Beschluss vom Verwaltungsgericht Minden - 11 L 814/20
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen die Auflage Nr. 1 der Verfügung des Antragsgegners vom 29.09.2020 wird wiederhergestellt.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 5.000,00 € festgesetzt
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Gründe:
2Das als Antrag nach § 123 VwGO formulierte Begehren des anwaltlich nicht vertretenen Antragstellers, dem Antragsgegner aufzugeben, die von ihm angezeigte Versammlung während der Veranstaltung des Freizeitparks auf dem Marktplatz in H. im Sichtbereich des Ponykarussels zwischen 17.00 Uhr und 19.00 Uhr täglich zuzulassen, war nach § 88 VwGO, §§ 133, 157 BGB in dem aus dem Tenor ersichtlichen Sinne auszulegen.
3Der nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zulässige Antrag ist begründet.
4Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Auflage unter Nr. 1 der Verfügung vom 29.09.2020 und dem Interesse des Antragstellers am einstweiligen Nichtvollzug fällt zu Gunsten des Antragstellers aus.
5Die Interessenabwägung richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung kann es kein öffentliches Interesse daran geben, dass sie sofort vollzogen wird. Umgekehrt ist regelmäßig davon auszugehen, dass bei offensichtlicher Rechtmäßigkeit das Aufschubinteresse des Antragstellers zurückzustehen hat.
6Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angesichts der Kürze der für eine gerichtliche Entscheidung zur Verfügung stehenden Zeit nur möglichen summarischen Prüfung stellt sich die angefochtene Polizeiverfügung als offensichtlich rechtswidrig dar.
7Rechtsgrundlage für die mit Verfügung vom 29.09.2020 erteilte Auflage, durch die der vom Antragsteller angemeldete Versammlungsort auf den Gehweg der G. -F. -Straße vor der Umzäunung des Parkgeländes verlegt wird, ist § 15 Abs. 1 VersammlG.
8Nach § 15 Abs. 1 VersammlG kann eine Versammlung oder ein Aufzug verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Die „öffentliche Sicherheit“ umfasst hierbei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel – aber nicht nur – eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit anzunehmen ist, wenn durch die geplante Versammlung strafbare Verletzungen dieser Schutzgüter drohen.
9Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 – 1 BvR 233/81 und
101 BvR 341/81 –, BVerwGE 69, 315, 352.
11Geht es um die versammlungsbehördliche Verlegung der Versammlung von dem angemeldeten an einen anderen Ort, ist zu berücksichtigen, dass von dem Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters nach Art. 8 Abs. 1 GG prinzipiell auch die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst ist. Die Behörde hat im Normalfall lediglich zu prüfen, ob durch die Wahl des konkreten Versammlungsorts Rechte anderer oder sonstige verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter der Allgemeinheit beeinträchtigt werden. Ist dies der Fall, kann der Veranstalter die Bedenken durch eine Modifikation des geplanten Ablaufs ausräumen oder aber es kommen versammlungsrechtliche Auflagen in Betracht, um eine praktische Konkordanz beim Rechtsgüterschutz herzustellen. Art. 8 Abs. 1 GG und dem aus ihm abgeleiteten Grundsatz versammlungsfreundlichen Verhaltens der Versammlungsbehörde entspricht es, dass auch bei Auflagen das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters im Rahmen des Möglichen respektiert wird. Ferner ist von Bedeutung, ob durch die Auflage die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit beseitigt werden kann, ohne den durch das Zusammenspiel von Motto und geplantem Veranstaltungsort geprägten Charakter der Versammlung – ein Anliegen ggf. auch mit Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen am Wirksamsten zur Geltung zu bringen – erheblich zu verändern.
12Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 9, und Urteil vom 22.02.2011 – 1 BvR 699/06 –, juris Rn. 64; so auch OVG NRW, Beschluss vom 02.07.2020 – 15 A 2100/18 –, juris Rn. 74.
13Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Fläche, auf der die N1. veranstaltet wird, dem Anwendungsbereich des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht deshalb entzogen, weil die Veranstaltung von einem privaten Dritten durchgeführt wird, das Gelände umzäunt ist und es Zugangskontrollen gibt.
14Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit verschafft zwar kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten und insbesondere keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. Die Durchführung von Versammlungen etwa in Verwaltungsgebäuden oder in eingefriedeten, der Allgemeinheit nicht geöffneten Anlagen ist von Art. 8 Abs. 1 GG ebenso wenig geschützt wie etwa in einem öffentlichen Schwimmbad oder Krankenhaus. Von der Versammlungsfreiheit ausgenommen sind auch Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert oder nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird. Demgegenüber verbürgt die Versammlungsfreiheit aber – und das ist vorliegend entscheidend – die Durchführung von Versammlungen dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist. Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder durch private Investoren geschaffene und betriebene Plätze als Orte des Verweilens, der Begegnung, des Flanierens, des Konsums und der Freizeitgestaltung ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können. Dies gilt auch für Stätten außerhalb des öffentlichen Straßenraumes, an denen in ähnlicher Weise ein öffentlicher Verkehr eröffnet ist und Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen. Ausschlaggebend ist die tatsächliche Bereitstellung des Ortes und ob nach diesen Umständen ein allgemeines öffentliches Forum eröffnet ist. Grundrechtlich ist unerheblich, ob der in Rede stehende Kommunikationsraum mit den Mitteln des öffentlichen Straßen- und Wegerechts oder des Zivilrechts geschaffen wird.
15Vgl. OVG NRW, Urteil vom 02.07.2020 – 15 A 2100/18 –, juris Rn. 100 mw.N. zur Rechtsprechung insbesondere des BVerfG.
16Dies zugrunde gelegt steht das Kirmesgelände als vom Antragsteller vorgesehener Versammlungsort für den Publikumsverkehr in einer Art und Weise offen, dass ein „Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht“,
17so BVerfG, Beschluss vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 5 a.E.,
18gegeben ist, der dem Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 8 GG unterfällt.
19Weder die privatrechtliche Organisation der Kirmes als „Freizeitpark“ noch die Tatsache, dass der Zugang zum Veranstaltungsgelände kontrolliert wird und auf maximal 1.700 – so die Begründung der Verfügung vom 29.09.2020 – oder 1.500 Personen – so die Antragserwiderung vom 30.09.2020 – begrenzt ist, steht dem entgegen. Diese Zugangsbeschränkungen haben nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand den Zweck, den Anforderungen Rechnung zu tragen, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben. Sie erfolgen, um zu vermeiden, dass sich mehr Besucher auf dem Gelände aufhalten, als zugelassen sind, nicht aber dazu, nur bestimmten Personen Zugang zu gewähren. Soweit in der Begründung der angefochtenen Verfügung ausgeführt wird, durch die Limitierung der Besucherzahlen sei „der Zugang nur zum Zweck der Nutzung der Fahrgeschäfte und sonstiger Betriebe der Schausteller zugelassen“, ist dies zumindest in Ermangelung weiterer Ausführungen nicht nachvollziehbar. Ein Eintrittsgeld von einem Euro, zu dessen Erhebung der Veranstalter nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Antragstellers berechtigt ist, rechtfertigt diese Schlussfolgerung weder rechtlich noch tatsächlich eine solche Annahme.
20Dass dem vorgesehenen Versammlungsort auf dem Kirmesgelände rechtlich geschützte Interessen des privaten Veranstalters entgegenstehen oder auch nur von diesem geltend gemacht worden sind, ist nicht ersichtlich. Für ihn gelten die Regeln der sog. mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten,
21vgl. erneut BVerfG, Beschluss vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 6,
22mit der Folge, dass das Hausrecht, das ihm durch den aufgrund des Pachtverhältnisses vermittelten Besitz auf der Veranstaltungsfläche zusteht, durch die objektive, wertsetzende Bedeutung des Grundrechts des Art. 8 Abs. 1 GG begrenzt wird; dies wäre im Streitfall von den zuständigen Zivilgerichten zu berücksichtigen. Ein vom Veranstalter ohne konkreten Grund pauschal gegen den Antragsteller ausgesprochenes Hausverbot wäre unzulässig. Die bloße Tatsache, dass ihm das Hausrecht zusteht, ist für die Entscheidung des Antragsgegners, die Versammlung nicht auf dem Veranstaltungsgelände zuzulassen, jedenfalls nicht ausreichend tragfähig.
23Da nach den unbestrittenen Angaben des Antragstellers in der Antragsschrift während der N2. „seit Jahren“ im Sichtbereich des Ponykarussels von ihm demonstriert worden ist, ist auch nicht ersichtlich, welche Umstände gegen diesen konkreten Standort sprechen könnten. Sofern sich noch herausstellen sollte, dass gegenläufigen Interessen – anderer – Dritter oder der Allgemeinheit bei der Planung der angemeldeten Versammlung nicht hinreichend Rechnung getragen worden ist, müsste dem ggf. durch weitere versammlungsbehördliche Auflagen begegnet werden.
24Darauf, ob der Betrieb des Ponykarussels den Vorschriften des Tierschutzgesetzes in Einklang steht oder nicht, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an.
25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
26Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Sie berücksichtigt, dass aufgrund des heutigen Beginns der vom Antragsteller geplanten Versammlung durch die Entscheidung im Eilverfahren die Hauptsache vorweggenommen wird.
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Referenzen
- 1 BvR 233/81 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 123 1x
- 1 BvR 699/06 1x (nicht zugeordnet)
- 15 A 2100/18 2x (nicht zugeordnet)
- 1 BvQ 25/15 3x (nicht zugeordnet)
- §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 2x
- 1 BvR 341/81 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 157 Auslegung von Verträgen 1x
- BGB § 133 Auslegung einer Willenserklärung 1x
- VwGO § 88 1x