Beschluss vom Verwaltungsgericht Magdeburg (7. Kammer) - 7 B 226/19

Gründe

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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes,

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die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 24.05.2019 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 02.05.2019 (nicht 08.05.2019) anzuordnen,

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hat Erfolg. Über den Antrag entscheidet gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Einzelrichter im schriftlichen Verfahren.

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Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist er gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Grundsätzlich entfaltet auch in den Fällen, wenn die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 AsylG widerrufen oder zurückgenommen wird, die Anfechtungsklage gemäß § 75 Absatz 1 AsylG aufschiebende Wirkung. Dies gilt gemäß § 75 Absatz 2 Nr. 1 und § 75 Absatz 2 Nr. 2 AsylG ausnahmsweise nicht in den Fällen des Widerrufs oder der Rücknahme wegen - wie hier - des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 AufenthG oder § 3 Absatz 2 AsylG bzw. weil das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Absatz 1 AufenthG abgesehen hat.

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Der Antrag ist auch begründet. In Verfahren über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Aufschubinteressen. Es ist das Interesse des Antragstellers, vorläufig von einer Abschiebung verschont zu werden und bis zum Abschluss des Verfahrens im Gebiet der Antragsgegnerin zu bleiben, dem öffentlichen Interesse an dem sofortigen Vollzug gegenüberzustellen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Die Beurteilung kann dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur auf Grund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen.

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Gemessen an diesen Maßgaben hat das öffentliche Interesse an der Vollziehbarkeit des Widerrufsbescheides hinter dem Interesse des Antragstellers am vorläufigen Verbleib im Gebiet der Antragsgegnerin zurückstehen. Die summarische Prüfung des streitigen Sachverhalts ergibt vorliegend, dass die Anfechtungsklage des Antragstellers aller Voraussicht nach Erfolg haben wird, denn der auf §§ 73 Abs. 2b Satz 1, 26 Abs. 4 Satz 1 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt AufenthG gestützte Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter begegnet ernstlichen Bedenken an seiner Rechtmäßigkeit.

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Das Bundesverwaltungsgericht hat zur inhaltsgleichen Vorgängernorm des § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG, § 51 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. AuslG, bereits mit Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 4.00 -, juris unter Hinweis auf Wortlaut, Gesetzessystematik und Gesetzgebungshistorie entschieden, dass die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren im Sinne dieser Vorschrift nur Bestrafungen nach Erwachsenenstrafrecht, nicht hingegen Verurteilungen zu einer Jugendstrafe erfasst. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die zur Auslegung der wortgleichen Vorgängerregelung in § 51 Abs. 3 (Satz 1) 2. Alt. AuslG entwickelten Grundsätze auch für die Folgeregelung des § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG weiterhin gelten und keiner unionsrechtlichen Modifikation bedürfen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.10.2009 - 10 B 17.09 -, juris, dem folgend OVG Niedersachsen, Urt. v. 11.08.2010 - 11 LB 405/08 -, juris). Von dieser Ausgangslage ist offensichtlich auch der (ursprüngliche) Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz) vom Februar 2019 ausgegangen (www.proasyl.de/wp-content/uploads/2019/02/GE-Zweites-Gesetz-zur-besseren-Durchsetzung-der-Ausreisepflicht.pdf, zuletzt aufgerufen am 14.06.2019). Dieser Entwurf sah u. a. vor, dass § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG dahingehend geändert wird, dass das Wort „Freiheitsstrafe“ durch die Wörter „Freiheits- oder Jugendstrafe“ ersetzt wird. Zur Begründung heißt es in dem Entwurf (S. 38): „Entsprechend der Regelungen des § 60 Absatz 3 Satz 2 sowie § 54 sind Freiheitsstrafe und Jugendstrafe gleich zu behandeln und die bestehende Regelungslücke zu schließen.“ Dieses Vorhaben ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren (vgl. BR-Drs. 179/19 und BR-Drs. 275/19) nicht weiter verfolgt worden.

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Mithin erfüllt die gegen den Antragsteller mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts A-Stadt vom 19.04.2017 wegen gemeinschaftlich begangenen schweren Raubes sowie gemeinschaftlich begangener schwerer räuberischer Erpressung unter Einbeziehung von Urteilen des Amtsgerichts A-Stadt vom 17.03.2015 – 22 Ls 353 Js 1464/15 (39/15), wegen schweren Raubes in zwei Fällen sowie versuchter räuberischer Erpressung (Jugendstrafe von zwei Jahren) und vom 23.02.2016 (42 Ls 353 Js 37417/15 (9/16) und Verstoßes gegen das Waffengesetz (einheitliche Jugendstrafe von 2 Jahren und drei Monaten – unter Einbeziehung des vorgenannten Urteils vom 17.03.2015) verhängte Jugendstrafe von vier Jahren nicht den Tatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG.

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Es kann im Ergebnis offen bleiben, ob der Widerruf auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG gestützt werden kann.

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Allein das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG schließt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht automatisch aus, vielmehr ist erforderlich, dass eine Ermessensentscheidung zu treffen ist (vgl. hierzu auch Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/7537 S. 6, 9). Bei dieser Entscheidung darf nicht allein maßgeblich auf das Strafmaß nach nationalem Recht abgestellt werden, es müssen vielmehr alle besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles bewertet werden (vgl. EuGH, Urt. v. 13.09.2018 – C-369/17 – „Shajin Ahmed“ Rdnr. 48 zur Auslegung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/95). Es ist deshalb in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der betroffene Ausländer mit der abgeurteilten Straftat die Schwelle zur Gefahr für die Allgemeinheit überschritten hat. Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention zwingt insofern zu einer zukunftsgerichteten Prognose (vgl. VG Augsburg, Urt. v. 04.06.2019 – Au 5 K 18.32006 –, juris; VG Würzburg, Urt. v. 04.02.2019 – W 8 K 18.32231 –, juris; Koch in Beck Online-Kommentar, Ausländerrecht, Kluth/Heusch 22. Edition Stand: 15.08.2016, § 60 AufenthG Rdnr. 56). Das „kann“ in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist so auszulegen, dass eine umfassende individuelle Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden muss.

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Eine solche Ermessensentscheidung ist im vorliegenden Fall nicht ergangen. Vielmehr wird in der Begründung des angefochtenen Bescheides auf Seite 7 ausdrücklich hervorgehoben, dass eine Ermessensabwägung nicht geboten sei.

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Das Gericht weist vorsorglich auf folgendes hin: Ob ein Nachschieben von Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren zulässig ist, beantwortet sich nach Maßgabe des einschlägigen materiellen und Verwaltungsverfahrensrechts. Unzulässig ist das Nachschieben von Ermessenserwägungen im Prozess insbesondere dann, wenn diese den angefochtenen Bescheid in seinem Wesen ändern, wenn Umstände einbezogen werden, die zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt noch nicht vorgelegen haben oder wenn die Rechtsverteidigung des Betroffenen beeinträchtigt wird, etwa dadurch, dass die Behörde nicht hinreichend bestimmt zu erkennen gibt, welche Erwägungen letztlich maßgeblich und vom Gericht zu prüfen sein sollten (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.2011 - 1 C 14.10 -, juris). In der Rechtsprechung ist allerdings auch geklärt, dass § 114 Satz 2 VwGO lediglich die Ergänzung, nicht aber die erstmalige Betätigung des Ermessens im Falle eines zunächst vorliegenden Ermessensausfalls bzw. Ermessensnichtgebrauchs betrifft (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.09.2006 - 1 C 20.05 -, juris). Fehlt einer Entscheidung, die in das Ermessen der Behörde gestellt ist, die nach dem maßgeblichen Verfahrensrecht (vgl. § 39 VwVfG) erforderliche Begründung, bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob das Fehlen von Ermessenserwägungen auf einem Ermessensnichtgebrauch beruht. In diesem Fall ist eine während des Klageverfahrens nachgeholte Begründung nicht nach § 114 Satz 2 VwGO zuzulassen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 29.01.2018 - 9 B 1540/17 -, juris m. w. N.).

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.

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Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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