Beschluss vom Verwaltungsgericht Regensburg - RO 14 E 20.710

Tenor

I. Es wird vorläufig festgestellt, dass der Betrieb des Textileinzelhandelsgeschäfts der Antragstellerin mit einer Verkaufsfläche von 240,90 m² im Einkaufszentrum „K…“, A…, nicht gemäß § 4 Abs. 4 Nr. 2 der 3. BayIfSMV untersagt ist.

II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin, Betreiberin eines Textileinzelhandelsgeschäfts mit einer Verkaufsfläche von 240,90 m², begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Feststellung, dass die Öffnung ihres nicht nach § 4 Abs. 4 Nr. 2 der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 1.5.2020 (3. BayIfSMV - BayMBl. 2020 Nr. 239 vom 1.5.2020) privilegierten Ladengeschäftes mit einer Verkaufsfläche von 240,90 m² möglich ist.

Am 1.5.2020 hat das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege auf der Grundlage des § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) die Dritte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (3. BayIfSMV) erlassen, die gemäß § 12 der BayIfSMV am 4.5.2020 in Kraft getreten ist. Diese Verordnung löst die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16.4.2020 (2. BayIfSMV - BayMBl. 2020 Nr. 205 vom 16.4.2020) ab, die wiederum letztmalig durch die Verordnung zur Änderung der Zweite Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 28.4.2020 (BayMBl. 2020 Nr. 225 vom 28.4.2020) mit Wirkung vom 29.4.2020 geändert worden ist.

Die Regelungen zu Betriebsuntersagungen finden sich nun in § 4 der 3. BayIfSMV.

§ 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 der 3. BayIfSMV lautet:

Für Ladengeschäfte, Einkaufszentren und Kaufhäuser des Einzelhandels gilt:

2. Es dürfen höchstens 800 m² Verkaufsfläche geöffnet werden; dies gilt nicht für Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Banken und Geldautomaten, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Verkauf von Presseartikeln, Filialen des Brief- und Versandhandels, Post, Bau- und Getränkemärkte, Gärtnereien, Baumschulen, Tierbedarf, Tankstellen, Kfz-Handel, Kfz-Werkstätten, Fahrradwerkstätten und Reinigungen.

Die Antragstellerin betreibt ein Textileinzelhandelsgeschäft …, A… Das Textileinzelhandelsgeschäft mit einer Verkaufsfläche von 240,90 m² befindet sich im Gebäudekomplex des K… A… (Gewerbegebiet Ost). Das K… A… (Einkaufspark) umfasst neben dem eigentlichen Lebensmittelgeschäft K… auch weitere Ladengeschäfte wie zum Beispiel das Textileinzelhandelsgeschäft …, eine Apotheke, eine Bäckerei, das Schuhgeschäft … sowie das Ladengeschäft der Antragstellerin.

Die Antragstellerin hat das Ladengeschäft nach eigenen Angaben von der K… GmbH & Co. KG gemietet. K… sei nicht übergeordneter Betreiber des Einkaufszentrums, sondern lediglich Vermieter, sodass sich die vertraglichen Beziehungen zwischen der Antragstellerin und K… ausschließlich aus dem Mietverhältnis ergeben würden. Es gebe darüber hinaus insbesondere keinen gemeinsamen Werbeauftritt der im K… befindlichen Einzelhändler. Jedes Ladengeschäft sei für sich genommen selbstverantwortlich und könne eigenständig über geschäftsspezifische Angelegenheiten ohne Rücksprache mit anderen Geschäften entscheiden.

Das K… befindet sich nicht in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt, sondern im Gewerbegebiet Ost, welches ca. 3 km von der Innenstadt A… entfernt liegt.

Da die Verkaufsfläche des Ladengeschäfts der Antragstellerin am genannten Standort lediglich 240,90 m² aufweist, hat die Antragstellerin ihr Ladengeschäft am 27.4.2020 geöffnet. Gegen 13:30 Uhr des selbigen Tages ist die Antragstellerin von der Polizeiinspektion A… auf Betreiben der Antragsgegnerin aufgefordert worden, das Ladengeschäft zu schließen. Als Begründung wurde ausgeführt, dass es sich bei dem Ladengeschäft der Antragstellerin um ein Kaufhaus handeln würde und dieses nach der damals geltenden 2. BayIfSMV geschlossen bleiben müsse. Die Antragstellerin hat ihr Ladengeschäft geschlossen.

Die Antragstellerin wendete sich daraufhin am 28.4.2020 mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an das Verwaltungsgericht. Was die Verordnung hinsichtlich Einkaufszentren regele, sei fraglich. Die Antragstellerin habe durchaus Verständnis für die Beschränkungen von Handelsbetrieben, um eine Ausbreitung des Virus einzudämmen. Sie habe jedoch kein Verständnis dafür, dass hinsichtlich der Lage von Einzelhandelsbetrieben geradezu willkürlich unterschiedliche Regelung getroffen werden, zumal die Gefährdungslage bei Textileinzelhandelsgeschäften im Einkaufszentrum gewiss nicht höher sei als in einem Textileinzelhandelsgeschäft in der Fußgängerzone oder in einer Einkaufs straße. Die Antragstellerin habe bislang durch die Schließung im Zeitraum vom 18.3.2020 bis 27.4.2020 einen Totalverlust des Umsatzes erlitten. Die weitere Aufrechterhaltung der Schließung würde diesen Totalverlust ausweiten. Da die Betriebsausgaben für das Textileinzelhandelsgeschäft weiterlaufen würden, befinde sich die Antragstellerin in einer existenzbedrohlichen Lage. Die Antragstellerin ist der Auffassung, sie habe bereits einen Anordnungsanspruch aufgrund der Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG und der Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege habe das ihm zustehende Verordnungsermessen mit Blick auf die von ihm getroffene Differenzierung zwischen Geschäften des Einzelhandels außerhalb von Einkaufszentren und innerhalb von Einkaufszentren, die nicht öffnen dürften, überschritten. Das zur Begründung für die Ungleichbehandlung herangezogene Argument, dass große Einkaufshäuser Menschenmassen anziehen würden, könne im Fall der Antragstellerin nicht gelten. Das Textileinzelhandelsgeschäft der Antragstellerin befinde sich zwar in einem Einkaufspark, hierbei handele es sich aber nicht um einen anziehenden Einkaufsort. Vielmehr locke in A… die Innenstadt mit einer großen zentralen Einkaufs straße sowie kleineren Seitenstraßen. Im Vergleich zu den Innenstadtlagen von A… verfüge das Einkaufszentrum über eine eher geringe Anziehungskraft im Einzugsgebiet. Nach der Rechtsprechung des BVerwG könne ein Einkaufszentrum gar keine Gesamtverkaufsfläche von weniger als 800 m² aufweisen. Ein unter dieser Schwelle liegendes Einkaufszentrum sei schlichtweg nicht denkbar. Somit läge ein redaktioneller Fehler in der Verordnung vor. Die angegriffene Bestimmung der 3. BayIfSMV sei auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar. Es gebe für die Antragstellerin weniger einschneidende Maßnahmen, die die Gesundheit in gleicher Weise gewährleisten könnten.

Schließlich trägt die Antragstellerin vor, dass Ladengeschäfte in Einkaufszentren zusätzliche Regelungen zum Infektionsschutz deutlich einfacher und effektiver einhalten könnten als Ladengeschäfte in Einkaufsstraßen der Innenstädte. Dort sei es im Gegensatz zu einem Einkaufszentrum gerade nicht möglich, die Personenanzahl auf den Straßen zu regulieren, um so den vorgeschriebenen Mindestabstand zwischen 2 Personen gewährleisten zu können.

Hinsichtlich der örtlichen Begebenheiten führt die Antragstellerin aus, dass es sich bei dem K… in A… nicht um ein Einkaufszentrum im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauNVO, sondern vielmehr um eine Agglomeration von funktional selbstständigen Einzelhandelsgeschäften handle. Folglich sei von einem großflächigen Einzelhandel im Sinne von § 11 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO auszugehen.

Mit Schreiben vom 29.4.2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, legte die Antragstellerin ihr Infektionsschutzkonzept vor, welches sie selbst für ihr Ladengeschäft erstellt hat.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig festzustellen, dass der Betrieb des Textileinzelhandelsgeschäfts der Antragstellerin mit einer Verkaufsfläche von 240,90 m² im Einkaufszentrum „K…“, A…, nicht gemäß § 4 Abs. 4 Nr.2 der 3. BayIfSMV untersagt ist.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Bei dem Gebäude des K… A… handele es sich gemäß Mitteilung des Bauordnungsamtes um ein Einkaufszentrum im Sinne des § 11 Abs. 3 BauNVO. Der Verordnungsgeber der 3. BayIfSMV habe sich offenkundig an den Regelungen der BauNVO orientiert. Im Hinblick auf das Vorbringen der Antragstellerin, in einem Einkaufszentrum ließe sich die Personenzahl deutlich leichter regulieren als in der Innenstadt, weist die Antragsgegnerin darauf hin, dass nicht glaubhaft gemacht worden sei, dass die Antragstellerin als Mieterin in dem Einkaufszentrum auf den Kundenstrom Einfluss nehmen könne.

Zur rechtlichen Begründung führt die Antragsgegnerin aus, sie habe bereits Zweifel an der Zulässigkeit des Antrags gemäß § 123 VwGO, zumindest sei der Antrag unbegründet. Das Ladengeschäft der Antragstellerin falle nicht unter die Ausnahmetatbestände des § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 der 3. BayIfSMV, weshalb eine Öffnung des Einzelhandelsgeschäftes untersagt sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten und dem Vorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

II.

Der Antrag hat Erfolg. Er ist zulässig und begründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Nach der im Eilrechtsschutzverfahren gebotenen aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben.

1. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere steht ihm nicht § 123 Abs. 5 VwGO entgegen. Danach gelten die Vorschriften des § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO nicht für die Fälle der §§ 80 und 80a VwGO. Ist damit in der Hauptsache eine Anfechtungsklage zu erheben und somit vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, so kann keine einstweilige Anordnung erlassen werden. Aus diesen Regelungen wird regelmäßig gefolgert, dass vor Erlass einer Ordnungsverfügung kein vorbeugender Rechtsschutz nach § 123 VwGO erlangt werden kann, da ansonsten die Regelung des § 123 Abs. 5 VwGO ausgehebelt werden würde. In diesem Fall wurde die Antragstellerin bereits auf Betreiben der Antragsgegnerin aufgefordert, das Geschäft zu schließen, was diese dann auch tat, ohne dass es einer Ordnungsverfügung bedurfte. Für einen vorbeugenden vorläufigen Rechtsschutz besteht daher ein rechtlich schützenswertes Interesse, da der Rechtsschutz über § 80 Abs. 5 VwGO nicht möglich oder nicht ausreichend wäre, um wesentliche Nachteile abzuwenden (vgl. dazu: BayVGH, B.v. 13.12.2010 - 9 CE 10.2516 - juris m.w.N.).

Im vorliegenden Fall besteht auch ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis. Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als rechtliche Beziehung zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft derer eine der beteiligten Personen etwas bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht (vgl. BVerwG, U. v. 31.8.2011 - 8 C 8.10 - BverwGE 140,267; U. v. 20.11.2003 - 3 C 44.02 - NVwZ-RR 2004,253).

Dem steht auch nicht der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4.5.2020 (Az. 20 CE 20.951 - noch nicht veröffentlicht) entgegen. Der VGH hat in diesem Verfahren entschieden, dass im Rahmen der Verkaufsflächenbeschränkung nach § 4 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 der 3. BayIfSMV ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis nicht zwischen dem Betreiber eines Einzelhandelsgeschäftes in einem Einkaufszentrum und der Infektionsschutzbehörde bestehe, sondern nur zwischen dem Betreiber des Einkaufszentrums und der Infektionsschutzbehörde.

Diese Entscheidung ist auf den vorliegenden Sachverhalt jedoch nicht übertragbar. Im konkreten Fall ist die Antragstellerin selbst Betreiberin. Der Begriff des Betreibers ist zu verstehen als derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Räumlichkeiten besitzt und faktisch in der Lage ist, die weiteren infektionsschutzrechtlichen Schutzmaßnahmen des § 4 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 - 5 der 3. BayIfSMV umzusetzen. Die Antragstellerin hat im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens glaubhaft gemacht, dass sie lediglich Mieterin der Räumlichkeiten ist und jedes Ladengeschäft in dem fraglichen Gebäudekomplex für sich selbst verantwortlich ist und es keiner Absprache mit anderen Geschäften bedarf. Demnach ist die Antragstellerin allein verpflichtet, die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen eigenverantwortlich umzusetzen. Daher hat sie auch eigenständig ein Hygienekonzept für das betroffene Ladengeschäft aufgestellt.

Darüber hinaus wurde die Antragstellerin von der Polizeiinspektion A… aufgefordert, ihr Geschäft zu schließen. Daraus folgt, dass sowohl die Polizei als auch die Antragsgegnerin davon ausgehen, dass die Antragstellerin nach pflichtgemäßer Auswahl als Störerin zu behandeln sei. Der aus dem Sicherheitsrecht stammende Begriff des Störers ist im konkreten Fall dem des Betreibers gleichzusetzen. Beide Begriffe bezeichnen denjenigen, der einen Verstoß rechtlich und tatsächlich beseitigen kann. Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin vorliegt.

2. Der Antrag ist auch begründet. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Die Eilbedürftigkeit folgt schon aus den finanziellen Einbußen, die die Antragstellerin zu erwarten hat, wenn sie ihr Ladengeschäft nach wie vor geschlossen haben muss.

Darüber hinaus ist auch ein Anordnungsanspruch gegeben. Unabhängig von der Frage der konkreten Auslegung im Rahmen des § 4 Abs. 4 Nr. 2 der 3. BayIfSMV verstößt die streitgegenständliche Regelung jedenfalls gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher nicht anwendbar.

Sie behandelt Ladengeschäfte mit einer Verkaufsfläche von maximal 800 m² unterschiedlich, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund besteht. Befindet sich ein Ladengeschäft in einem Innenstadtbereich, so darf dieses Geschäft öffnen, wenn die infektionsschutzrechtlichen Anforderungen des § 2 Abs. 4 der 3. BayIfSMV erfüllt sind. Im Gegensatz dazu besteht für die meisten vergleichbaren Ladengeschäfte, die sich in einem Einkaufszentrum befinden, eine Betriebsuntersagung, weil bei der Flächenberechnung auf die Verkaufsfläche des Einkaufszentrums abzustellen ist und nicht auf die des jeweiligen Ladengeschäftes. Dies gilt auch dann, wenn das Einkaufszentrum und die in ihm enthaltenen Ladengeschäfte über sinnvolle Schutz- und Hygienekonzepte verfügen, die sicherstellen, dass die infektionsschutzrechtlichen Anforderungen, insbesondere die Einhaltung des Mindestabstands, eingehalten werden können.

Fraglich ist für die zur Entscheidung berufene Kammer bereits, ob die Regelung in § 4 Abs. 4 Nr. 2 Hs. 1 der 3. BayIfSMV hinreichend klar und bestimmt ist. Es geht daraus nämlich nicht eindeutig hervor, wie die 800 m² Verkaufsfläche, die innerhalb eines Einkaufszentrums geöffnet sein darf, überhaupt berechnet wird. Insbesondere ist unklar, ob zu dieser Verkaufsfläche auch die Verkaufsflächen der sogenannten „systemrelevanten Geschäfte“ hinzugerechnet werden müssen, die in § 4 Abs. 4 Nr. 2 Hs. 2 der 3. BayIfSMV aufgelistet sind.

Es kann aber letztendlich dahinstehen; denn jedenfalls verstößt die Regelung in § 4 Abs. 4 Nr. 2 der 3. BayIfSMV gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die zur Entscheidung berufene Kammer hat dies bereits ausführlich in ihrem Beschluss vom 28.4.2020 (Az. RO 14 E 20.707, abrufbar unter http://www.v...de/media/vgregensburg/presse/20a00707b.pdf) dargestellt. Dieser Beschluss erging zwar noch zur Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16.4.2020 (BayMBl. 2020 Nr. 205 vom 16.4.2020) in der am 28.4.2020 geltenden Fassung. Gleichwohl sind die Ausführungen in dem Beschluss nach wie vor vollumfänglich gültig. Die Kammer hat im zitierten Beschluss folgendes ausgeführt:

„Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, B. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, juris Rn. 40; BVerfG, B. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 - juris Rn. 119 m.w.N.). Er gilt sowohl für ungleiche Belastungen als auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfG, B. v. 11.10.1988 - 1 BvR 777/85- juris; BVerG, B. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 - juris; BVerfG, B. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 76).

Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfG, B. v. 7.7.2009 - 1 BvR 1164/07 - juris; BVerfG, B.v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77). Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG, B. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, juris Rn. 30; BVerfG, B. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, juris Rn. 65; BVerfG, B. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 - juris Rn. 79).

Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfG, U. v. 6.3.2002 - 2 BvL 17/99 - juris; BVerfG, B. v. 4.12.2002 - 2 BvR 400/98 - juris; BVerfG, B. 8.6.2004 - 2 BvL 5/00 - juris; BVerfG, B.v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77).

Unter Anwendung dieses Maßstabs ist eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der Antragstellerin als Inhaberin eines Einzelhandelsgeschäfts unter 800 m² in einem Einkaufszentrum im Vergleich zu einem Inhaber eines Einzelhandelsgeschäfts unter 800 m² im Innenstadtbereich gegeben, wenn man die Öffnung eines Ladengeschäfts in einem Einkaufszentrum unabhängig von seiner Größe untersagen würde, ein Geschäft in der Innenstadt aber bis zu einer Größe von 800 m“ Verkaufsfläche öffnen dürfte.

Soweit die Verordnung eine Öffnungsmöglichkeit für ein Ladengeschäft mit einer Verkaufsfläche von unter 800 m² allein aufgrund dessen Lage in einem Einkaufszentrum ausgenommen hat, ist diese Maßnahme nicht geeignet, dem Zweck des Infektionsschutzes zu dienen. Es liegt auf der Hand, dass die für alle für den Publikumsverkehr geöffneten Verkaufsstellen geltenden spezifischen Vorgaben auch in Einzelhandelsgeschäften in einem Einkaufszentrum umsetzbar sind. Die Kammer vermag nicht zu erkennen, warum die Umsetzung besonderer Hygieneund Zugangsmaßnahmen in einem Einkaufszentrum nicht mindestens ebenso zu gewährleisten ist wie in Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen. Die Antragstellerin hat diesbezüglich ein umfangreiches Steuerung-, Kontroll- und Hygienekonzept vorgelegt.

Wenn der Verordnungsgeber ein „Anfahren“ der wirtschaftlichen Betätigung für vertretbar hält, dann muss er vergleichbare Sachverhalte auch vergleichbar regeln. Die durch Art. 2 Abs. 5 2. BayIfSMV (jetzt: § 4 Abs. 4 Nr. 2 der 3. BayIfSMV) bewirkte Ungleichbehandlung von Einzelhandelsgeschäften in einem Einkaufszentrum und solchen außerhalb eines Einkaufszentrums ist nach den vorgenannten Grundsätzen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar, weil es der Regelung auch in Anerkennung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers an einem legitimen Zweck fehlt, der die Benachteiligung von Einzelhandelsgeschäften in einem Einkaufszentrum tragen könnte und dem zu dienen die Regelung in Art. 2 Abs. 5 2. BayIfSMV (jetzt: § 4 Abs. 4 Nr. 2 der 3. BayIfSMV) geeignet wäre.

Um die Infektionsgefahr zu reduzieren, die durch eine große Zahl von Menschen ausgeht, die sich im öffentlichen Raum bewegen, sind mildere Mittel vorhanden. Der Betreiber jedes geöffneten Geschäfts ist bereits nach § 2 Abs. 6 2. BayIfSMV (jetzt: § 4 Abs. 4 Nrn. 1, 3 und 4 der 3. BayIfSMV) angehalten, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass grundsätzlich ein Mindestabstand von 1,5 m zwischen den Kunden eingehalten werden kann, dass Personal eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen hat und die Kunden und ihre Begleitpersonen ab dem 7. Lebensjahr ebenfalls eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen müssen.

Außerdem hat jeder Betreiber ein Schutz- und Hygienekonzept und ein Parkplatzkonzept auszuarbeiten. Dieses Konzept ist für das betroffene Ladengeschäft vorhanden und wurde dem Verwaltungsgericht im Rahmen des streitgegenständlichen Verfahrens auch vorgelegt. Auch unter Beachtung der überwiegenden Interessen des Gesundheitsschutzes und der Verhinderung der Verbreitung einer COVID-19-Infektion wäre daher eine vorübergehende Anwendung einer für verfassungswidrig gehaltenen Norm (vgl. dazu auch BayVGH, B. v. 27.04.2020 - 20 NE 20.793 - noch nicht veröffentlicht) nicht erforderlich.“

Diese Ausführungen gelten vollumfänglich auch für das hier streitgegenständliche Verfahren. Insbesondere hat die Antragstellerin nach § 4 Abs. 4 Nr. 1 und 3 bis 5 der 3. BayIfSMV ein Schutz- und Hygienekonzept (z.B. Einlass, Mund-Nasen-Bedeckung) und, falls Kundenparkplätze zur Verfügung gestellt werden, ein Parkplatzkonzept auszuarbeiten und auf Verlangen der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde vorzulegen. Über ein derartiges Schutz- und Hygienekonzept verfügt die Antragstellerin, was sie in ihrem Antragsschriftsatz ausgeführt hat. Sie hat dieses Konzept auch dem Gericht vorgelegt.

Dass das Schutz- und Hygienekonzept der Antragstellerin auch greift, muss diese eigenverantwortlich sicherstellen. Die Antragsgegnerin kann als Infektionsschutzbehörde weitergehende Anordnungen erlassen, wenn sie dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht für erforderlich hält (§ 4 Abs. 4 S. 2 der 3. BayIfSMV).

Unter Beachtung dieser Maßgaben ist nicht ersichtlich, warum ein Betreiber eines Einzelhandelsgeschäfts in einem Einkaufszentrum nicht öffnen können soll, ein Betreiber im Innenstadtbereich aber schon. Aus Infektionsschutzgesichtspunkten ist diese Unterscheidung nicht gerechtfertigt.

Nach alledem sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben, und zwar unabhängig von der Frage, ob die Regelung in § 4 Abs. 4 Nr. 2 der 3. BayIfSMV auch in verfassungswidriger Weise in die Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG eingreift. Diese Frage brauchte das Gericht daher jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht mehr zu prüfen.

Nach den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 938 Abs. 1 ZPO bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks erforderlich sind. Das Gericht ist somit an den von der Antragstellerin gestellten Antrag nicht gebunden. Es hat daher zur Verdeutlichung der Tragweite der Anordnung den Tenor eigenständig und in Abweichung vom Antrag der Antragstellerin formuliert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Dabei macht das Gericht von der Möglichkeit Gebrauch, den Streitwert im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bis zur Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben, weil der Antrag im Hinblick auf das Außerkrafttreten der angegriffenen Verordnung am 10.5.2020 inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache abzielt.

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