Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 156/20

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.

Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

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Der am 20. November 2020 – wörtlich – gestellte Antrag,

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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Betrieb des XXX, bei einer Nutzung durch den Antragsteller und 2 weiteren Personen zeitgleich sanktionsfrei zu dulden,

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hat keinen Erfolg.

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Der Antrag ist nach dem verfolgten Rechtsschutzziel unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers gemäß den §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO sachdienlich dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der vorläufigen Feststellung begeht, dass ihm das Erbringen der Dienstleistung der elektrischen Muskelstimulierung in der konkret von dem Antragsteller beschriebenen Form (dauerhaftes Einhalten eines Abstandes von 2,5 bis 3 m zwischen dem Antragsteller und seinen Kunden sowie zwischen den Kunden untereinander, keinerlei Körperkontakt) nicht nach der Landesverordnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Corona-Bekämpfungsverordnung) 1. November 2020 untersagt ist.

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Für diese Auslegung spricht, dass der Antragsteller sich gegen die Auslegung des Antragsgegners wendet, wonach die Tätigkeit als eine dem Betrieb eines Fitnessstudios ähnliche Einrichtung anzusehen und deshalb verboten sei und auch nach § 9 Abs. 1 der Verordnung als Dienstleistung mit Körperkontakt nicht erlaubt sei.

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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist statthaft, weil der Antragsteller sein Begehren in der Hauptsache im Wege der Feststellungsklage nach § 43 VwGO verfolgen könnte. Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren einer der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 1996 – 8 C 19.94 –, BVerwGE 100, 262). Rechtliche Beziehungen haben sich nur dann zu einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO verdichtet, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist (BVerwG, Urteil vom 07.05.1987– 3 C 53.85 –, BVerwGE 77, 207).

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Ein solches feststellungsfähiges Rechtsverhältnis liegt vor. Zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner als Träger der zuständigen Behörde für Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz ist streitig, ob die Corona-Bekämpfungsverordnung in der aktuell geltenden Fassung mit ihren Verbotstatbeständen auf die von dem Antragsteller beschriebene Tätigkeit Anwendung findet oder der Antragsteller diese Tätigkeit erlaubt ausüben darf. Die durch die Verordnung begründete Pflichtenbeziehung zwischen den Beteiligten hat sich durch den gegenteiligen Rechtsstandpunkt des Antragsgegners und die damit verbundene Behauptung der rechtlichen Unzulässigkeit der von dem Antragsteller konkret beschriebenen Tätigkeit der stationären elektrischen Muskelstimulation zu einem Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO verdichtet. Der Antragsteller hat auch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, da er diese Dienstleistung in der konkret beschriebenen Form weiter anbieten möchte.

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Der Antrag ist jedoch nicht begründet.

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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Dem Wesen und Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht im einstweiligen Anordnungsverfahren grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und einem Antragssteller nicht schon das zusprechen, was er – sofern ein Anspruch besteht – nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Dieser Grundsatz des Verbotes einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung gilt jedoch im Hinblick auf den durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten wirksamen Rechtschutz dann nicht, wenn die erwarteten Nachteile bei einem Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht.

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Es besteht vorliegend jedenfalls im Hinblick auf eine mögliche Ordnungswidrigkeit des Erbringens der beschriebenen angebotenen Dienstleistung gemäß § 21 Absatz 1 Nr. 16 (verbotene Dienstleistung mit Körperkontakt) und Nr. 21 (Verstoß gegen § 11 Abs. 2) der Corona-Bekämpfungsverordnung eine besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Abwarten einer rechtskräftigen Entscheidung im Verfahren der Hauptsache ist für den Antragsteller nicht zumutbar.

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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt der Verweis auf ein im etwaigen Bußgeldverfahren zur Verfügung stehendes Rechtsmittel keinen ausreichenden effektiven Rechtsschutz dar. Einem Betroffenen sei es nicht zuzumuten, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen „auf der Anklagebank“ erleben zu müssen. Der Betroffene habe vielmehr ein schutzwürdig anzuerkennendes Interesse daran, den Verwaltungsrechtsweg als fachspezifischere Rechtsschutzform einzuschlagen, insbesondere, wenn ein Ordnungswidrigkeitsverfahren oder Strafverfahren droht. Seien die Gerichte zur Sachprüfung verpflichtet, könnten sie sich auch einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren insoweit nicht entziehen (BVerfG, Beschluss vom 7. März 2003 – 1 BvR 2129/02 – NVwZ 2003, 856). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass sowohl ein Bedürfnis für eine gerichtliche Eilentscheidung vorliegt, als auch, dass einer gerichtlichen Eilentscheidung nicht der Grundsatz des Verbots einer Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache entgegensteht.

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Der Antragsteller hat jedoch einen Anordnungsanspruch für die beantragte Feststellung nicht glaubhaft gemacht, da das das Erbringen der Dienstleistung der elektrischen Muskelstimulation (EMS) in der konkret beschriebenen Form in statischer Ausführung unter dauerhafter Einhaltung eines Mindestabstandes zwischen allen Anwesenden ohne jeglichen Körperkontakt auch bei gleichzeitiger Anwendung von 2 Kunden neben dem Antragsteller nach der Corona-Bekämpfungsverordnung untersagt ist.

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Die konkret beschriebene Tätigkeit ist allerdings möglicherweise nicht als Betrieb eines Fitnessstudios oder einer ähnlichen Einrichtung im Sinne von § 11 Abs. 2 Corona-Bekämpfungsverordnung anzusehen. Nach dieser Vorschrift ist der Betrieb von Schwimm- und Spaßbädern, Fitnessstudios und ähnlichen Einrichtungen untersagt. Die in § 11 Abs. 2 Corona-Bekämpfungsverordnung genannten Einrichtungen müssen geschlossen gehalten werden, weil in diesen Einrichtungen mehrere Personen gleichzeitig Sport in geschlossenen Räumen ausüben und diese sich in einem Fitnessstudio zwischen den einzelnen Sportgeräten bewegen (Begründung zu § 11 Abs. 2 Corona-Bekämpfungsverordnung). Dadurch finden fortlaufend wechselnde Kontakte statt. Das Gleiche gilt für Schwimm- und Spaßbäder. Die Anwendung von statischer, rein passiver EMS ohne Ortswechsel ist mit dem in den genannten Einrichtungen betriebenen Tätigkeiten nicht vollständig vergleichbar, weil es an dem Risiko von zusätzlichen Begegnungen zwischen Menschen durch einen Wechsel der Geräte bzw. durch Bewegung innerhalb der Halle fehlt. Deshalb könnte es zweifelhaft sein, ob es sich um eine ähnliche Einrichtung im Sinne von § 11 Abs. 2 der Verordnung handelt. Es geht vorliegend bei der beantragten streitigen Feststellung auch nicht um weitere auf der Internetseite des Antragstellers angebotene Tätigkeiten wie dynamisches EMS, etwa mit Ortswechsel oder zusätzlicher aktiver Muskelbewegung oder Personal Training mit mehreren Personen. Gegen diese, je nach Ausführungsart unstreitig verbotenen Tätigkeiten könnte der Antragsgegner jederzeit vorgehen, um die Verbote der Verordnung durchzusetzen. Es geht auch nicht um eine Dienstleistung mit Körperkontakt im Sinne von § 9 Abs. 1 der Verordnung, da ein Körperkontakt gerade nicht stattfinden, sondern dauerhaft ein Mindestabstand eingehalten werden soll.

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Die von dem Antragsteller beabsichtigte Tätigkeit ist jedoch als Sport im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung anzusehen. Nach dieser Vorschrift ist die Sportausübung innerhalb und außerhalb von Sportanlagen nur allein, gemeinsam mit im selben Haushalt lebenden Personen oder einer anderen Person gestattet. Diese Vorschrift verbietet die Sportausübung mit mehr als 2 haushaltsfremden Personen; danach ist die von dem Antragsteller konkret beschriebene Tätigkeit nicht erlaubt. Unter Sport werden herkömmlicherweise körperliche motorische Aktivitäten verstanden, nur ausnahmsweise auch Tätigkeiten ohne Einbeziehung solcher motorischen Tätigkeiten wie die Dressur von Tieren oder Schach.

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Mit den besonderen Beschränkungen der Verordnung bei der Ausübung von Sport soll der erhöhten Übertragungsgefahr des Coronavirus bei der Ausübung von Sport begegnet werden. Der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen entstehen. Je nach Partikelgröße bzw. den physikalischen Eigenschaften unterscheidet man zwischen den größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen, wobei der Übergang zwischen beiden Formen fließend ist. Während insbesondere größere respiratorische Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen. Ob und wie schnell die Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben bleiben, ist neben der Größe der Partikel von einer Vielzahl weiterer Faktoren, u. a. der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, abhängig. Beim Atmen und Sprechen, aber noch stärker beim Schreien und Singen, werden Aerosole ausgeschieden; beim Husten und Niesen entstehen zusätzlich deutlich vermehrt größere Partikel

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(Robert Koch-Institut, epidemiologische Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Übertragungswege, Stand 13. November 2020 unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=2DDAE970718C9A6ECADFBE1E81E4C695.internet072#doc13776792bodyText2 ).

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Die passive elektrische Muskelstimulation zielt auf die Stärkung der Muskulatur, indem elektrische Reize zur Muskelkontraktion ausgeübt werden. Dies führt demnach gewollt zu erhöhter Muskelbeanspruchung, die wiederum mehr Sauerstoff benötigt und dadurch die Atmung verstärkt. Für die respiratorische Tätigkeit macht es im Grundsatz keinen Unterschied, ob der Reiz zur Muskelkontraktion vom Gehirn ausgelöst wird oder wie bei der elektrischen Muskelstimulation von Elektroden. Auch wenn der gesetzte Trainingsimpuls bei dem statischen EMS-Training geringer sein mag, führt auch dieses Training zu einer erhöhten respiratorischen Aktivität. Dieses auch von vielen Fitnessstudios angebotene Training ist deshalb nach der Zweckbestimmung des § 11 Abs. 1 Corona-Bekämpfungsverordnung als Sport anzusehen.

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Diese Regelung beschränkt den Umfang der nach § 9 Abs. 1 grundsätzlich zulässigen Dienstleistungstätigkeiten für den Bereich des Sports. Die Vorschrift des § 11 Abs. 1 Corona-Bekämpfungsverordnung umfasst sowohl Freizeit- als auch Breiten-, Leistungs- und Spitzensport (Begründung zu § 11 Abs. 1 der Verordnung). Zum Freizeitsport gehört auch der aus gesundheitlichen Gründen medizinisch empfohlene Sport ohne ärztliche Verordnung, der vielfältige positive gesundheitliche Auswirkungen haben kann.

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Ärztlich verordnete Maßnahmen fallen demgegenüber nicht unter diesen Begriff. Dafür spricht die Begründung zu § 11 Abs. 1 und auch der Umstand, dass sich nach dem erkennbaren Willen des Verordnungsgebers die Tätigkeit der Gesundheits- und Heilberufe nach den Vorgaben des § 9 richten soll. Daraus folgt, dass die Begrenzung der Personenzahl in § 11 Abs. 1 der Verordnung nicht auf Training in Physiopraxen für Maßnahmen der Heilmittelanwendung, also insbesondere die medizinisch notwendige Krankengymnastik und die ärztlich verordnete Rehabilitationsbehandlung anwendbar ist. In der Einrichtung des Antragstellers wird nicht eine aus medizinischen Gründen erforderliche ärztlich verordnete Physiotherapie angeboten, die bei gesetzlich Versicherten durch die Krankenkassen als Versorgung mit Heilmitteln nach § 32 SGB V erbracht und insoweit bezahlt wird. In der Einrichtung des Antragstellers wird auch nicht ärztlich verordneter Rehabilitationssport oder ärztlich verordnetes Funktionstraining, gegebenenfalls auch in Gruppen, nach § 64 SGB IX als Rehabilitationsleistung angeboten. Bei der beschriebenen Tätigkeit des Antragstellers handelt es sich vielmehr um eine im Einzelfall aus gesundheitlichen Gründen empfohlene Maßnahme, die zum Freizeitsport im Sinne des § 11 Abs. 1 der Verordnung gehört und deshalb den Beschränkungen dieser Vorschrift unterliegt.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz.


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