Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 5 L 596/20
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 20. Juli 2020 – 5 K 1605/20 – gegen Nr. 1 der Allgemeinverfügung des N. für B. , H. und T. zur Vermeidung weiterer Infektionsgeschehen in Großbetrieben der Fleischwirtschaft vom 20. Juli 2020 wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2I. Der – aktuell gestellte, sinngemäß dahingehend auszulegende – Antrag der Antragstellerin,
3die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 20. Juli 2020 – 5 K 1605/20 – gegen Nr. 1 der Allgemeinverfügung des N. für B. , H. und T. zur Vermeidung weiterer Infektionsgeschehen in Großbetrieben der Fleischwirtschaft vom 20. Juli 2020 anzuordnen,
4hat Erfolg. Er ist zulässig (1.) und begründet (2.).
51. Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1 VwGO zulässig (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8 IfSG). Dies gilt insbesondere, soweit mit dem Antrag nunmehr die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen Nr. 1 der Allgemeinverfügung des N. für B. , H. und T. des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 2020 (Allgemeinverfügung) gerichteten Klage begehrt wird. Diese Antragsänderung, die der entsprechend erklärten Klageänderung im Verfahren 5 K 1605/20 folgt, ist jedenfalls sachdienlich im Sinne des § 91 Abs. 1 VwGO.
62. Der Antrag ist begründet.
7Die gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Nr. 1 der Allgemeinverfügung überwiegt das private Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung nicht.
8Anträgen nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist stattzugeben, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Betroffenen an einem einstweiligen Nichtvollzug gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung vorrangig erscheint. Dabei wird ein das öffentliche Interesse überwiegendes Individualinteresse des Betroffenen regelmäßig dann angenommen, wenn der mit der Klage angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, wohingegen ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung in der Regel zu bejahen ist, wenn sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist und zudem ein Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO vorliegt. Lässt sich bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung weder das eine noch das andere feststellen, hängt der Erfolg des Antrags ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren davon ab, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder das entgegenstehende private Interesse an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in der Hauptsache überwiegt. Schließt der Gesetzgeber auf der Grundlage des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO - wie hier gemäß § 28 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 8 IFSG - die aufschiebende Wirkung der Klage aus, so schlägt das Vollzugsinteresse im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei offenem Prozessausgang in der dann gebotenen Interessenabwägung mit erheblichem Gewicht zu Buche. Das bedeutet aber nicht, dass sich dieses Interesse gegenüber dem Aufschubinteresse regelhaft durchsetzt.
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 – 4 VR 1005.04 -, juris, Rn. 12.
10Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der gegen Nr. 1 der Allgemeinverfügung gerichteten Klage anzuordnen. Bei der im vorliegenden Verfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass Nr. 1 der angegriffenen Allgemeinverfügung (offensichtlich) rechtswidrig ist (a)). Die allgemeine Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus (b)).
11a) Es kann dahinstehen, ob die Rechtsformenwahl zu beanstanden sein wird, indem anstelle einer Rechtsverordnung eine Allgemeinverfügung erlassen worden ist, und ob die angegriffene Allgemeinverfügung inhaltlich hinreichend bestimmt ist (§ 37 Abs. 1 VwVfG NRW), woran die Kammer allerdings keinen Zweifel hat. Des Weiteren kann offenbleiben, ob die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG vorliegen, wonach die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen trifft, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, wenn u. a. Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden. Denn jedenfalls ist in Bezug auf den Betrieb der Antragstellerin die gewählte Rechtsfolge zu beanstanden, da schon seitens des Antragsgegners nichts dafür dargelegt ist, dass die in Nr. 1 der Allgemeinverfügung vorgesehenen Regelungen gegenüber der Antragstellerin eine notwendige Schutzmaßnahme darstellen (aa); zudem ist es zu beanstanden, dass die Allgemeinverfügung keinerlei Befreiungstatbestände zugunsten der Antragstellerin enthält (bb).
12aa) Die in Nr. 1 der Allgemeinverfügung vorgesehenen Regelungen stellen gegenüber der Antragstellerin keine notwendigen Schutzmaßnahmen dar.
13Bei § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG handelt es sich um eine Generalklausel, die die zuständigen Behörden zum Handeln verpflichtet (gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ des Eingreifens – ist der Behörde jedoch ein Ermessen eingeräumt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-) Verbreitung der Krankheit geboten sind. Der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ ist umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen, welche durch die Notwendigkeit der Maßnahme in Einzelfall begrenzt wird. Schutzmaßnahmen sind nur erlaubt, soweit dies inhaltlich („soweit“) und zeitlich („solange“) erforderlich ist. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.
14Vgl. VG Regensburg, Beschluss vom 17. Juni 2020 – RO 14 S 20.1002 -, juris, Rn. 49.
15Die Allgemeinverfügung verfolgt zwar ersichtlich einen legitimen Zweck. Die Corona-Pandemie begründet eine ernstzunehmende Gefahrensituation, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates weiterhin gebietet. Auch wenn sich das Infektionsgeschehen aufgrund der ergriffenen Maßnahmen in der Vergangenheit verlangsamt hatte, besteht die Gefahr der Verbreitung der Infektion und daran anknüpfend einer Überlastung des Gesundheitswesens mit gravierenden Folgen für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung fort. Nach den maßgeblichen Feststellungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) handelt es sich immer noch um eine sehr dynamische Situation. Die Gefährdung für die Bevölkerung wird deshalb nach wie vor als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen sogar als sehr hoch. Dabei variiert die Gefährdung von Region zu Region. Die Belastung für das Gesundheitswesen hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen wie Isolierung, Quarantäne und physischer Distanzierung ab. Sie ist aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering, kann aber örtlich hoch sein.
16Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Juli 2020 – 13 B 870/20.NE -, juris, Rn. 35 f. m. w. N.
17Die Fallzahlen sind zudem in der letzten Zeit wieder deutlich gestiegen. Das RKI teilt in den „Informationen zu gestiegenen Fallzahlen in Deutschland“ vom 24. Juli 2020 mit, dass die Zahl der neu übermittelten Fälle mit 815 deutlich höher als in den Vorwochen ist und mehr als 60 % der neu übermittelten Fälle auf Anstiege in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zurückzuführen sind. Die Entwicklung wird als sehr beunruhigend eingeschätzt und eine weitere Verschärfung der Situation muss nach Auffassung des RKI unbedingt vermieden werden. Diese Entwicklung setzt sich gegenwärtig weiter fort. Die Differenz zum Vortag liegt am 6. August 2020 bei + 1.045 (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, abgerufen am 6. August 2020).
18Die in Nr. 1 der Allgemeinverfügung getroffenen Maßnahmen sind auch geeignet, den dargestellten Zweck, die Eindämmung der Weiterverbreitung des Coronavirus, zu fördern.
19Die Inanspruchnahme der Antragstellerin ist nach Aktenlage und mangels substantiierter Infragestellung des Vortrags der Antragstellerin durch den Antragsgegner allerdings nicht erforderlich bzw. „notwendig“ im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Dies gilt selbst dann, wenn dem Antragsgegner für den Erlass der Allgemeinverfügung wegen der Fragilität der Lage und wegen der fortbestehenden tatsächlichen Ungewissheiten nach wie vor eine Einschätzungsprärogative im Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen sein sollte; denn dies gilt nur soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen.
20Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Juli 2020 – 13 B 675/20.NE -, juris, Rn. 54, vom 29. April 2020 - 13 B 512/20.NE -, juris, Rn. 44 ff., und vom 19. Mai 2020 - 13 B 557/20.NE -, juris, Rn. 71 ff.
21Die Gefahrenlage allgemein, aber auch konkret in der Fleischindustrie ist zwar weiterhin als hoch einzustufen. Im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 29. Juli 2020 wird festgehalten, dass in vielen Bundesländern ein Zuwachs in den Fallzahlen zu beobachten ist, die Fallzahlen u. a. in Nordrhein-Westfalen besonders stark gestiegen sind und der Anstieg der Fallzahlen bei Tätigen im Lebensmittelbereich größtenteils auf Ausbrüche in fleischverarbeitenden Betrieben zurückzuführen ist. Der Tägliche Lagebericht vom 5. August 2020 hält fest: „Die Zahl der täglich neu übermittelten Fälle war in den letzten beiden Wochen bereits angestiegen. Diese Entwicklung ist sehr beunruhigend und wird vom RKI weiter sehr genau beobachtet. Eine weitere Verschärfung der Situation muss unbedingt vermieden werden.“
22Allerdings hat der Antragsgegner nichts Belastbares dafür vorgebracht, dass die beobachtete Gefahrenlage in der „Fleischindustrie“ auch auf den Betrieb der Antragstellerin zutrifft, bei der bislang kein einziger Infektionsfall festgestellt worden ist; auch für das Gericht ist hierzu nichts ersichtlich. Der Antragsgegner setzt, ohne dies fundiert zu begründen oder zumindest – nicht notwendigerweise wissenschaftlich geklärte – Infektionsphänomene der jüngeren Vergangenheit zu illustrieren, undifferenziert Schlachthöfe und Zerlegebetriebe einerseits mit anderen Fleischverarbeitungsbetrieben wie denjenigen der Antragstellerin andererseits gleich. Dies ist – jedenfalls ohne jegliche Begründung – selbst von einer etwaigen Einschätzungsprärogative des Antragsgegners nicht gedeckt.
23In der Begründung der Allgemeinverfügung und wiederholend in der Antragserwiderung wird im Wesentlichen lediglich dargelegt, dass aufgrund des in der jüngeren Vergangenheit aufgetretenen Infektionsgeschehens in Schlachthöfen und fleischverarbeitenden Betreiben davon ausgegangen werden müsse, dass größere Betriebe dieser Branche aufgrund der Mitarbeiterstruktur, der Arbeitsorganisation und der Arbeitssituation in der Produktion ein erhebliches Risiko für massenweise auftretende Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 innerhalb der Belegschaft bergen würden. Es sei noch nicht eindeutig geklärt, welche betriebsorganisatorischen oder technischen Gründe gegebenenfalls zusätzlich das Infektionsgeschehen begünstigen.
24Die Antragstellerin hat jedoch bereits in ihren Schriftsätzen vom 20. und 24. Juli 2020 detailliert und fundiert – gestützt durch die Stellungnahme des Arztes für Hygiene und Umweltmedizin Prof. E. . A. vom 17. Juli 2020 – dargelegt, dass in ihrem Betrieb weder Schlachtungen noch Fleischzerlegungen durchgeführt werden, das zu verarbeitende Fleisch bereits in kleinen Stücken angeliefert wird, eine Zerkleinerung durch die Mitarbeiter der Antragstellerin nicht notwendig ist, schweres körperliches Arbeiten auf engem Raum nicht stattfindet, die Mitarbeiter in dem Betrieb dauerhaft beschäftigt und ortsansässig sind, die Lüftungsanlagen in den Produktionsräumen mit 100 % Außenluft und die Räume der Verpackung, die mit Umluft betrieben werden, über eine Außenluftanteil von 20 % verfügen und die Räume, in denen rohes Fleisch verarbeitet wird, auch nicht so intensiv gekühlt werden, wie dies in Zerlegebetrieben erforderlich ist. Ergänzend wird auf die detaillierte Aufstellung der Unterschiede in den Produktionsbedingungen auf S. 9 des Schriftsatzes der Antragstellerin vom 4. August 2020 Bezug genommen. Insbesondere liegt hiernach die Temperatur in den Produktionsräumen zwischen 16° und 20° C. Der Antragsgegner hat die Richtigkeit dieser Ausführungen nicht in Abrede gestellt; auch für das Gericht ist hierfür nichts ersichtlich.
25Prof. E. . A. schlussfolgert hieraus, die Gleichsetzung von Schlachthöfen und Zerlegebetrieben mit sonstigen fleischverarbeitenden Betrieben wie demjenigen der Antragstellerin sei nicht gerechtfertigt. In diese Richtung deutet auch die gemeinsame Studie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und des Heinrich-Pette-Instituts, Leibnitz-Institut für Experimentelle Virologie (HPI), zum Ausbruchsgeschehen im Mai 2020 bei dem Unternehmen U. in S. -X. . Die Studienergebnisse sind bislang lediglich auf der Preprint-Plattform SSRN erschienen und sollen noch im Peer-Review-Verfahren, d. h. durch unabhängige Gutachter desselben Fachgebiets, bewertet werden. In den Pressemitteilungen des HZI und des HPI vom 23. Juli 2020 wird hierzu mitgeteilt, dass das Virus ausgehend von einem einzigen Mitarbeiter auf mehrere Personen in einem Umkreis von mehr als acht Metern übertragen worden sei. Die hauptsächliche Übertragung habe im Zerlegebereich für Rinderviertel stattgefunden, in dem die Luft umgewälzt und auf zehn Grad Celsius gekühlt werde. Demgegenüber habe die Wohnsituation der Arbeiter während der untersuchten Phase des Ausbruchs keine wesentliche Rolle gespielt. Prof. E. . B1. H1. , Mitautor der Studie und Forschungsgruppenleiter wird wie folgt zitiert: „Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Bedingungen des Zerlegebetriebs – also die niedrige Temperatur, eine geringe Frischluftzufuhr und eine konstante Luftumwälzung durch die Klimaanlage in der Halle, zusammen mit anstrengender körperlicher Arbeit – die Aerosolübertragung von SARS-CoV-2-Partikeln über größere Entfernungen hinweg förderten… Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Faktoren generell eine entscheidende Rolle bei den weltweit auftretenden Ausbrüchen in Fleisch- oder Fischverarbeitungsbetrieben spielen. Unter diesen Bedingungen ist ein Abstand von 1,5 bis 3 Metern alleine ganz offenbar nicht ausreichend, um eine Übertragung zu verhindern.“
26Entsprechend dem Vortrag der Antragstellerin auf S. 5 - 7 ihres Schriftsatzes vom 4. August 2020, auf dessen Inhalte Bezug genommen wird, ist auch für das Gericht nur ersichtlich, dass lediglich Schlacht- und Zerlegebetriebe sog. Hotspots für ein Infektionsgeschehen gewesen sind, nicht aber Betriebe, die mit demjenigen der Antragstellerin vergleichbar sind. Auch der Antragsgegner hat hierzu keinen einzigen vergleichbaren Fall darstellen können. Soweit der Antragsgegner auf den Ausbruch der COVID-19-Erkrankung in einem Unternehmen der Dönerproduktion in N1. verweist, um hiermit zu illustrieren, dass auch von sonstigen fleischverarbeitenden Betrieben allgemein eine besondere Gefahr der Verbreitung ausgehe, führt dies nicht weiter. Die Antragstellerin hat hierzu zu Recht auf S. 4 ihres Schriftsatzes vom 4. August 2020 auf den Internetauftritt dieses Unternehmens verwiesen, wonach dort täglich mehr als 40 Tonnen Kalbs-, Rind-, Lamm- und Geflügelfleisch zerlegt werden (vgl. www.oeztasdoener.de/ablauf.html, abgerufen am 5. August 2020), es sich mithin um einen klassischen Zerlegebetrieb handelt.
27Der Antragsgegner setzt sich mit der Einbeziehung der Antragstellerin in den Anwendungsbereich der hier streitigen Allgemeinverfügung in Widerspruch zu seiner selbst bekundeten Einschätzung der Gefahrenlage und der zu ihrer Bewältigung einzusetzenden Mittel. Der Antragsgegner hat seine Einschätzungsprärogative, wie sie insbesondere in der CoronaSchVO zum Ausdruck kommt, dahingehend betätigt, dass er keine besonderen Schutzvorschriften zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus für das gesamte produzierende Gewerbe für notwendig hält; es gelten lediglich die allgemeinen Vorschriften des § 4 CoronaSchVO (Berufs- und Dienstausübung, Arbeitgeberverantwortung). Hieraus lässt sich ableiten, dass der Antragsgegner die besondere Gefahrenlage für den Erlass der hier in Rede stehenden Allgemeinverfügung im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie an die dortigen besonderen Produktionsbedingungen knüpft, da eine Übertragung des Virus über das Produkt „Fleisch“ jedenfalls nach aktuellem Stand (vgl. S. 2 der Stellungnahme von Prof. E. . A. vom 17. Juli 2020) – auch der Antragsgegner hat hierzu nichts Abweichendes vorgetragen – nicht hinreichend wahrscheinlich ist. Bestehen die besonderen Produktionsbedingungen im Betrieb der Antragstellerin – wie in den meisten anderen produzierenden Betrieben außerhalb der fleischverarbeitenden Industrie – allerdings nicht, überschreitet der Antragsgegner seine selbst bekundete Einschätzungsprärogative.
28Diese Überschreitung lässt sich auch unmittelbar der Entstehungsgeschichte der Allgemeinverfügung entnehmen. So ist in dem Vermerk des Abteilungsleiters MD M. vom 26. Juni 2020 ausgeführt, dass die Gefahrenbeurteilung auf der Einschätzung von Prof. F. beruhe, dass die Lüftungsanlage ein wichtiger Faktor für das Infektionsgeschehen sei. Dies sei insoweit sehr kritisch, weil auch in anderen Betrieben unter ähnlichen „klimatischen“ Bedingungen (Dauer-Kühl-Temperaturen) gearbeitet werden müsse. Die Regelungen sollten daher aufgrund der absoluten Eilbedürftigkeit des Infektionsschutzes und der noch bestehenden Unsicherheit hinsichtlich der tatsächlichen Infektionswege für alle größeren fleischverarbeitenden Betriebe angeordnet werden. Natürlich seien diese alle unterschiedlich. Aufgrund der Kenntnisse (des N. ) über die Arbeitsbedingungen, Werkvertragsstrukturen etc. sowie angesichts der gleichen „klimatischen“ Anforderungen erscheine es aber vertretbar und geboten, zunächst generalisierend vorzugehen. Der weitere Vermerk von MD M. vom 19. Juli 2020 knüpft hieran an. Insbesondere habe sich auf der Grundlage der Aufklärungsarbeiten durch Prof. F. die Vermutung erhärtet, dass die in vielen Betrieben der Fleischwirtschaft verwendeten Umluftkühlungen einen erheblichen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben dürften. Anpassungen der bereits geltenden Allgemeinverfügung seien mit Blick auf eine Konkretisierung des Anwendungsbereichs auf Betriebe, die mit unverarbeitetem Fleisch umgingen, vertretbar; hier dürften die entsprechenden „klimatischen“ Arbeitsbedingungen vorliegen. Liegen die entsprechenden Voraussetzungen aber – wie im Fall des Betriebs der Antragstellerin – nicht vor, überschreitet der Antragsgegner die Grenzen seiner Einschätzungsprärogative, wenn er generalisierend alle fleischverarbeitenden Betriebe dem Anwendungsbereich der Allgemeinverfügung unterwirft.
29Wenn auch nicht entscheidungstragend, so jedoch illustrierend mag abschließend in den Blick genommen werden, dass in der in Baden-Württemberg geltenden Verordnung zur Eindämmung von Übertragungen von SARS-CoV-2 (Coronavirus) in Schlachtbetrieben und der Fleischverarbeitung (Corona-Verordnung Schlachtbetriebe und Fleischverarbeitung – CoronaVO Schlachtbetriebe und Fleischverarbeitung) vom 7. Juli 2020 und der Fachaufsichtlichen Weisung des Niedersächsischen N. für T. , H. und Gleichstellung vom 23. Juli 2020 dementsprechend konsequent zwischen Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetrieben unterschieden wird.
30bb) Zudem ist Nr. 1 der Allgemeinverfügung deswegen rechtswidrig, weil sie keinerlei Befreiungstatbestände enthält, die eine Einzelfallentscheidung ermöglichen, zugunsten der Antragstellerin, deren Betrieb die spezifischen Produktionsbedingungen von Schlachthöfen und Zerlegebetrieben nicht aufweist, unter bestimmten Voraussetzungen von einer regelmäßigen Testung der Mitarbeiter vollständig abzusehen. Eine ausnahmslose Verpflichtung ohne die Möglichkeit, den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen, ist jedoch nicht erforderlich, bzw. „notwendig“. Hieran ändern auch die im Verhältnis zur Allgemeinverfügung vom 26. Juni 2020 zwischenzeitlich reduzierte Testverpflichtung und die Befristung der Maßnahme bis zum 31. August 2020 nichts.
31b) Die allgemeine Interessenabwägung fällt auch unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Wertung der §§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8 IfSG zu Gunsten der Antragstellerin aus. An der Vollziehung der nach Aktenlage rechtswidrigen Nr. 1 der Allgemeinverfügung besteht kein öffentliches Interesse. Hinzu kommt, dass belegbare Anhaltspunkte für eine Erhöhung der Gefahrenlage für die Allgemeinheit durch den Betrieb der Antragstellerin weder von dem Antragsgegner vorgetragen noch sonst ersichtlich sind. Den allgemeinen infektionsschutzrechtlichen Erfordernissen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist seitens der Antragstellerin durch die strikte Befolgung der Vorgaben des § 4 CoronaSchVO Rechnung zu tragen. Anhaltspunkte dafür, dass diese ihren Verpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nachkommen wird, sind weder von dem Antragsgegner vorgetragen noch sonst ersichtlich, sodass es besonderer Maßgaben nach § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO nicht bedarf.
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