Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (8. Kammer) - 8 B 16/21
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Gründe
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Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 19.01.2021 anzuordnen, ist nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Es sind derzeit auch keine Gesichtspunkte ersichtlich, die der Zulässigkeit entgegenstehen könnten. Soweit die Beigeladenen auf eine nachbarrechtliche Vereinbarung vom 16.03.2021 Bezug nehmen, kann deren rechtliche Relevanz vom Gericht mangels Kenntnis des Inhalts nicht beurteilt werden.
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Nach § 212a Abs. 1 BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Genehmigung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Erhebt ein Dritter gegen die einem Anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung Widerspruch oder Anfechtungsklage, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80 a Abs. 3 S. 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Hierbei trifft das Gericht eine Entscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden.
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Einen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hat der Antragsteller als Nachbar nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr kann dieser Antrag nur dann Erfolg haben, wenn die Genehmigung über die objektive Rechtswidrigkeit hinaus geschützte Nachbarrechte des Antragstellers verletzt. Dies ist nur dann der Fall, wenn durch die Baugenehmigung eine Rechtsnorm verletzt worden ist, die zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient und somit drittschützende Wirkung entfaltet. Die Vorschriften des öffentlichen Baurechts entfalten dann eine drittschützende Wirkung, wenn sie nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen worden sind, sondern auch der Rücksichtnahme auf individuelle Interessen und deren Ausgleich untereinander dienen (OVG Schleswig, Beschluss vom 08. September 1992, 1 M 45/92, Juris).
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Bei der im Verfahren nach §§ 80 a Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen dem Interesse der Beigeladenen, die ihnen erteilte Baugenehmigung auszunutzen, und dem Interesse der Antragsteller, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, überwiegt das Interesse der Beigeladenen. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die angefochtene Baugenehmigung vom 19.01.2021 (Bl. 1 ff Beiakte „A“) gegen nachbarrechtsschützende Vorschriften oder Grundsätze verstößt.
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Ein Verstoß gegen drittschützende Vorschriften des Abstandsflächenrechts nach § 6 LBO ist nicht erkennbar. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 4 LBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf.
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Im vorliegen Fall darf nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden. Da ein B-Plan nicht existiert, richtet sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Bauweise nach § 34 Abs. 1 BauGB. Danach ist ein Vorhaben hinsichtlich der Bauweise zulässig, wenn es sich in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Die Grundstücke in der näheren Umgebung (Hohenzollernstraße 2-14) weisen durchgehend sowohl eine geschlossene als auch eine (halb-) offene Bauweise auf. An der westlichen Grundstücksgrenze besteht jeweils eine geschlossene Bauweise in der vollen Grundstückstiefe, während an der östlichen Grundstücksgrenze überwiegend ein schmaler Abstand eingehalten wird. Dies gilt im Übrigen auch für das Grundstück der Antragsteller, die teilweise auch an die östliche Grundstücksgrenze angebaut haben. Finden sich in der jeweiligen näheren Umgebung die offene und die geschlossene Bauweise, so sind bauplanungsrechtlich beide Bauweisen möglich (BVerwG, Beschluss vom 11. März 1994 – 4 B 53/94 –, Rn. 4, juris; Mitschang/Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, 14. Aufl. 2019, BauGB § 34 Rn. 26). Entsprechendes gilt für die abweichende halboffene Bauweise (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Juli 2016 – OVG 10 S 12.16 –, Rn. 9, juris; vgl. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 08. Oktober 2013 – 9 CS 13.1636 –, Rn. 11, juris). Danach liegt hier eindeutig ein Fall des § 6 Abs. 1 S. 4, 2. Alt. LBO vor.
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Das Vorhaben erweist sich auch nicht gegenüber den Antragstellern als rücksichtslos. Welche Anforderungen das Rücksichtnahmegebot begründet, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, desto weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu üben. Das Rücksichtnahmegebot verlangt in diesem Sinne eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem durch das Gebot begünstigten Nachbarn und andererseits dem zur Rücksichtnahme verpflichteten Bauherrn nach Lage der Dinge zuzumuten ist, und ist verletzt, wenn diese Abwägung ergibt, dass das Vorhaben dem Nachbarn gegenüber als rücksichtslos anzusehen ist, weil die mit dem Vorhaben verbundenen Folgen die Grenzen des dem Nachbarn unter den gegebenen Umständen Zumutbaren überschreiten (Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2020 – 1 MB 1/20, n.v.). Letzteres ist vorliegend nicht der Fall.
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Von einer Rücksichtslosigkeit des Vorhabens der Antragsgegnerin ist hinsichtlich der Ausmaße des Vorhabens nicht auszugehen. Es ist zwar in der Rechtsprechung anerkannt, dass nachbarliche Belange in unzumutbarer Weise beeinträchtigt sein können, wenn ein Nachbaranwesen durch die Ausmaße eines Bauvorhabens geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ würde. Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn die baulichen Dimensionen des „erdrückenden Gebäudes“ aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig sind, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch überwiegend wie eine von dem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird, oder das Bauvorhaben das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d.h. dort das Gefühl des Eingemauertseins oder der Gefängnishofsituation hervorruft (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.03.1981 - 4 C 1.78 -, Rn. 38: sog. „Hochhaus-Fall“ eines 12-geschossigen Hochhauses neben einer 2-geschossigen Bebauung). Dem Grundstück muss gleichsam die Luft zum Atmen genommen werden. Dass das Vorhaben die bislang vorhandene Situation lediglich verändert oder dem Nachbarn (sehr) unbequem ist, reicht nicht aus. Die in den gewählten Ausdrücken bzw. Bildern („Gefängnishofsituation“, „Eingemauertsein“, „Erdrücken“, „Erschlagen“, „Luft zum Atmen nehmen“) liegende „Dramatik“ ist danach vielmehr ernst zu nehmen (Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2019 – 2 B 45/19, Rn. 15, juris m.w.N.).
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Das von der Antragsgegnerin beabsichtigte Vorhaben erweist sich – bei Heranziehung und Auswertung der eingereichten Bauvorlagen – weder seiner Höhe noch dem Volumen nach als „übergroßer“ Baukörper (vgl. hierzu VG München, Urteil vom 15. Juli 2019 – M 8 K 18.1148 –, Rn. 76, juris). Es hält sich hinsichtlich der absoluten Maße im Rahmen der näheren Umgebung (vgl. Bl. 67 Beiakte „A“ mit der Übersicht über die Firsthöhen im Straßenzug H-straße); die Höhe des Gebäudes übersteigt die des Gebäudes der Antragsteller mit 1,11 m nicht erheblich (im Übrigen vgl. den Auszug aus dem Liegenschaftskataster Bl. 19 Beiakte „A“). Insofern hat das streitgegenständliche Bauvorhaben auch keinen „einmauernden“ oder „abriegelnden“ Effekt zu Lasten der Antragsteller, sondern hat lediglich die zwingende Auswirkung einer geschlossenen Bauweise auf relativ schmalen Grundstücken.
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Auch unter dem Gesichtspunkt einer unzumutbaren Verschattung kann ein Verstoß gegen die gebotene Rücksichtnahme in dem vorliegenden Fall nicht festgestellt werden. Zwischen den Nachbarn innerhalb einer städtischen Wohnbebauung besteht insoweit ein gegenseitiges Austauschverhältnis, innerhalb dessen ein Anspruch auf eine einmal gegebene Besonnung eines Grundstücks nicht aus dem Rücksichtnahmegebot abzuleiten ist (Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2019 – 2 B 45/19, Rn. 17). Die Einhaltung einer bestimmten Besonnungsdauer, ggf. zu bestimmten Tageszeiten, gewährleistet das Baurecht nicht (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 15. Oktober 2019 - 1 MB 20/19 -, n.v. zur Beeinträchtigung einer auf dem Gebäude des Nachbarn angebrachten Photovoltaikanlage durch das Bauvorhaben). Gerade innerhalb einer verdichteten innerstädtischen Bebauung sind Einschränkungen der Belichtung und Besonnung hinzunehmen (Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 1 MB 16/18, n.v.; Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Oktober 2019, § 34 Rn. 142). Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme erfordert eine qualifizierte Betroffenheit des Nachbarn, die über bloße Lästigkeiten hinausgeht (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 1 MB 16/18 –, Rn. 20, juris).
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Eine derartige Betroffenheit der Antragsteller ist hier nicht erkennbar, wie sich auch aus dem Sonnenstandsdiagramm (Bl. 88 Beiakte „A“) nachvollziehbar ergibt, wonach eine zusätzliche Verschattung sowohl zeitlich als auch örtlich nur sehr eingeschränkt eintritt. Insoweit ist auch bedeutsam, dass die beeinträchtigte Nutzung auf ihrem Grundstück (Außengastronomie) unstreitig nicht genehmigt ist. Weiterhin ist die Wohnung im Obergeschoss wegen der Lage der Fenster nicht beeinträchtigt (wobei auch insoweit eine Baugenehmigung nicht erkennbar ist).
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Auch im Übrigen ist eine Verletzung drittschützender Normen nicht erkennbar. Soweit die Antragsteller auf die Vorschrift des § 9 der Ortsgestaltungssatzung hinsichtlich der Bauflucht Bezug nehmen, ist bereits nicht ersichtlich, dass dieser Regelung eine drittschützende Wirkung zugesprochen werden kann. Abgesehen davon ist aber ein Verstoß durch die erteilte Baugenehmigung nicht erkennbar. Ebenso wenig ist auch ersichtlich, dass die Baugenehmigung der Beigeladenen eine Nutzung erlaubt, die unzumutbare Auswirkungen durch abfließendes Regenwasser auf das Grundstück der Antragsteller beinhaltet. Vielmehr sind lediglich solche Beeinträchtigungen zu erwarten, die mit einer typischen innerstädtischen geschlossenen Bebauung notwendig verbunden sind und daher als sozialadäquat hinzunehmen sind.
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Der Antrag war daher abzulehnen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren gemäß § 162 Abs. 3 VwGO aus Billigkeitsgründen für erstattungsfähig zu erklären, da sie sich durch die Stellung eines Antrages dem Kostenrisiko (§ 154 Abs. 3 VwGO) ausgesetzt haben.
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Referenzen
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- VwGO § 80a 3x
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- 1 MB 20/19 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 2x
- § 6 Abs. 1 S. 4 LBO 1x (nicht zugeordnet)
- § 6 Abs. 1 S. 4, 2. Alt. LBO 1x (nicht zugeordnet)
- § 34 Abs. 1 BauGB 1x (nicht zugeordnet)
- 1 M 45/92 1x (nicht zugeordnet)
- § 6 LBO 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 2x
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- 4 B 53/94 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 162 1x
- 2 B 45/19 1x (nicht zugeordnet)
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