe der Kläger damit einen Betrag von 5.736,05 € zu erstatten.
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Der Kläger hat am 27.07.2012 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er ergänzend vor, dass es sich bei dem Unfall um ein für ihn untypisches und einmaliges Versehen gehandelt habe. Insofern sei von einem Augenblicksversagen auszugehen.
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Der Kläger beantragt,
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den Leistungsbescheid der Beklagten vom 22.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 04.07.2012 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte tritt der Klage unter Wiederholung und Vertiefung ihrer Ausführungen im Rahmen des Ausgangs- und Widerspruchsverfahrens entgegen.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung von Polizeiobermeister D. als Zeugen. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 22.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 04.07.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der angefochtene Bescheid ist formal nicht zu beanstanden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Dienstherr einen Schadensersatzanspruch gegen einen Beamten für sogenannte „Eigenschäden“ wegen Verletzung der ihm obliegenden Dienstpflichten durch Leistungsbescheid geltend machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.09.1964 – II C 147.61 – BVerwGE 19, 243). Etwas anderes gilt lediglich für sogenannte „Fremdschäden“, welche der Dienstherr gegenüber dem Beamten von Verfassungs wegen (Art. 34 Satz 3 GG) nur im ordentlichen Rechtsweg geltend machen darf (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.12.2010 – 6 A 338/09 – juris). Da es vorliegend um die Geltendmachung des am Dienstkraftfahrzeug entstandenen Schadens geht, handelt es sich um einen „Eigenschaden“ der Beklagten.
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Der angefochtene Bescheid ist allerdings materiell rechtswidrig. Rechtlicher Anknüpfungspunkt für den von der Beklagten geltend gemachten Schadensersatzanspruch ist § 48 des Gesetzes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – BeamtStG -) vom 17.06.2008 (BGBl. I 1010). Danach haben Beamte, die vorsätzlich oder grob fahrlässig die ihnen obliegenden Pflichten verletzen, dem Dienstherrn, dessen Aufgaben sie wahrgenommen haben, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.
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Diese Anspruchsvoraussetzungen liegen hier nicht vor.
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Eine grob fahrlässige Pflichtverletzung kann dem Kläger zunächst nicht deshalb vorgeworfen werden, weil er gegen die Pflicht verstoßen hat, mit den ihm dienstlich anvertrauten Sachgütern seines Dienstherrn sorgsam und pfleglich umzugehen. Zwar hat der Kläger während der Ausübung seines Dienstes und somit während der Wahrnehmung von Aufgaben seines Dienstherrn eine ihm obliegende Dienstpflicht verletzt, indem er als Führer eines Dienstfahrzeugs das Eigentum seines Dienstherrn dadurch beschädigt hat, dass er beim Ausparken auf dem Innenhof des Polizeireviers das Fahrzeug gegen ein anderes Fahrzeug steuerte und dadurch das ihm anvertraute Dienstfahrzeug beschädigte. Zu den Dienstpflichten des Beamten gehört der sorgsame und pflegliche Umgang mit den ihm dienstlich anvertrauten Sachgütern seines Dienstherrn. Dies gilt auch für den Gebrauch eines Dienstwagens (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.02.2004 – 2 A 11982/03 – juris).
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Dieses Verhalten des Klägers ist aber nicht als grob fahrlässig einzuordnen.
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Ein Beamter verhält sich grob fahrlässig, wenn er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss, oder die einfachsten, ganz nahe liegenden Überlegungen nicht anstellt. Dieser Fahrlässigkeitsbegriff bezieht sich auf ein individuelles Verhalten; er enthält einen subjektiven Vorwurf. Daher muss stets unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände, der individuellen Kenntnisse und Erfahrungen des Handelnden beurteilt werden, ob und in welchem Maß sein Verhalten fahrlässig war. Welchen Grad der Fahrlässigkeitsvorwurf erreicht, hängt von einer Abwägung aller objektiven und subjektiven Tatumstände im Einzelfall ab und entzieht sich deshalb weitgehend einer Anwendung fester Regeln (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 29.07.2013 – 2 A 726/11 – juris Rn. 8 m.w.N.).
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Wird ein Fahrzeug rückwärts bewegt, bleibt in die Betrachtung der konkreten Umstände einzustellen, dass § 9 Abs. 5 StVO Fahrzeugführern beim Rückwärtsfahren besonders hohe Sorgfaltspflichten auferlegt. Nach dieser Regelung muss sich der Fahrzeugführer beim Abbiegen in ein Grundstück, beim Wenden und beim Rückwärtsfahren über die Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 1 bis 4 StVO hinaus so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen. Zwar soll die Bestimmung nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte auf Parkplätzen und in Parkhäusern nur in eingeschränktem Maße Anwendung finden, weil dort geringere Geschwindigkeiten gefahren werden und in besonderem Maße mit rückwärts ausparkenden Fahrzeugen zu rechnen ist. Dies entbindet den auf einem Parkplatz rückwärts fahrenden Fahrzeuglenker aber nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls nicht von besonderen Sorgfaltspflichten in Bezug auf das von ihm geführte Fahrzeug. Denn es handelt sich hierbei um einen atypischen Verkehrsvorgang, dem eine erhöhte Gefährlichkeit innewohnt (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 29.07.2013, a.a.O. Rn. 9 m.w.N.). Überdies hat die Beklagte in Ziffer 20.1 Satz 1 seiner Dienstanweisung vom 02.09.2010 über die Haltung und Benutzung von Dienstfahrzeugen (im Folgenden kurz: DV) geregelt, dass die Regeln des § 9 Abs. 5 StVO an jedem Ort, d.h. auch außerhalb des öffentlichen und fließenden Verkehrs, zu beachten sind. In Ziffer 20.1 der DV heißt es weiter, dass beim Rückwärtsfahren mit äußerster Sorgfalt vorzugehen ist, eine vorherige und ständige Rückschau unerlässlich sind (Ziffer 20.1 Satz 2 DV) und nur überblickbarer und mit Gewissheit freier Raum rückwärts befahren werden darf (Ziffer 20.1 Satz 3 DV).
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Ein besonders schwerer Verstoß gegen die dem Kläger obliegende Sorgfaltspflicht nach § 9 Abs. 5 StVO lässt sich vorliegend nach den konkreten Umständen des Falles jedoch nicht feststellen. Insbesondere war es vorliegend nicht „erforderlich“ i.S.d. § 9 Abs. 5 StVO, sich beim Ausparken einweisen zu lassen. Die erhöhten Sorgfaltspflichten sollen insbesondere im Falle von Sichteinschränkungen die Inanspruchnahme eines Einweisers erforderlich machen und damit Unfälle vermeiden (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15.07.2005, a.a.O.; Sächsisches OVG, Urteil vom 14.10.2010 – 2 A 445/09 – juris Rn. 17). Verursachen deshalb etwa Größe und Bauart des Fahrzeuges mehr als nur unerhebliche Beschränkungen der Wahrnehmungsmöglichkeiten bei Ausparkvorgängen, ist es grundsätzlich geboten, die Hilfe eines Einweisers in Anspruch zu nehmen oder sich als Fahrer vor Beginn des Ausparkvorganges über die Verhältnisse im Umfeld des Fahrzeugs selbst einen Überblick zu verschaffen (Sächsisches OVG, Beschluss vom 29.07.2013 – 2 A 726/11 – juris). Derartige Verhältnisse waren vorliegend nicht gegeben.
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Zur Überzeugung des Gerichts ergibt die Bewertung des Aktenmaterials, nämlich die in den Akten befindlichen Fotos und Skizzen sowie die Vernehmung des Zeugen D. zum Unfallhergang in der mündlichen Verhandlung, dass der Kläger das Fahrzeug nicht „blind“ in den rückwärtigen Bereich manövrierte. Dem Kläger war offenkundig bekannt, wie der dienstlich genutzte Parkplatz aussah. Zwar war die Sicht des Klägers nach hinten durch die Heckscheibe durch im Kofferraum befindliche Einsatzgegenstände nach Angaben des vernommenen Zeugen D. teilweise eingeschränkt. Jedoch wird zum einen nicht behauptet, dass die unmittelbare Sicht durch die Heckscheibe durch die Beiladung des Dienstfahrzeuges vollständig versperrt und damit eine Orientierung durch den Rückspiegel unmöglich war. Auch die Beklagte hat dies nicht behauptet, sondern im Rahmen der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf die vorliegenden Fotos zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger die Möglichkeit hatte, das Gelände durch die Heckscheibe seines Fahrzeuges hinreichend in Augenschein zu nehmen. Trotz einer teilweisen Sichtbehinderung durch die Heckscheibe ist damit von der Möglichkeit der Orientierung hinsichtlich des Abstands des Dienstfahrzeugs zum anderen Fahrzeug zumindest mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Außenspiegel auszugehen. Überdies ergibt sich aus der Fotodokumentation der örtlichen Gegebenheiten im Verwaltungsvorgang der Beklagten, dass der Hof nicht etwa aufgrund einer Vielzahl parkender Fahrzeuge und dementsprechenden engem Verkehrsraum unübersichtlich gewesen wäre. Es waren lediglich das Dienstfahrzeug und ein weiteres Fahrzeug – das spätere Unfallfahrzeug – auf dem Gelände abgestellt. Bei dem zweiten Fahrzeug handelte es sich auch nicht um ein Hindernis, welches nur durch die Heckscheibe wahrnehmbar war oder sich z.B. im toten Winkel der zur Verfügung stehenden Spiegel befunden haben konnte. Das Gericht glaubt dem Kläger auch, dass er während der Rückwärtsfahrt den rückwärtigen Bereich durch den Rückspiegel kontrollierte und überblickte. Die Vernehmung des Zeugen D. hat nichts Gegenteiliges ergeben. Im Übrigen handelte es sich nach dem Vortrag des Zeugen D. um einen normalen Vorgang des rückwärtigen Ausparkens auf einen freien und grundsätzlich ausreichend großen Parkplatz ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer. Für eine besondere, für den Fahrzeugführer durch eigene Rückschau nicht einschätzbare Verkehrssituation, bei der sich die Hinzuziehung eines Einweisers förmlich aufdrängt, bestehen damit keine Anhaltspunkte. Es hieße die Sorgfaltspflichten zu überspannen, wenn von den Beamten in dieser alltäglichen Situation erwartet werden würde, sich eines Kollegen zum Einweisen in den rückwärtigen Bereich zu bedienen.
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Dem Kläger ist auch nicht zu widerlegen, dass er mit gemäßigter Geschwindigkeit in den rückwärtigen Raum gefahren ist. Der Zeuge D. hat bestätigt, dass der Kläger an diesem Tag mit normaler Geschwindigkeit den Ausparkvorgang vorgenommen hat. Soweit die Beklagte auf eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers schließen will, weil das zweite Fahrzeug – wie ein Vertreter der Beklagten unter Hinweis auf eines der Lichtbilder in der mündlichen Verhandlung meinte – durch die Kollision mit dem Dienstfahrzeug um einige Zentimeter verschoben worden sei, so vermag das Gericht dem nicht zu folgen. Aus den in den Akten befindlichen Lichtbildern lässt sich nicht ersehen, in welcher Position sich das zweite Fahrzeug vor dem Aufprall befunden hat. Dies lässt sich nachträglich auch nicht mehr ermitteln. Auch das durch verschiedene Lichtbilder dokumentierte Schadensbild der beiden Fahrzeuge lässt nicht zwingend auf eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers schließen, zumal das zweite Fahrzeug im Wesentlichen an der Stoßstange beschädigt worden ist. Dass der Kläger die Rückfahrsensoren nicht wahrgenommen haben will, lässt ebenfalls nicht den Schluss zu, dass er – wie die Beklagte meint – schneller als 18 km/h gefahren ist. Zwar mag es zutreffen, dass die Einparkhilfe ab dieser Geschwindigkeit deaktiviert wird. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass der Kläger die Rückfahrsensoren nicht bewusst wahrgenommen hat. Zweck einer Einparkhilfe ist es lediglich, dem Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren eine gewisse zusätzliche Sicherheit und Hilfestellung zur Einschätzung des noch verbleibenden Abstandes zu einem Hindernis zu geben. Geht der Fahrer allerdings – wenn auch zu Unrecht – davon aus, der rückwärtige Bereich sei hindernisfrei, wird er auch der Einparkhilfe keine gesonderte Beachtung schenken. Hierbei ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass das Dienstfahrzeug am Unfalltag nicht an seinem üblichen Platz stand. Der Zeuge D. hat bestätigt, dass das Fahrzeug seit Jahren immer an der gleichen Stelle abgestellt wurde und es sich lediglich am Unfalltag in einer anderen Parklücke befand. Vor diesem Hintergrund hält es das Gericht für wahrscheinlich, dass der Kläger das Fahrzeug – wie gewohnt – ausparken wollte und hierbei, da er mit keinerlei Hindernissen rechnete, die (akustischen) Rückfahrsensoren nicht bewusst wahrgenommen hat. Zwar ist angesichts der einfach gelagerten Verkehrssituation und des Umstandes, dass dem Kläger die örtlichen Gegebenheiten des Parkplatzes aus seiner täglichen Dienstverrichtung hinlänglich bekannt waren, davon auszugehen, dass dieser bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt im Rahmen der Rückschau das andere Fahrzeug so frühzeitig hätte erkennen müssen, dass er rechtzeitig vor ihm zum Halten hätte kommen können. Insoweit hat der Kläger durch das übermäßige Zurücksetzen aufgrund einer unzureichend erfüllten Rückschau sicher fahrlässig gehandelt. Ein grob fahrlässiges Verhalten kann hierin allerdings nicht gesehen werden.
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Dass der Kläger darüber hinausgehend vorsätzlich (oder grob fahrlässig) gegen die in Ziffer 20.2 Satz 1 der DV geregelte Pflicht verstoßen hat, sich beim Rückwärtsfahren – unabhängig von den konkreten Sichtverhältnissen – einweisen zu lassen, kann ebenfalls nicht festgestellt werden.
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In Ziffer 20.2 der DV heißt es, dass beim Rückwärtsfahren eine Einweisung zu erfolgen hat (Satz 1). Ist ein Einweiser nicht verfügbar, hat sich der Fahrzeugführer vor Beginn des Rückwärtsfahrens – ggf. auch durch Aussteigen – davon zu überzeugen, dass der rückwärtige Raum vor allem von Hindernissen, die sich im „toten Winkel“ befinden können, frei ist (Satz 2). Nur in begründeten Ausnahmefällen – insbesondere bei eilbedürftigen Maßnahmen – darf von diesen Regelungen abgewichen werden (Satz 3). Mit diesen Regelungen hat die Beklagte über die Anforderungen der Straßenverkehrsordnung hinausreichende Einweisungspflichten geschaffen.
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Indem der Kläger es unterließ, sich beim Rückwärtsfahren durch Polizeiobermeister D. einweisen zu lassen, hat er die ihm aus Ziffer 20.2 Satz 1 der DV auferlegte Pflicht verletzt. Die Haftung nach § 48 BeamtStG setzt lediglich die objektive Verletzung einer Pflicht aus dem Beamtenverhältnis voraus. Welcher Art diese Pflicht im Einzelfall ist, ist unerheblich. Jedes Tun oder Unterlassen, das objektiv gegen den Inhalt einer ihm aufgrund des Beamtenverhältnisses obliegenden allgemeinen oder speziellen Pflicht verstößt, reicht aus. Die Beamten müssen bei ihrer Tätigkeit Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie Einzelweisungen beachten (vgl. § 35 Satz 2 BeamtStG), und zwar auch dann, wenn diese ihnen – wie hier – ohne Weiteres (abstrakt) ein bestimmtes äußeres Verhalten vorschreiben. Verhalten sie sich nicht wie vorgeschrieben, so ist grundsätzlich die Dienstpflicht objektiv verletzt, ohne dass es auf den Eintritt eines schädlichen Erfolges ankommt (vgl. Plog/Wiedow, Loseblatt, Stand: Oktober 2007, § 78 BBG a.F. Rn. 17 ff). Zwar sind Verwaltungsvorschriften unter Berücksichtigung ihres erkennbaren Sinnes auszulegen, was auch die Berücksichtigung der tatsächlichen Handhabung dieser Verwaltungsvorschrift beinhaltet (vgl. Plog/Wiedow, a.a.O., § 78 BBG a.F. Rn. 18b). Das Gericht geht in diesem Zusammenhang auch davon aus, dass sich die Mehrzahl der Beamtinnen und Beamten in der Praxis über die (strenge) Regelung in Ziffer 20.2 Satz 1 der DV zumindest bei eindeutiger Verkehrslage und uneingeschränkten Sichtverhältnissen hinwegsetzt und auf eine Einweisung durch den Beifahrer verzichtet. Dass indes der Dienstherr bzw. die Beklagte dieses Verhalten in der Praxis regelmäßig hinnehmen würde, hat der Kläger nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich. Die Vertreter der Beklagten haben in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass mit der Regelung in Ziffer 20.2 Satz 1 der DV einer überhandnehmenden Anzahl von Unfällen im Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren begegnet werden soll. Insofern sei die Regelung nicht nur geschaffen worden, um die ausufernden Reparaturkosten bei derartigen Unfällen einzudämmen. Ziel sei auch gewesen, das nicht in jeder Hinsicht hinreichend ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein der Beamtinnen und Beamten im Umgang mit den ihnen anvertrauten Dienstkraftfahrzeugen zu schärfen.
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Es kann allerdings nicht festgestellt werden, dass der Kläger gegen die in Ziffer 20.2 Satz 1 der DV geregelte Pflicht vorsätzlich (oder grob fahrlässig) verstoßen hat. Zwar muss sich das Verschulden i.S.d. § 48 BeamtStG lediglich auf die Pflichtverletzung beziehen. Nicht erforderlich ist, dass sich das Verschulden auch auf die Folgen der Pflichtverletzung, den eingetretenen Schaden, erstreckt (vgl. Plog/Wiedow, a.a.O., § 78 Rn. 22 m.w.N.). Auch hat die Beklagte – unwidersprochen – vorgetragen, dass der Kläger jährlich auf die entsprechende Einweisungspflicht hingewiesen worden ist. Zum einen ist allerdings schon zweifelhaft, ob sich der Kläger über den aufgezeigten Inhalt der Regelung in Ziffer 20.2 Satz 1 hinreichend im Klaren war. Denkbar scheint auch, dass er (praxisnah) davon ausging, dass er sich – wie in § 9 Abs. 5 StVO gesetzlich vorgesehen – lediglich „erforderlichenfalls“ durch einen Beifahrer einweisen lassen muss. Zum anderen hat sich der Kläger dahingehend eingelassen, dass er aufgrund des am Vortag schwer verunglückten Sohnes am Unfalltag psychisch angegriffen und abgelenkt gewesen sei. Damit hat er zugleich deutlich gemacht, dass er sich im konkreten Moment des Zurücksetzens seines Dienstfahrzeugs über die bestehende Einweisungspflicht keine Gedanken gemacht hat. Mithin kann nicht festgestellt werden, dass sich der Kläger bewusst und gewollt über die Regelung in Ziffer 20.2 Satz 1 der DV hinweggesetzt hat. Dem Kläger kann lediglich vorgeworfen werden, dass er bei der erforderlichen Aufmerksamkeit und sorgfältiger Prüfung hätte erkennen müssen, dass er – in jedem Fall – gehalten war, sich beim Rückwärtsfahren einweisen zu lassen. Damit hat der Kläger auch insoweit zwar fahrlässig, nicht aber vorsätzlich (oder grob fahrlässig) gehandelt.
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Selbst wenn man davon ausginge, dass der Kläger vorsätzlich gegen die in Ziffer 20.2 Satz 1 der DV geregelte Pflicht verstoßen hat, so wäre der angegriffene Bescheid gleichwohl rechtsfehlerhaft, weil die Beklagte den Kläger zum Ersatz des Schadens in vollem Umfang herangezogen hat. Das Gericht merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Beklagte mit Blick auf die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht des Dienstherrn (§ 45 BeamtStG) in diesem Fall gehalten gewesen wäre, im Rahmen des ihr insoweit zustehenden Ermessens zumindest zu prüfen, ob der Kläger aus Billigkeitserwägungen nur hinsichtlich eines Teils des eingetretenen Schadens in Anspruch zu nehmen ist. Zwar ist die Beklagte aufgrund der in § 48 BeamtStG geregelten Haftung zur Inanspruchnahme des Klägers grundsätzlich gesetzlich verpflichtet (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 09.02.2010 – 5 A 82/09 – juris Rn. 21). Allerdings ist die Fürsorgepflicht des Dienstherrn zumindest bei der Bemessung der geltend gemachten Schadensersatzforderung zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.02.2000 – 12 A 739/97 – juris Rn. 30 m.w.N.). Der Dienstherr kann gehalten sein, beim Vorgehen gegen den Beamten besondere Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, die den Beamten über das mit der gesetzlichen Regelung regelmäßig verbundene oder daher hinzunehmende Maß hinaus belasten. Liegen im Einzelfall derartige besondere Umstände vor, so steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn, ob und in welchem Umfang er sie durch ausnahmsweises Absehen von der Geltendmachung und Durchsetzung des Ersatzanspruchs berücksichtigt (Plog/Wiedow, a.a.O., § 78 BBG a. F. Rn. 50 ff. m.w.N.). Dabei kann im Einzelfall auch bei grob fahrlässiger, u.U. sogar bei vorsätzlicher Verletzung einer Dienstpflicht das Verschulden des Beamten verhältnismäßig gering wiegen. Dies ist etwa der Fall bei verbreitetem und vom Dienstherrn zwar nicht gerade hingenommenem, aber doch nur wenig bekämpften Hinwegsetzen über einzelne Dienstvorschriften, wenn der Beamte den Schaden selbst weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verursacht hat. In derartigen Fallgestaltungen ist es dem Dienstherrn auch nicht verwehrt, vergleichend zu berücksichtigen, ob und welche Haftungserleichterungen im vergleichbaren Falle einem Arbeitnehmer zugute kämen (Plog/Wiedow, a.a.O., Stand: Februar 2012, § 78 BBG a. F. Rn. 52; zur Berücksichtigung der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht bei der Geltendmachung von „Fremdschäden“ im Regresswege vgl. auch BGH, Urteil vom 26.09.1985 – III ZR 61/84 – juris Rn. 38).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 709 Satz 1 VwGO.
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Referenzen
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- § 78 BBG 4x (nicht zugeordnet)
- 2 A 445/09 1x (nicht zugeordnet)
- § 709 Satz 1 VwGO 1x (nicht zugeordnet)
- § 9 Abs. 5 StVO 6x (nicht zugeordnet)
- BeamtStG § 48 Pflicht zum Schadensersatz 4x
- 5 A 82/09 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- 2 A 726/11 2x (nicht zugeordnet)
- 2 A 11982/03 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
- III ZR 61/84 1x (nicht zugeordnet)
- BeamtStG § 35 Weisungsgebundenheit 2x
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- § 9 Abs. 1 bis 4 StVO 1x (nicht zugeordnet)
- BeamtStG § 45 Fürsorge 1x