Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 90/20

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten um eine Duldung des Antragstellers.

2

Der am 05.05.1986 geborene Antragsteller ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er reiste 1990 in das Bundesgebiet ein. Für ihn wurde ein Pass der damaligen Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien auf den Namen xxx xxx vorgelegt. Dem Antragsteller wurde eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, die wiederholt verlängert wurde.

3

Ab dem Jahr 2000 trat der Antragsteller wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. Dabei sind vor allem folgende Verurteilungen von Bedeutung:

4

Mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 30.09.2003 wurde der Antragsteller im Berufungsverfahren zu einer Jugendstrafe von 18 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung, versuchter Erpressung in Tateinheit mit Nötigung, räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung, schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung verurteilt.

5

Mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 18.02.2009 wurde der Antragsteller wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln in vier Fällen, wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis und in Tateinheit mit unerlaubten Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe, wegen unerlaubten Besitzes von Munition und wegen unerlaubten Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

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Mit Bescheid vom 11.08.2011 wurde der Antragsteller aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Weiter hieß es in dem Bescheid, die Wirkung der Ausweisung sei unbefristet. Es werde darauf hingewiesen, dass die nachträgliche Befristung dieser Wirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beantragt werden könne. Dem Antragsteller werde die Abschiebung angedroht. Er werde direkt aus der Strafhaft nach Serbien abgeschoben. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

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Mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 19.04.2011 – rechtskräftig seit dem 14.12.2011 - wurde der Antragsteller wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt.

8

Mit Bescheid vom 17.11.2014 wurde die mit Bescheid vom 11.08.2011 verfügte Ausweisung in ihrer Wirkung nachträglich auf acht Jahre und sechs Monate befristet. Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2015 zurückgewiesen wurde.

9

Am 18.05.2016 wurde der Antragsteller in den Kosovo abgeschoben.

10

Am 29.09.2016 wurde der Antragsteller nach der Einreise aus den Niederlanden festgestellt. Der Antragsteller wurde zur Verbüßung der noch offenen Reststrafen in die Justizvollzugsanstalt (JVA) xxx gebracht.

11

In einem Anhörungstermin am 08.05.2017 teilte der Antragsteller gegenüber der Strafvollstreckungskammer mit, er habe im Kosovo seinen Namen geändert. Sein richtiger Name laute jetzt A., geb. xxx xxx.

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Mit Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 30.11.2018 wurde der Antrag des Antragstellers, die Vollstreckung der Reste der Freiheitsstrafen nach Verbüßung von mehr als zwei Drittel zur Bewährung auszusetzen, zurückgewiesen.

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Mit Bescheid vom 01.04.2020 wurde dem Antragsteller die Abschiebung in die Republik Kosovo angedroht.

14

In einer Stellungnahme der JVA xxx vom 01.04.2020 hieß es u.a., es stehe zu befürchten, dass es dem Antragsteller nach der Entlassung aus der Haft nicht gelingen werde, sozial verantwortlich ohne Straftaten zu leben, weshalb die Anordnung der Führungsaufsicht empfohlen werde.

15

Der Antragsteller legte gegen den Bescheid vom 01.04.2020 am 27.04.2020 Widerspruch ein, der nicht begründet wurde.

16

Der Antragsteller wurde am 09.07.2020 aus der Haft entlassen.

17

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.09.2020 – dem Antragsteller zugestellt am 15.09.2020 - zurückgewiesen.

18

Der Antragsteller hat am 15.10.2020 Klage erhoben (11 A 226/20) und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung trägt der Antragsteller u.a. vor, er lebe seit seiner Haftentlassung mit seiner Verlobten, einer polnischen Staatsangehörigen in A-Stadt. Die Eheschließung sei in der 41. Kalenderwoche beim Standesamt A-Stadt angemeldet, die Akte befinde sich derzeit beim zuständigen Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses. Spätestens mit der Eheschließung sei eine Rechtsgrundlage für aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht mehr vorhanden. Seine Verlobte sei freizügigkeitsberechtigt, sodass er mit der Eheschließung ebenfalls Freizügigkeit genießen werde. Bis zur Eheschließung sei er zu dulden und er habe einen Anspruch auf die Erteilung der Duldung zum Schutz der Eheschließungsfreiheit unmittelbar aus Art. 6 GG, sodass aufenthaltsbeendende Maßnahmen schon jetzt nicht mehr durchgeführt werden dürften. Die Eheschließung stehe unmittelbar bevor.

19

Der Antragsteller beantragt,

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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen und ihn zunächst zu dulden.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Zur Begründung trägt die Antragsgegnerin u.a. vor, die für eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts geltenden Anforderungen seien nicht anwendbar, da der Antragsteller nicht mit der polnischen Staatsangehörigen verheiratet sei. Diese Anforderungen könnten auch nicht zeitlich vorverlagert werden. Die Eheschließung stehe zudem nicht unmittelbar bevor, da die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses noch ausstehe. Selbst wenn man das anders sehen würde, bestehe kein Duldungsanspruch aus Art. 6 Abs. 1 GG, da eine Aufenthaltsbeendigung noch vor dem Eheschließungstermin zum Schutz kollidierender Verfassungsrechtsgüter geboten und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit verhältnismäßig sei. Dies sei hier aufgrund der wiederholten schwerwiegenden Straftaten der Fall. Zudem ergebe sich aus allen vorliegenden Stellungnahmen und Entscheidungen, dass vom Antragsteller gegenwärtig eine erhebliche Gefahr weiterer Straftaten ausgehe.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

25

Der Antrag ist nach § 123 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist jedoch nicht begründet.

26

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgeblich sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

27

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass eine Abschiebung aus den hier allein fraglichen rechtlichen Gründen unmöglich ist.

28

Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist der Antragsteller nicht verheiratet, er beabsichtigt jedoch die Ehe mit einer polnischen Staatsangehörigen. Aus dieser Absicht folgt jedoch – entgegen der Ansicht des Antragstellers - im zeitlichen Vorgriff kein Freizügigkeitsrecht des Antragstellers.

29

Im Übrigen gilt hinsichtlich der beabsichtigten Eheschließung Folgendes:

30

Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise kann sich u.a. aus dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG ergeben. Zwar gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08 –, Rn. 25, juris m.w.N.). Allerdings verpflichtet Art. 6 GG die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsrechtliche Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers pflichtgemäß in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08 –, Rn. 26, juris). Der Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK, in den durch die Abschiebung einzelner Familienmitglieder eingegriffen wird, kann also ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes sog. inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis begründen (Haedicke in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - familiäre Gründe, Rn. 34 ff.). Zu beachten ist, dass es in jedem Fall um eine Einzelfallentscheidung geht und deshalb sämtliche einschlägigen Gesichtspunkte des konkret vorliegenden Falles zu berücksichtigen sind. Wie gewichtig der aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK folgende Schutz der Familie jeweils ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Dabei macht es einen entscheidenden Unterschied aus, ob im Zeitpunkt der Begründung der familiären Lebensgemeinschaft oder der Eheschließung die Eheleute von der Möglichkeit eines Aufenthaltsrechts für den Antragsteller ausgehen konnten oder ob ein derartiges Aufenthaltsrecht von vornherein ungewiss war, sodass das (Fort-)Bestehen des Familienlebens in Deutschland ungewiss war. In derartigen Fällen steht Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK nur ganz ausnahmsweise einer Aufenthaltsbeendigung entgegen (vgl. EGMR, Urteil vom 31.07.2008 – 265/07 – InfAuslR 2008, 421; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 60a Rn. 150). Der Antragsteller wurde in der Vergangenheit ausgewiesen und abgeschoben. Eine Abschiebung begründet nach § 11 Abs. 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot. Der Antragsteller ist dennoch wieder eingereist. Er hat während seines nachfolgenden Aufenthaltes in Deutschland nicht über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt. Die Möglichkeit eines weiteren Aufenthaltes des Antragstellers war von daher zu jeder Zeit ungewiss, weder er noch seine zukünftige Ehefrau konnten ein schützenswertes Vertrauen dahingehend bilden, dass ein Familienleben in Deutschland stattfinden wird. Sie mussten vielmehr von vornherein davon ausgehen, dass es aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Situation des Antragstellers zu einer zumindest vorübergehenden Trennung kommen wird. In einer derartigen Situation ist eine vorübergehende Trennung der Eheleute mit Art. 6 GG, Art. 8 EMRK vereinbar (vgl. Beschluss der Kammer vom 26.09.2019 – 11 B 124/19 -).

31

Hinzu kommt, dass hier aus der beabsichtigten Eheschließung noch kein Anspruch aus Art. 6 GG folgt. Eine ernsthaft beabsichtigte Eheschließung kann ein einer Ausreiseverpflichtung entgegenstehendes zeitweiliges Bleiberecht begründen. Dies setzt aber voraus, dass die Eheschließung unmittelbar bevorsteht. Dies ist hier nicht der Fall. Vorausgesetzt wird, dass dem Ausländer ein Ehefähigkeitszeugnis nach § 1309 Abs. 1 BGB erteilt oder er gemäß § 1309 Abs. 2 BGB von der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts befreit worden ist (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60a AufenthG Rn. 25 m.w.N.). Hieran fehlt es vorliegend.

32

Da keine drohende Verletzung von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK glaubhaft gemacht worden ist, hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung der von ihm angestrebten Duldung.

33

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG.


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