Beschluss vom Verwaltungsgericht Minden - 12 L 599/22.A
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 12 K 2197/22.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2022 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.
1
Gründe:
2A. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechts-anwalt E. , M. , ist abzulehnen, weil die Antragsteller trotz Aufforderung des Gerichts keine Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 117 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 ZPO) vorgelegt haben.
3B. Der am 1. August 2022 gestellte Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage 12 K 2197/22.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2022 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen,
5ist zulässig und begründet. Die im Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragsteller aus.
61. Für die vorzunehmende Interessenabwägung gelten die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO anwendbaren allgemeinen Grundsätze. Dementsprechend ist das Interesse der Antragsteller an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung gegen das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage maßgeblich zu berücksichtigen.
7Dagegen setzt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage anders als in Fällen der Unzulässigkeit des Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AsylG oder der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags nicht voraus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen (§ 36 Abs. 1 und 4 Satz 1 AsylG). Im Gegensatz zu § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG enthält § 34a Abs. 2 AsylG keine entsprechende Einschränkung. Ein Antrag, § 34a Abs. 2 AsylG entsprechend zu fassen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit.
8Vgl. VG Trier, Beschluss vom 18. September 2013- 5 L 1234/13.TR -, juris Rn. 5 ff. mit ausführlicher Darstellung des Ablaufs des Gesetzgebungsverfahrens; VG Darmstadt, Beschluss vom 9. Mai 2014 - 4 L 491/14.DA.A -, juris Rn. 2.
92. Nach derzeitigem Sach- und Streitstand ist offen, ob die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
10§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG bestimmt, dass dann, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat oder - wie hier - in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat anordnet, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist nach derzeitigem Sach- und Streitstand offen. Zwar ist Polen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-VO) für das Asylverfahren der Antragsteller zuständig (a). Diese Zuständigkeit ist zwischenzeitlich nicht auf die Antragsgegnerin übergegangen (b). Es bedarf aber der Aufklärung in der Hauptsache, ob die Antragsteller im Falle ihrer Überstellung nach Polen aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (GrCh) ausgesetzt sein werden (c).
11a) Polen ist für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller zuständig.
12Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO 604/2013 sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden. Welcher Mitgliedstaat dies ist, bestimmt sich (vorrangig) nach den Kriterien der Art. 8 bis 15 VO 604/2013 und zwar in der Rangfolge ihrer Nummerierung (Art. 7 Abs. 1 VO 604/2013). Lässt sich anhand dieser Kriterien nicht bestimmen, welcher Mitgliedsstaat zuständig ist, so ist der erste Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013).
13In einem Wiederaufnahmeverfahren, wie es nach Art. 23 VO 604/2013 auch im Fall der Antragsteller einschlägig ist, wird die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats jedoch - anders als im Aufnahmeverfahren - nicht anhand der Kriterien in Art. 8 bis 15 VO 604/2013 geprüft. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
14- vgl. dessen Urteil vom 2. April 2019, C-582/17, Celex-Nr. 62017CJ0582 -
15ist vielmehr entscheidend, dass der um Wiederaufnahme ersuchte Mitgliedstaat die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 VO 604/2013 bzw. des Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) bis d) VO 604/2013 erfüllt, was hier der Fall ist. Die Zuständigkeit Polens folgt aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) oder c) VO 604/2013. Danach ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, (u.a.) einen Antragsteller, der entweder während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, wieder aufzunehmen. Eine solche Lage ist hier gegeben:
16Die Antragsteller haben in Polen unzweifelhaft Anträge auf internationalen Schutz gestellt, was sich jedenfalls daraus ergibt, dass für sie in Bezug auf Polen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 vorliegen. Diese Treffer bestehen aus der Länderkennung PL für Polen und einer Zahlenkombination. Die Ziffer unmittelbar nach der Länderkennung - im vorliegenden Fall eine 1 - gibt den Grund für die Abnahme von Fingerabdrücken an, wobei eine 1 für „Asylbewerber“ und damit für die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz und eine 2 für „illegale Einreise“ ohne Stellung eines solchen Antrags steht. Diese Anträge haben die Antragsteller, wie sich aus den Recherchen des Bundesamtes in der Eurodac-Datenbank ergibt, am 12. August 2021 gestellt.
17Im Anschluss an diese Asylantragstellung in Polen haben die Antragsteller dieses Land verlassen, ohne dass eine Entscheidung ergangen wäre. Die Antragsteller haben nichts über eine ihnen gegenüber in Polen bekanntgegebene Asylentscheidung berichtet. Polen ist dementsprechend - wie es in seinem Schreiben vom 16. Mai 2022 selbst ausführt - gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) VO 604/2013 zur Wiederaufnahme der Antragsteller verpflichtet.
18b) Die Pflicht Polens die Antragsteller gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) VO 604/2013 wiederaufzunehmen ist nicht wegen Verstreichens der maßgeblichen Ersuchens- und Überstellungsfristen erloschen.
19aa) Die in der VO 604/2013 vorgesehene Frist, innerhalb welcher der als zuständig ermittelte Mitgliedstaat (hier Polen) um Wiederaufnahme des betreffenden Ausländers zu ersuchen ist, ist gewahrt. Nach der vorliegend einschlägigen Bestimmung des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 ist das Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung zu stellen. Vorliegend erfolgte der Eurodac-Treffer am 22. März 2022. Das Bundesamt hat am 5. Mai 2022 die polnischen Behörden um Wiederaufnahme der Antragsteller gebeten, sodass die Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 in jedem Fall gewahrt ist.
20Die sich aus Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 ergebende Frist überschreitet in diesem Fall auch nicht die Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013, wonach das Wiederaufnahmegesuch innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten ist, wenn sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System stützt. Auch dann, wenn ein Eurodac-Treffer erzielt wurde und somit ein Fall des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 gegeben ist, ist es nicht möglich, ein Wiederaufnahmegesuch nach Ablauf der Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013, d.h. mehr als drei Monate nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, wirksam zu unterbreiten, auch wenn dies weniger als zwei Monate nach Erhalt einer Eurodac-Treffermeldung geschieht.
21Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 -, juris Rn. 63 ff.
22Ein Antrag auf internationalen Schutz ist dabei nicht erst mit der förmlichen Antragstellung beim Bundesamt, sondern bereits dann gestellt, wenn der Behörde, die für die Bestimmung des für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaates zuständig ist, ein Schriftstück zugegangen ist, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Drittstaatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/17 -, juris Rn. 79 ff.
24Zwar ist dieser Zeitpunkt in der beigezogenen Bundesamtsakte nicht dokumentiert. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass ein „Schriftstück, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Drittstaatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat“, in Bezug auf die Antragsteller nicht vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet an das Bundesamt gelangt sein kann. Ausgehend von dem danach frühestmöglichen Zeitpunkt der Erstellung und Weiterleitung des besagten Schriftstückes an das Bundesamt, dem 22. März 2022, hat das Bundesamt weniger als drei Monate gebraucht, um die polnischen Behörden um Wiederaufnahme der Antragsteller zu bitten. Das betreffende Gesuch ist - wie ausgeführt - bereits am 5. Mai 2022 und somit in jedem Falle fristgerecht bei den polnischen Behörden eingegangen.
25bb) Ebenso wenig ist die sechsmonatige Frist für die Überstellung der Antragsteller in den zuständigen Mitgliedstaat (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013) mit der Folge überschritten, dass die Zuständigkeit für die Durchführung ihres Asylverfahrens gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 auf die Antragsgegnerin übergegangen wäre.
26Gemäß Art. 29 Abs. 1 VO 604/2013 erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald sie praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Die polnischen Behörden haben dem Gesuch des Bundesamtes am 16. Mai 2022 (mithin binnen der 2-Wochenfrist des Art. 25 Abs. 1 VO 604/2013) zugestimmt. Ausgehend hiervon ist die sechsmonatige Überstellungfrist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unzweifelhaft noch nicht verstrichen.
27c) Der Überstellung der Antragsteller nach Polen steht aber entgegen, dass nach derzeitigem Sach- und Streitstand offen ist, ob sie im Falle ihrer Überstellung dorthin aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh ausgesetzt sein werden (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013).
28Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 liegen vor, wenn das erkennende Gericht zu der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gelangt, dass ein Antragsteller wegen systemischer Schwachstellen, also strukturell bedingter, größerer Funktionsstörungen, im konkret zu entscheidenden Fall in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
29Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 (juris Rn. 9) zur Rechtslage nach der Verordnung 343/2003.
30Dabei ist es für die Anwendung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta gleichgültig, ob das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betreffenden Person zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss besteht.
31Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 88.
32Insoweit ist das zuständige Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Derartige Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 der EU-Grundrechtecharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
33Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 87 ff., und vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. -, juris, Rn. 87 ff., und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 -, juris, Rn. 39.
34Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC kann auch in einer Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen. Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. Die Beurteilung des Vorliegens eines Mindestmaßes an Schwere ist der Natur der Sache nach relativ. Sie hängt von allen Umständen des Falles ab, wie der Dauer der Behandlung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in einigen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür und die damit oft verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und der Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person hervor, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK.
35Vgl. EGMR, Urteile vom 21 . Januar 2011 - 30696/09 - M.S. S./Belgien u. Griechenland, HUDOC Rn. 221, vom 10. Januar 2012 - 42525/07 und 60800/08 - Ananyev u.a./RussIand, HUDOC Rn. 141, und vom 20. Oktober 2016 - 7334/13 - Mursic/Kroatien, HUDOC Rn. 99.
36Nach diesen Vorgaben ist nach aktuellem Kenntnisstand offen, ob den Antragstellern im Falle ihrer Überstellung nach Polen eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im eben beschriebenen Sinne droht.
37In Polen werden neben erwachsenen Asylbewerbern auch Kinder aus einer Reihe von Gründen (z.B. Identitätsabklärung, Fluchtgefahr, Sicherheitsgründe) inhaftiert. Im Jahr 2021 waren hiervon 567 Kinder betroffen (davon waren 486 in Begleitung ihrer Eltern, bei 81 handelte es sich um unbegleitete Minderjährige). Die Verweildauer in einem Haftzentrum beträgt zwischen 52 Tagen und 5 Monaten (letzteres im sogenannten rigorosen Haftzentrum). Die Inhaftierung von Kindern wird automatisch angeordnet, ohne individuelle Bewertung ihrer Situation und Bedürfnisse. Auch hören die Gerichte die Kinder nicht an. Medizinische und psychologische Untersuchungen finden nicht statt, stattdessen stützten sich die Gerichte auf die von den Grenzschutzbeamten vorgelegten Dokumente. Laut NGOs herrschen in den Haftzentren keine kindgerechten Unterbringungsbedingungen. Die Familien werden in Zentren untergebracht, in denen früher nur Männer untergebracht waren. In der Praxis bedeutet dies, dass die Infrastruktur nicht an die Bedürfnisse von Minderjährigen angepasst ist. Zudem sehen die Haftzentren wie Gefängnisse aus. Die Kinder gehen nicht in reguläre Schulen. Schulen in der Nähe einiger Haftanstalten entsenden Lehrer in die Haftanstalten, wo die Kinder dann in speziell geschaffenen Unterrichtsräumen unterrichtet werden. Während der COVID-19 Pandemie mussten die Kinder - genauso wie polnische Schüler - online am Unterricht teilnehmen, was viele Probleme verursachte, da die Eltern keine Unterstützung bei der Erklärung der Aufgaben von der Schule erhielten.
38Auch äußerte der Menschenrechtskommissar im Januar 2022 in einem Schreiben an die Präsidenten der Regionalgerichte (Prezesów Sądów Okręgowych) unter anderem seine Besorgnis über die Inhaftierung von Familien mit Kindern. Er betonte, dass keines der Haftzentren ein geeigneter Ort für Kinder sei. Ihm zufolge könne die Inhaftierung negative und irreversible Auswirkungen auf die Entwicklung und den psychophysischen Zustand eines Kindes haben, insbesondere bei einer traumatischen Migrationserfahrung, da diese Einrichtungen keine geeigneten Orte für Kinder seien. Der Kommissar wies auch darauf hin, dass keine der Haftanstalten die ordnungsgemäße Umsetzung des verfassungsmäßigen Rechts der Kinder auf Bildung garantiert, da der Inhalt und die Form der didaktischen und pädagogischen Aktivitäten nur einen kleinen Umfang des Unterrichtsprogramms umsetzen.
39Vgl. Asylum Information Database (aida): Country Report: Poland: update 2021, S. 88 ff.
40Aus den vorliegenden Erkenntnissen ergibt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit, ob eine Inhaftierung zu den oben beschriebenen Haftbedingungen auch Asylbewerbern die - wie hier die Antragsteller - im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, droht. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Aufklärung in der Hauptsache, ob auch Antragsteller mit minderjährigen Kindern, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, inhaftiert werden und wenn ja, welche Bedingungen dann in den Haftzentren für diese Gruppe der Antragsteller genau gelten.
413. Die bei offenen Erfolgsaussichten der Klage vorzunehmende Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten der Antragsteller aus. Ihr privates Suspensivinteresse überwiegt angesichts der Schwere der ihnen infolge der Überstellung möglicherweise drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK das öffentliche Vollzugsinteresse. Dahinter hat das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache zurückzutreten. Zudem ist eine spätere Überstellung nach Polen - für den Fall, dass sich die Abschiebungsanordnung als rechtmäßig erweisen sollte - ohne Weiteres und wesentlich einfacher möglich als eine Rückholung der Antragsteller, sollten sie jetzt überstellt werden, sich später aber die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung herausstellen.
42Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
43Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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