Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 59/21
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 50.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
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Die Antragstellerin stellt an ihrem Standort in A-Stadt unter Reinraumbedingungen medizinische Einmal-Sets für die Diagnostik und Behandlung kardiologischer und ophthamologischer Erkrankungen in Kliniken und im ambulanten Bereich her. Die Inhalte der Sets lassen sich nach Kundenwunsch zusammensetzen. Derzeit bewirbt die Antragstellerin auf ihrer Internetseite folgende vier Sets: Angiographie-Set, Herzkatheter-Set, Katarakt-Set, IVI-Set.
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Im August 2018 war der Antragsgegner durch die für die Antragstellerin zuständige benannte Stelle MedCert über die Aussetzung von Zertifikaten nach Anhang V der Richtlinie 93/42/EWG bzw. nach ISO 13485:2012 aufgrund von festgestellten Abweichungen in der Sterilisationsvalidierung informiert worden. Zur Begründung führte die MedCert aus, dass die Antragstellerin nach wie vor Sterilprodukte unter der CE-Kennnummer der MedCert in Verkehr bringe, obwohl das Sterilisationsverfahren noch nicht abschließend bewertet worden sei und die Sterilisation durch ein Lohnsterilisationsunternehmen durchgeführt werde. Auch der Umgang mit potentiellen Virgilanzfällen entspreche weder dem firmenintern vorgeschriebenen Prozess noch den rechtlichen Vorgaben. Hinzu kämen Mängel im Qualitätsmanagementsystem. Während der Zertifikatsaussetzung dürfe die Antragstellerin keine Medizinprodukte unter der Kennnummer der MedCert in Verkehr bringen. Zur Wiedereinsetzung der Zertifikate bedürfe es einer vollständigen und fristgerechten Rückmeldung der Antragstellerin zu den offenen Abweichungen, wobei die Maßnahmen sodann im Rahmen eines Sonderaudits bis zum 3. Dezember 2018 überprüft werden müssten. Daraufhin teilte die Antragstellerin auf Anfrage gegenüber dem Antragsgegner mit, sie vertreibe die Produkte mit der CE-Kennzeichnung der MedCert (Kennnummer 0482) nicht mehr, habe die Vertragsbeziehungen zu dieser Stelle beendet und ein Zertifizierungsverfahren durch eine andere benannte Stelle, nämlich der ECM Zertifizierungsgesellschaft für Medizinprodukte in Europa (ECM, CE-Kennnummer 0481) angestoßen. Das Zertifikat für Produkte der Klasse I s reichte sie am 5. September 2018 bei dem Antragsgegner ein. Am 7. September 2018 führte der Antragsgegner wegen der Aussetzung der Zertifikate und eines im Januar 2018 erfolgten Wechsels des Lohnsterilisierers eine Inspektion bei der Antragstellerin durch. Bei dieser wurden auch Proben aus dem Versandlager entnommen. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 14. September 2018 wurde der Antragstellerin das Inverkehrbringen von Produkten der Klasse I s und II a mit der CE-Kennzeichnung der MedCert (Kennnummer 0482) untersagt. Die Untersuchungsergebnisse der genommenen Proben wiesen Keimbelastungen der OP-Sets mit der Komponente Pappnierenschale auf, woraufhin der Antragsgegner den Produktrückruf anordnete.
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Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bewertete die Vorkommnisse im Juli 2019, wobei es ausführte, dass der von der Antragstellerin zur Nachprüfung der Keimbelastung der Pappnierenschale angewandte Abklatschtest nicht den ISO Normen für Sterilisationsverfahren von Medizinprodukten genüge. Das BfArM forderte die Antragstellerin auf, mit der benannten Stelle ein validiertes Sterilisationsverfahren für die Konformitätsprüfung ihrer Produkte zu evaluieren.
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Im Februar 2020 erkundigte sich der Antragsgegner wegen des öffentlich angekündigten Rückzugs der von der Antragstellerin beauftragten benannten Stelle ECM aus dem Zertifizierungsmarkt nach dem Zertifizierungsstand und wie in Zukunft die regelmäßigen Audits bei der Antragstellerin sichergestellt würden. Über die Einstellung der Tätigkeit der ECM gab es zwischen den Beteiligten vorgeblich unterschiedliche Kenntnis- und Informationsstände. Im Ergebnis forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zum 15. Juli 2020 unter Bezugnahme auf die einschlägigen Vorgehensweisen der Arbeitsgruppe Medizinprodukte (AGMP) zur Einstellung der Tätigkeit durch benannte Stellen (AGMP-Leitfaden) auf, Unterlagen zum Nachweis der Beauftragung einer neuen benannten Stelle, deren vorgesehenen Auditzeitplan, ggf. bereits vorhandene Auditberichte, bzw. Bewertungen der technischen Dokumentation durch die neue benannte Stelle, Kopien aller bisherigen Bescheinigungen inkl. Produktlisten, die vom Verlust der Benennung betroffen sind, aktuelle Konformitätserklärungen bzw. Erklärungen nach Art. 12 RL 93/42/EWG, Risikobewertungen aller betroffenen Produkte, die aktuelle Steril- und Verpackungsvalidierung für betroffenen Produkte inkl. der Evaluierung des Sterilisationsverfahrens für die Konformitätsprüfung und eine Bestätigung über die fortwährende Anwendung des genehmigten Qualitätsmanagementsystems vorzulegen und ihr gegenüber zu bestätigen, dass neue Unterlagen betreffend die Überprüfung durch eine neue benannte Stelle sowie Hinweise auf relevante Risiken sofort mitgeteilt werden.
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Nach Übermittlung eines Schreibens des TÜV Nord Polen, der eine Anfrage der Antragstellerin und Überprüfung der eingereichten Unterlagen bestätigte, sowie der letzten Auditberichte der ECM aus April 2020, teilte der Antragsgegner mit Schreiben vom 27. August 2020 mit, die Unterlagen zum Verpackungsprozess einzelner Komponenten zu Sets reichten nicht aus, um ein validiertes Sterilisationsverfahren zu belegen. Er beabsichtige, das Inverkehrbringen der Sets solange zu untersagen, bis die Validierung des gesamten Herstellungsprozesses (Verpackung und Sterilisation) entsprechend der RL 93/42/EWG sowie den harmonisierten Normen durchgeführt und dokumentiert worden sei.
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Am 9. September 2020 teilte die Antragstellerin mit, dass sie der DQS-MED einen Auftrag als benannte Stelle erteilt habe. Am 21. September 2020 erläuterte die Antragstellerin nochmals einige der eingereichten Unterlagen. Mit E-Mail vom 18. November 2020 teilte die Antragstellerin mit, dass ihr die DQS-MED trotz Anfrage noch keinen Auditplan ausgestellt habe.
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Durch Bescheid vom 3. Dezember 2020 untersagte der Antragsgegner der Antragstellerin das Inverkehrbringen steril verpackter Sets mit der CE-Kennnummer 0481, bis die Validierung des gesamten Herstellungsprozesses (Verpackungs- und Sterilisationsvalidierung) entsprechend den grundlegenden Anforderungen des Anhangs I der RL 93/42/EWG in Verbindung mit den hierfür harmonisierten Normen durchgeführt, dokumentiert und von einer benannten Stelle zertifiziert worden sei (Ziffer 1) und ordnete die sofortige Vollziehung an (Ziffer 2). Darüber hinaus drohte er für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen Ziffer 1 ein Zwangsgeld in Höhe von 1.500 Euro an (Ziffer 3). Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass es sich bei den von der Antragstellerin in Verkehr gebrachten Behandlungssets für Ärzte und Krankenhäuser um Medizinprodukte handele. Das Inverkehrbringen der Behandlungssets ohne ausreichende Validierung des Herstellungsprozesses für ein steriles Medizinprodukt stelle eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar, weshalb das Inverkehrbringen nach § 28 MPG zu untersagen sei. Die Antragstellerin weise derzeit entgegen der nach § 10 Abs. 3 MPG bestehenden Verpflichtung zur Durchführung eines Konformitätsbewertungsverfahrens kein gültiges Zertifikat für ihren Sterilisierungsprozess auf, nachdem das zuletzt durch die ECM erteilte Zertifikat nach Einstellung der Geschäftstätigkeit zum 26. Mai 2020 und der Verzögerung des Transferverfahrens durch die Antragstellerin auf eine neue benannte Stelle ungültig geworden sei. Ein Auditplan der zuletzt von der Antragstellerin angefragten benannten Stelle DQS-MED GmbH liege bisher nicht vor.
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Darüber hinaus sei wegen der Verlagerung des Herstellungsortes von der Firma Xxx als Lohnsterilisierer Anfang 2020 in die Betriebsräume der Antragstellerin sowie wegen der Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Keimbelastung der Pappnierenschalen Ende 2018 und der infolgedessen durchgeführten korrektiven Maßnahmen Anfang 2019 eine erneute Zertifizierung nach Ziffer D 12.3. der EN ISO 11135 durchzuführen, weil hierin eine Änderung des Herstellungsprozesses liege. Die erneute Leistungsbeurteilung (Performance Qualification = PQ) der Sterilisationsverfahren müsse von einer Sterilisationsfachkraft durchgeführt werden, wobei diese den erforderlichen Umfang der Beurteilung bestimme und begründe. Die Überprüfung und Entscheidung der Fachkraft müsse dokumentiert werden. Die von der Antragstellerin zum Nachweis der Sterilisationsvalidierung eingereichten und zuletzt am 19. Oktober 2020 aktualisierten Unterlagen genügten diesen Anforderungen nicht. Die hinsichtlich der Firma Yyy aktualisierten Dokumente vom 10. September 2020 zur Validierung des Ethylenoxidsterilisationsprozesses von Medizinprodukten basiere im Wesentlichen auf Daten und Messwerten aus 2017. Eine Bewertung zu den sich aus aktualisierten Normen ergebenden Änderungen habe nicht stattgefunden. Die Dokumentation ergebe, dass sowohl Verpackungen als auch das Produktportfolio geändert worden seien, diese Änderungen sich aber nicht auf das Sterilisationsverfahren auswirkten. Eine Begründung dieser Einschätzung sei nicht dokumentiert. Auch die vorgenommenen Prüfungen der Siegelnahtgeräte und der Schweißnähte genügten dem Verfahren zur Validierung von Verpackungsprozessen nicht, weil wesentliche Arbeitsschritte und Angaben in den Unterlagen fehlten. Die eingereichten Unterlagen stellten sich als rein theoretische Betrachtung des Sterilisationsverfahrens in 2019 und 2020 dar. Selbiges gelte für die Verlagerung des Herstellungsortes (Xxx zu A) und den Einsatz anderer Siegelmaschinen, welche wesentliche Änderungen im Herstellungsprozess bedeuteten und eine erneute PQ nach EN ISO 11135 erforderlich machten. Darüber hinaus seien zwei der Siegelnahtgeräte der Antragstellerin laut Angaben des Maschinenherstellers nicht für die Verpackung gemäß EN ISO 11607-1 geeignet und es sei nicht nachgewiesen, dass die Verpackungsmaterialien die Aufrechterhaltung der Sterilität für die vorgesehene Lagerdauer garantierten. Die Voraussetzungen für eine Untersagung des Inverkehrbringens der steril verpackten Sets mit der Kennnummer 0481 lägen vor. Die Untersagung diene dem Schutz der Patienten vor dem Einsatz nicht steriler OP-Produkte, die im schlimmsten Fall enorme Schäden durch Sepsis anrichten könnten. Die Untersagung sei auch verhältnismäßig, weil ein Abwarten bis zur Fertigstellung der Überarbeitung bzw. Neuerstellung der Validierungen einschließlich des Abschlusses des Transferverfahrens zur benannten Stelle DQS-MED nicht in Betracht komme, nachdem bekannte Mängel bereits seit 2017 nicht von der Antragstellerin behoben worden seien. Die Antragstellerin habe es selbst in der Hand, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen, habe in der Vergangenheit aber immer wieder Verzögerungen des Validierungs- und Transferprozesses zu verantworten gehabt. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei zum Schutz der Allgemeinheit vor gesundheitlichen Schädigungen geboten. Die Gesundheit der Allgemeinheit sei ein so hohes Gut, dass bereits die Möglichkeit einer Schädigung ein sofortiges Handeln rechtfertige. Dem Schutz der Gesundheit sei Vorrang gegenüber anderen Interessen einzuräumen. Die mit der Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens einhergehenden Gesundheitsgefahren könnten nicht hingenommen werden.
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Hiergegen erhob die Antragstellerin am 11. Dezember 2020 Widerspruch und hat am 15. Dezember 2020 einen Eilantrag gestellt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass ihre Hygienebedingungen in regelmäßigen Abständen internen und externen Kontrollen unterzogen würden. Die Sachverhaltsdarstellungen um die Inspektion und Probennahme im Jahr 2018 seien zwischen den Beteiligten in ihren Einzelheiten streitig. Die damals gezogenen Proben seien aber nicht repräsentativ gewesen, zumal beim Testen selbst ein hohes Risiko der Verunreinigung bestehe. Es fehle jedoch an der für die Eingriffsermächtigung notwendigen drohenden Gefahr. Die vom Antragsgegner herangezogene Ermächtigungsgrundlage des § 28 MPG setze eine konkrete Gefahr durch Medizinprodukte voraus. Vorliegend könne allenfalls von einem Gefahrenverdacht ausgegangen werden. Der Antragsgegner hätte ihr, der Antragstellerin, nach dem System des § 26 MPG zunächst die Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgeben müssen. Aufgrund des durch die ECM nach Überprüfung der Fertigungsprozesse erteilten Zertifizierung bestehe die Vermutung der Erfüllung der rechtlichen Anforderungen.
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Der von ihr aus freien Stücken hinzugezogene Sachverständige Zzz sei in seinem Gutachten vom 11. Dezember 2020, nachdem er noch weitere Unterlagen angefordert habe, die auch dem Antragsgegner zwischenzeitlich zur Überprüfung zugesandt worden seien, zu dem Ergebnis gekommen, dass die fachlichen Einschätzungen des Antragsgegners in weiten Teilen unrichtig und die Untersagungsverfügung unverhältnismäßig sei. Zunächst sei die ECM, die bereits Ende Juli 2019 das Ende ihrer Benennung zu Mai 2020 angezeigt habe, bereits gemäß § 120 Abs. 3 Verordnung (EU) 2017/745 vom 5. April 2017 (MDR) für die fortgesetzte angemessene Untersuchung verantwortlich. Trotz dessen habe sie, die Antragstellerin, umgehend zahlreiche Anfragen bei verschiedenen benannten Stellen eingereicht, um einen Wechsel sicherzustellen. Aufgrund des Mangels benannter Stellen hätten diese Bemühungen bisher nicht gefruchtet. Auch sei eine Fortgeltung der ECM als benannte Stelle nach Verschiebung des Geltungsbeginns der MDR für den Zeitraum bis Mai 2021 durch die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgelehnt worden. Dadurch sei die Antragsgegnerin nach den Vorgaben der Beschlüsse des EK-Med, Benennung der Stellen, 3.13 B 19 (Change of Notified Body), für die Überwachung zuständig geworden. Dass hier Verstöße der ECM gegen geltende Zertifizierungsregelungen vorliegen, die Anhaltspunkte für die Weigerung der Verlängerung geben würden, sei weder vom Antragsgegner vorgetragen noch ersichtlich.
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Entgegen der Schlussfolgerung des Antragsgegners seien die Sterilisationsprozesse, wie sie seit Jahren bei ihr zur Anwendung kämen, nicht ungeeignet zur Herstellung steriler Behandlungssets, da bisweilen keinerlei Patientenschäden eingetreten seien. Auch die Veränderungen im Herstellungsprozess, insbesondere die Verlegung der Produktionsstätte, zögen die Geeignetheit der bestehenden Sterilisationsvalidierung nicht in Zweifel. Nach wie vor werde unter Reinraumbedingungen gefertigt. Die Bioburden-Untersuchungen wiesen keine erhöhten Werte auf. Auch novellierte Normen führten zu keiner wesentlichen Veränderung der angewandten Verfahren. Auch sei die Erforderlichkeit einer erneuten Leistungsbeurteilung (PQ) im Rahmen der jährlichen Untersuchungen vom 29. März 2019 und 3. März 2020 überprüft und verneint worden. Eine darüberhinausgehende Überprüfung möge der Antragsgegner wünschen, diese sei aber normativ nicht geboten. Hinsichtlich der verwandten Durchlaufschweißmaschine gebe es zwar Verbesserungsbedarf, dieser werde aber durch arbeitstägliche Verifizierungsmaßnahmen der Antragstellerin kompensiert. Im Übrigen würden die Setbestandteile nicht in den Körper eingeführt, sondern stellten lediglich die Hilfs- und Verbrauchsartikel für die jeweiligen Eingriffe dar. Insbesondere der Herzkatheterführungsdraht sei nicht in den verkauften Sets enthalten, da dieser regelmäßig mit dem Herzkatheter selbst verkauft werde. Kanülen und ähnliches hingegen kämen nicht unmittelbar mit Herz-Kreislauf- oder Nervensystem in Kontakt.
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Die Untersagungsverfügung sei zudem unverhältnismäßig, weil zunächst Ermittlungsmaßnahmen des Antragsgegners erforderlich gewesen wären. Jedenfalls wögen ihre wirtschaftlichen Interessen schwerer als die Patientensicherheit, denn die Untersagungsverfügung führe zu einer Existenzgefährdung des gesamten Betriebs aufgrund von Lieferschwierigkeiten, Schadenersatzansprüchen, Image- und Marktstellungsverlust. Hinsichtlich des Inhalts des Gutachtens des Dipl. Ing. Zzz wird auf Bl. 27-38 der Gerichtsakte Bezug genommen.
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Die Antragstellerin beantragt,
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die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 11. Dezember 2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. Dezember 2020 wiederherzustellen,
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung trägt er vor, dass durch das Inverkehrbringen durch Behandlungssets, die bestimmungsgemäß steril zur Anwendung kommen sollten, eine konkrete Gefahr für die öffentliche Gesundheit bestehe, wenn die Herstellungsschritte von Sterilisation und Verpackung nicht ausreichend validiert und bewertet worden seien. Etwaige Keime auf den Medizinprodukten könnten durch invasive Anwendung oder medizinisches Personal in offene Wunden des Patienten gelangen und zu Infektionen oder gar Sepsen, mithin zu erheblichen Komplikationen bis hin zum Tod führen. Ob bereits Patienten zu Schaden gekommen seien, lasse sich nicht nachvollziehen, weil die Kausalkette bei einer Sepsis nicht eindeutig und eine zweifelfreie Verursachung durch keimbelastete OP-Sets regelmäßig nicht feststellbar sei. Im Übrigen setze § 28 MPG keine konkrete Gefahr, sondern den begründeten Verdacht einer Gefahr voraus. Die Eingriffsschwelle sei im Zusammenhang mit § 4 MPG zu betrachten. Der nach Anh. I Ziff. 8.4 der RL 93/42/EG erforderliche Nachweis eines geeigneten und validierten Sterilisationsverfahrens für Medizinprodukte sei nicht durch eine nachvollziehbare Dokumentation unter Bewertung der Ergebnisse von der Antragstellerin erbracht worden. Es werde nicht klar, wie sie zu dem Schluss gekommen sei, dass keine erneute Validierung des Verfahrens erforderlich geworden sei. Im Einzelnen hätten die Änderung der Umgebungs- und Herstellungsbedingungen nach Ziff. 5.7.3 der DIN EN ISO 11607-2 die Bewertung und Dokumentation des Erfordernisses einer Revalidierung erforderlich gemacht. Diese Bewertung liege nicht vor. Hierzu habe bereits die vormals zuständige benannte Stelle ECM im Auditbericht vom 3. April 2020 festgehalten, dass nach Inbetriebnahme des neuen Reinraums im Oktober 2019 ein Verfahren zur Beurteilung von Änderungen in den Prozessen nicht erkennbar und keine Benachrichtigung der benannten Stelle erfolgt sei. Zudem sei die Lohnherstellung der Xxx im März 2020 zur Antragstellerin verlegt worden. Nach dem Auditbericht der ECM aus April 2020 seien besondere Überwachungsmaßnahmen notwendig, nachdem eine Betrachtung und Bewertung der Prozesse wegen der fortlaufenden Produktrealisierung nur eingeschränkt möglich gewesen sei. Auch die aus dem Auditbericht ersichtliche Delegation an Unterauftragnehmer sei den Unterlagen der Antragstellerin nicht zu entnehmen. Die bereits im Zusammenhang mit dem Produktrückruf 2019 vom BfArM geforderte Verifizierung des Sterilisationsverfahrens mithilfe einer benannten Stelle sei nicht erfolgt. Die verwandten Durchlaufschweißmaschinen seien laut Herstellerangaben nicht für Verpackungsprozesse nach EN ISO 11607-1 geeignet. Auch die durch die MedCert festgestellten Abweichungen seien nicht nachweislich abgestellt, weil die Antragstellerin rechtswidrig ein neues Zertifikat bei der ECM beantragt habe, welches ihr am 27. August 2018 erteilt worden sei, obwohl sie noch ein Zertifikat der MedCert vorgehalten habe, welches ihr erst am 31. August 2018 aufgrund nicht abgestellter Mängel entzogen worden sei. Seit 20. Mai 2020 sei auch keine regelgerechte Überwachung der Antragstellerin mehr gewährleistet. Es befänden sich zudem invasive Medizinprodukte in den Sets der Antragstellerin, die intramuskulär, intravenös bzw. subkutan zur Anwendung kämen bzw. in offene Wunden eingeführt würden (Herzkatheterführungsdraht, Skalpelle, Infusionsbesteck). Die vorgelegten ungelenkten Dokumente seien zum Nachweis vorschriftsmäßig validierter und gelenkter Sterilisationsverfahren nicht geeignet. Hieraus resultiere ein unvertretbares Risiko für die Patientensicherheit, wobei das Schadensausmaß schwerwiegend sein könne. Hinsichtlich des eingereichten Gutachtens sei nicht anzunehmen, dass der Gutachter Dipl.-Ing. Zzz, der seinerzeit Geschäftsführer der ECM war und das Zertifikat der Antragstellerin im August 2018 und 2019 unterschrieben habe, unabhängig sei. Das Gutachten sei auch hinsichtlich der durch den Gutachter gestellten Fragen und der Begutachtung an sich nicht geeignet, eine drohende Gefahr zu widerlegen. Hinsichtlich der einzelnen Einwände wird auf Bl. 126 der Gerichtsakte verwiesen. Auch dürften die am 27. August 2018 neu ausgestellten Zertifikate der benannten Stelle ECM mbH für Medizinprodukte der Klasse I s nach Art. 12 MDD mit Ausstellungsdatum vom 27. August 2018 mit Blick auf das praktizierte Verfahren des Wechsels Zweifel hinsichtlich ihrer Gültigkeit aufwerfen, weil bei der vormals benannten Stelle MedCert GmbH erst am 31. August 2018 die Nachricht eingegangen sei, dass die Antragstellerin den bestehenden Vertrag fristlos kündigt habe. Weder die Antragstellerin noch die ECM GmbH habe Kontakt zur MedCert GmbH aufgenommen und den beabsichtigten Wechsel der benannten Stelle bekanntgegeben, was wiederum nicht dem NBOG-Papier zum Wechsel der benannten Stelle entsprochen habe. Ein Hersteller dürfe bezogen auf ein bestimmtes Produkt keinen Parallelantrag bei einer anderen benannten Stelle einreichen (Anhang V Punkt 3.1 der RL 93/42/EWG).
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Auch, dass die Antragstellerin nach dem Fund und Rückruf der keimbelasteten Pappnierenschalen trotz ausdrücklicher Aufforderung durch das BfArM vom 29. Juli 2019 ein validiertes Sterilisationsverfahren nicht evaluiert und damit ihre originären Herstellerpflichten nicht befolgt habe, belege, dass derzeit kein sicherer Herstellungsprozess bestehe. Auch die danach eingereichten Unterlagen belegten einen solchen nicht, da die dortigen Annahmen und Feststellungen nicht begründet und die Ergebnisse nicht bewertet worden seien.
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Folglich erweise sich die Untersagung des Inverkehrbringens bis die entsprechende Validierung des Herstellungsprozesses nach Anhang I der RL 93/42/EWG von einer benannten Stelle zertifiziert wurde, als verhältnismäßig. Insbesondere überwiege die drohende konkrete Gefahr für die Patientensicherheit das wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin, die die Durchführung der fraglichen Überprüfungs-, Evaluierungs- und Überwachungsmaßnahmen selbst steuern könne. Es bestehe auch ein besonderes öffentliches Interesse am Gesundheitsschutz. Angesichts des Einsatzes der Behandlungssets bei Operationen und Eingriffen, wobei der Einsatz von sterilen Medizinprodukten zur Minimierung von Infektionsgefahren geboten sei, dulde eine Beseitigung des ungenügend validierten Herstellungsprozesses keinen Aufschub. Das gelte umso mehr, weil der Widerspruch der H... GmbH noch nicht beschieden sei und eine Anfechtungsklage noch ausstehe. Ein Abwarten bis zur Rechtskraft des Hauptverfahrens sei im Interesse der Allgemeinheit nicht zumutbar. Auf Grund seiner Gefahrenabwehraufgabe und der Schutzpflicht gegenüber Dritten sei er bezüglich des vorliegenden Sachverhalts zur Entscheidung gelangt, dass das private Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung des Verwaltungsaktes das öffentliche Interesse, hier der Gesundheitsschutz der Patienten, an der sofortigen Vollziehung nicht überwiege.
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Die Kammer hat durch Beschluss vom 22. Dezember 2020 verfügt, dass die sofortige Vollziehung der angegriffenen Untersagungsverfügung bis zu einer Entscheidung über das anhängige Eilverfahren ausgesetzt wird. Zur Begründung wird auf den Beschlusstenor, Bl. 200 der Gerichtsakte, verwiesen. Die hiergegen beim Oberverwaltungsgericht anhängig gemachte Beschwerde des Antragsgegners (Az. 3 MB 2/21) blieb ohne Erfolg. Im Beschwerdeverfahren vertieften und präzisierten die Beteiligten ihre Ausführungen im Wesentlichen. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer führte aus, dass die Antragstellerin kein den Anforderungen des Anhangs I RL 93/42/EWG genügendes Qualitätssicherungssystem zur Prozessvalidierung des Sterilisationsprozesses ihrer sterilen Behandlungssets vorweise. Dieses System müsse vollständig dokumentiert und die Funktionstüchtigkeit überwacht werden. Die von der Antragstellerin vorgelegten Dokumente seien nicht durch eine autorisierte Person geprüft und freigegeben worden, sodass Fehler nicht erkannt würden. Die Unterlagen seien nicht im Rahmen eines QM-Systems erstellt worden. Ihnen sei nicht zu entnehmen, welche Sets wie verpackt seien. Die besonderen Anforderungen an das Gesamtverpackungssystem (Primär-, Sekundär-, Tertiärverpackung) seien weder beschrieben noch die Anforderungen an Transport und Lagerdauer beschrieben und nachgewiesen. Der von der Antragstellerin herangezogene Gutachter lege zum Teil Sachverhalte als gegeben zugrunde, die sich tatsächlich anders darstellten. Insofern seien die daraus gezogenen Schlussfolgerungen falsch.
II.
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Aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides vom 3. Dezember 2020 durch den Antragsgegner ausgesprochenen Untersagungsverfügung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist der gestellte Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 11. Dezember 2020 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. HS VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung kommt dem Widerspruch bereits qua Gesetz (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 248 Landesverwaltungsgesetz SH - LVwG -) keine aufschiebende Wirkung zu, sodass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 1. HS VwGO zulässig ist.
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Der Antragsgegner hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffer 1 zunächst in ausreichender Weise gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet. Erforderlich ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende, nicht lediglich formelhafte Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit. Dem wird der Antragsgegner noch gerecht, wenn er unter Verweis auf die überragende Relevanz des effektiven Gesundheitsschutzes der Allgemeinheit darauf verweist, dass die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens wegen der damit einhergehenden drohenden Gesundheitsgefahren nicht hingenommen werden könne. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO fordert nicht, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe auch materiell überzeugen, also die getroffene Maßnahme inhaltlich rechtfertigen. Diese Frage ist erst im Rahmen der nachfolgenden Interessenabwägung durch das Gericht zu klären (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23. Januar 2017 – 4 MB 2/17 –, juris).
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Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann durch das Gericht die aufschiebende Wirkung im Falle des Absatzes 2 S. 1 Nr. 4, also insbesondere in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes im öffentlichen Interesse von der erlassenden Behörde besonders angeordnet wurde, ganz oder teilweise wiederhergestellt werden. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse einerseits und das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Die Interessenabwägung richtet sich maßgeblich danach, ob der angegriffene Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Lässt sich bei der gebotenen summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne Weiteres feststellen, ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen, weil an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich der angefochtene Bescheid hingegen als offensichtlich rechtmäßig, bedarf es in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse – wie hier – von der Behörde angeordnet wurde, noch eines besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung, das gerade in Fällen der Gefahrenabwehr aber mit dem Interesse am Erlass des Bescheides selbst identisch sein kann.
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Die Abwägung zwischen Vollzugs- und Aussetzungsinteresse geht zulasten der Antragstellerin aus, weil sich der angegriffene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig erweist, die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt und ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse vorliegt.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des mit dem Widerspruch angegriffenen Bescheides ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, welche hier wegen des noch andauernden Vorverfahrens noch nicht getroffen wurde. Folglich ist vorliegend der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich. Darüber hinaus erweist sich der hier angefochtene Bescheid auch als Dauerverwaltungsakt, dessen Rechtmäßigkeit auch in anderen Verfahrensstadien anhand der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist. Der Bescheid des Antragsgegners vom 3. Dezember 2020 trifft nicht nur eine einmalige, stichtagsbezogene Regelung, sondern untersagt das Inverkehrbringen der streitrelevanten Medizinprodukte vielmehr für den Zeitraum seiner Wirksamkeit (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage im Medizinprodukterecht: OVG Niedersachen, Urteil vom 17. Dezember 2019 – 13 LB 135/19 –, juris Rn. 24 f. m. w. N.).
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Die Rechtslage ist danach maßgeblich anhand der Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (MDR) in der Form der Verordnung (EU) 2020/561 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2020 zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte hinsichtlich des Geltungsbeginns einiger ihrer Bestimmungen (ABl. L 130 vom 24. April 2020, S. 18) sowie dem hierzu auf nationaler Ebene ergangenen Gesetz zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffend Medizinprodukte (Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz – MPDG) zu beurteilen. Dieses Ergebnis wird auch durch das materielle Recht – hier Art. 120 Abs. 3 MDR – gestützt, wonach zwar abweichend von Artikel 5 der MDR für ein Produkt, […] für das eine Bescheinigung gemäß […] der Richtlinie 93/42/EWG ausgestellt wurde, die gemäß Art. 120 Abs. 2 MDR gültig ist, auch ab Geltungsbeginn der MDR weiterhin die inhaltlichen Anforderungen der RL 93/42/EWG gelten, während für die Überwachung nach dem Inverkehrbringen, die Marktüberwachung, die Vigilanz, die Registrierung von Wirtschaftsakteuren und von Produkten die Anforderungen der MDR statt jener der RL 93/42/EWG gelten.
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Rechtsgrundlage für die Untersagung ist nach vorstehendem § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 1. Alt. MPDG, wonach die zuständige Behörde unbeschadet der Vorschriften der MDR zur Marktüberwachung und des § 74 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 (Maßnahmenergreifung durch die Bundesoberbehörde) die Maßnahmen ergreift, die notwendig sind, um einen Verstoß zu beseitigen und künftigen Verstößen vorzubeugen. Die zuständige Behörde ist insbesondere befugt, das Inverkehrbringen zu verbieten oder einzuschränken. Dabei ergänzt § 78 MPDG die Vorschriften der MDR insbesondere mit Blick auf Überwachungsaufgaben der Landesbehörden, die nicht von Art. 95 Abs. 4 MDR erfasst sind. Satz 2 enthält eine nicht abschließende Aufzählung von Maßnahmen, die die Behörde im eigenen Ermessen zur Beseitigung festgestellter Verstöße oder zur Verhinderung künftiger Verstöße ergreifen kann, wobei der Begriff „Verstöße“ im umfassenden Sinne zu verstehen ist. Darunter fallen nicht nur formale Verstöße, sondern auch solche, die eine Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit von Patientinnen und Patienten, Anwendern und sonstigen Personen bergen. In Abgrenzung hierzu richtet sich Zuständigkeit der Landesbehörden zur Abwehr von unvertretbaren Risiken, die möglicherweise von einem Produkt ausgehen, hier aber nicht anzunehmen sind, nach § 77 Abs. 4 und § 74 (vgl. zur Regelungskonzeption BT-Drs. 19/15620, S. 150).
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Dies gilt unbeschadet dessen, dass der Antragsgegner seine Untersagungsverfügung auf § 28 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 des Medizinproduktegesetzes (MPG) gestützt hat. Die Frage, ob ein angefochtener Bescheid materiell rechtmäßig oder rechtswidrig ist, richtet sich nach dem Recht, das geeignet ist, die getroffene Regelung zu rechtfertigen. Erweist sie sich aus anderen als den in dem Bescheid angegebenen Gründen als rechtmäßig, ohne dass sie durch den Austausch der Begründung in ihrem Wesen geändert würde, ist der Verwaltungsakt im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht rechtswidrig. So liegt der Fall hier. Der Regelungsgehalt der angegriffenen Untersagungsverfügung bliebe im Wesentlichen unverändert, wenn die Untersagung des Inverkehrbringens auf § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 1. Alt. MPDG anstelle des von dem Antragsgegner herangezogenen § 28 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 MPG gestützt würde. Der Austausch beider Normen ließe den Tenor des angefochtenen Bescheides, das Inverkehrbringen der steril verpackten Sets mit der CE-Kennzeichnung der Kennnummer 0481 zu unterlassen, unberührt und erforderte auch keine wesentlich anderen oder zusätzlichen Ermessenserwägungen (vgl. zu den Maßstäben bei Austausch der Ermächtigungsgrundlagen BVerwG, Urteil vom 31. März 2010 – 8 C 12.09 –, juris Rn. 16 m. w. N.). Der Wechsel der Rechtsgrundlage bei Ermessensentscheidungen führt ausnahmsweise dann nicht zu einer Wesensänderung, wenn die Zwecke beider Ermächtigungsnormen so eng beieinanderliegen, dass ein Austausch ausnahmsweise möglich erscheint (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. November 2014 – 13 B 1250/14 –, juris Rn. 14 - 16).
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Gemessen daran überwiegen bei dem hier in Rede stehenden Austausch der Rechtsgrundlage die gegen eine Wesensänderung sprechenden Gesichtspunkte, denn beide Vorschriften verfolgen mit dem Schutz der Gesundheit und der Sicherheit von Patienten, Anwendern und sonstigen Personen („Dritten“) vor Gefahren durch Medizinprodukte identische Ziele und weisen zudem eine deutliche strukturelle Gleichheit auf. Darüber hinaus stimmen auch die Tatbestandsvoraussetzungen und die hieran anknüpfenden Rechtsfolgen im Wesentlichen überein und müssen insgesamt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Es kann angesichts des durch die MDR erfolgten Wechsels im Überwachungs- und Kompetenzgefüge zwischen Bundes- und Landesbehörden dahinstehen, in welchem Verhältnis § 26 und § 28 MPG zueinander standen, da die vormals in § 26 Abs. 1 MPG geregelten Befugnisse der Landesbehörden im Rahmen ihrer Überwachungstätigkeit nicht mehr in den dieser Regelung nunmehr entsprechenden § 77 MPDG übernommen worden sind (vgl. zur Anlehnung des § 77 MPDG an § 26 Abs. 1 MPG BT-Drs. 19/15620, S. 148 a. E.).
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Die Antragstellerin verstößt mit dem Inverkehrbringen der von ihr sterilisierten und zusammengestellten Behandlungssets gegen die Regelungen des Art. 120 MDR.
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Maßgeblich für die Beurteilung des vorliegenden Falls sind die Regelungen in Art. 120 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Sätze 1 und 3 MDR. Nach Abs. 1 wird ab dem 26. Mai 2021 jede Veröffentlichung einer Notifizierung gemäß den Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG in Bezug auf eine benannte Stelle ungültig. Nach Abs. 2 Satz 2 behalten Bescheinigungen, die von benannten Stellen nach dem 25. Mai 2017 gemäß den Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG ausgestellt werden, ihre Gültigkeit bis zum Ende des darin angegebenen Zeitraums, der fünf Jahre ab der Ausstellung nicht überschreiten darf. Nach Abs. 3 Satz 1 darf ein Produkt, […] für das eine Bescheinigung gemäß der Richtlinie 90/385/EWG oder der Richtlinie 93/42/EWG erteilt wurde, die gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels gültig ist, abweichend von Artikel 5 der vorliegenden Verordnung nur bis zum 26. Mai 2024 in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, sofern es ab dem 26. Mai 2021 weiterhin einer dieser Richtlinien entspricht und sofern keine wesentlichen Änderungen der Auslegung und der Zweckbestimmung vorliegen. Nach Abs. 3 Satz 3 ist die benannte Stelle, die die in Unterabsatz 1 genannte Bescheinigung ausgestellt hat, unbeschadet des Kapitels IV und Absatz 1 des vorliegenden Artikels weiterhin für die angemessene Überwachung bezüglich aller geltenden Anforderungen an die von ihr zertifizierten Produkte verantwortlich.
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Ein gültiges Zertifikat über ein Konformitätsbewertungsverfahren nach den vorgenannten Vorgaben hält die Antragstellerin nicht (mehr) vor.
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Grundsätzlich bestimmt Art. 120 Abs. 1 MDR, dass ab dem 26. Mai 2021 jede Veröffentlichung einer Notifizierung gemäß den Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG in Bezug auf eine benannte Stelle ungültig wird. Um für einen reibungslosen Übergang zu sorgen (vgl. Erwägungsgrund 99 MDR), regelt Art. 120 Abs. 2 Satz 2 MDR jedoch, dass Bescheinigungen, die von benannten Stellen nach dem 25. Mai 2017 gemäß den Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG ausgestellt werden, ihre Gültigkeit bis zum Ende des darin angegebenen Zeitraums, der fünf Jahre ab der Ausstellung nicht überschreiten darf, behalten. […] Jene Produkte mit einer nach Abs. 2 gültigen Bescheinigung dürfen gemäß Art. 120 Abs. 3 Satz 1 MDR abweichend von Artikel 5 jedoch nur in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, sofern das Produkt ab dem Tag des Geltungsbeginns der vorliegenden Verordnung weiterhin einer dieser Richtlinien entspricht und sofern keine wesentlichen Änderungen der Auslegung und der Zweckbestimmung vorliegen.
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Die vorgenannten Voraussetzungen des Art. 120 MDR liegen in mehrfacher Hinsicht nicht vor.
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Zunächst ist die Benennung der zuletzt von der Antragstellerin beauftragten benannten Stelle ECM nicht aufgrund des Art. 120 Abs. 1 MDR ungültig geworden. Vielmehr hat die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) einen bereits im Jahr 2018 durch die ECM gestellten Verlängerungsantrag ihrer Benennung wegen grundsätzlicher Zweifel der an der sach- und zeitgerechten Wahrnehmung der gesetzlichen Verpflichtungen durch diese – insbesondere mit Blick auf die Durchführung von Audits und Prüfungen sowie der Ergreifung von Maßnahmen nach § 18 MPG – unter Einschränkungen des Betätigungsumfangs der ECM auf Bestandskunden und ohne Verfahren für Produkte zur Einnahme auf den 25. Mai 2020 befristet (vgl. E-Mail des ZLG vom 29. Mai 2020, Bl. 52 f. der Beiakte B). Die Benennung ist daher nicht nach den Vorschriften der MDR ungültig geworden, sondern bereits vorher und aus anderen Gründen erloschen. Folglich können auch die lediglich für den Fall des Eintritts von Art. 120 Abs. 1 MDR normierten Übergangvorschriften vorliegend keine Anwendung finden.
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Dabei kommt es entgegen der Auffassung der Antragstellerin für die Gültigkeit ihrer Anhang-V-Zertifikate nicht auf den Zeitpunkt des Geltungsbeginns der MDR an, denn die in Art. 120 Abs. 3 Satz 3 MDR getroffene Regelung, dass die benannte Stelle, die die Bescheinigung ausgestellt hat, unbeschadet des Kapitels IV und des Ungültigwerdens ihrer Notifizierung (Benennung) nach Art. 120 Abs. 1 MDR weiterhin für die angemessene Überwachung bezüglich aller geltenden Anforderungen an die von ihr zertifizierten Produkte verantwortlich ist, kann nur für den Fall Geltung beanspruchen, dass die vormals benannte Stelle ihre Benennung lediglich aufgrund der Regelung des Absatzes 1 bzw. der neu geltenden Vorschriften zur Notifizierung in Kapitel IV der MDR, d.h. infolge der Änderung der europäischen Regularien, verloren hat. Ist die Benennung der vormals benannten Stelle jedoch – wie im Falle der ECM – aufgrund von Mängeln in der Aufgabenwahrnehmung nach §§ 17 f. MPG i. V. m. RL 93/42/EG ausgelaufen, kann von einer fortlaufenden angemessenen Überwachung aller geltenden Anforderungen durch diese benannte Stelle bezüglich der von ihr zertifizierten Produkte schon aus teleologischen Gründen nicht ausgegangen werden. Für diese Auslegung spricht auch die Regelung des § 120 Abs. 3 Satz 1 MDR, wonach abweichend von Artikel 5 der MDR ein Produkt, für das eine Bescheinigung gemäß […] der Richtlinie 93/42/EWG erteilt wurde, die gemäß [§ 120 Abs. 2 MDR] gültig ist, nur in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, sofern es ab dem 26. Mai 2021 weiterhin einer dieser Richtlinien entspricht und sofern keine wesentlichen Änderungen der Auslegung und der Zweckbestimmung vorliegen.
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Darüber hinaus bestehen – selbst wenn man Art. 120 Abs. 2 Satz 2 MDR für anwendbar hielte – Zweifel daran, dass das zuletzt von der Antragstellerin für die von ihr vertriebenen sterilen Behandlungseinheiten vorgehaltene Zertifikat der ECM vom 27. August 2018 mit Gültigkeit bis 26. August 2023 nach den Vorgaben des Anhang V RL 93/42/EWG erteilt wurde. Zunächst spricht einiges dafür, dass die Antragstellerin aufgrund der Aussetzung der zum damaligen Zeitpunkt noch gehaltenen Zertifikate der Firma MedCert ab 31. August 2018 und entgegen den Vorgaben des Beschlusses 3.13 B 19 der EK-Med aus April 2009 („Change of Notified Body“), dass ein Wechsel der benannten Stelle nicht an eine unterschiedliche Interpretation der spezifischen Normenkonformität bzw. Verordnungsauslegung geknüpft werden soll, die ECM gerade aufgrund einer entsprechenden unterschiedlichen Interpretation der Normen mit der Neuzertifizierung beauftragt hat. Diese Annahme legt jedenfalls der unmittelbare zeitliche Zusammenhang der Beauftragung vor der Aussetzung der Zertifikate durch MedCert aufgrund festgestellter Abweichungen in der Sterilisationsvalidierung nahe. Nach den Vorgaben des EK-Med-Beschlusses 3.13 B 19 hat die zuständige Überwachungsbehörde zur Gewährleistung der Sicherheit der auf den Markt gebrachten Medizinprodukte die Auswirkungen des Wegfalls der Benennung auf die Bescheinigungen der benannten Stelle zu überprüfen und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, sollte sich herausstellen, dass der Wegfall der Benennung Ergebnis von ungeeigneten Audits und Überprüfungen gewesen ist (vgl. Seite 4 des EK-Med-Beschlusses 3.13 B 19). Weiter ist im o. g. EK-Med-Beschluss vorgeschrieben, dass die neue benannte Stelle (ECM) die vorliegenden Ergebnisse und Bewertungen von Tests und Audits der alten benannten Stelle berücksichtigen soll. Liegen gültige Zertifikate des Qualitätssicherungssystems vor und indizieren die Dokumente, dass ein etabliertes System besteht und umgesetzt wird, kann die neue benannte Stelle ein Zertifikat ggf. ohne Durchführung eines Audits ausstellen. Geben die Dokumente hingegen Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Konformität des Qualitätssicherungssystems, sollte die neue benannte Stelle diese Bedenken ausräumen, bevor ein erneutes Zertifikat ausgestellt wird. Ein „Transfer-Audit“ kann in dieser Situation gerechtfertigt sein. Angesichts der vorher erfolgten Aussetzung der Zertifikate aufgrund festgestellter Mängel (vgl. im Einzelnen das Schreiben der MedCert vom 31. August 2018, Bl. 30 der Beiakte A) hätte nach den Vorgaben der EK-Med im o. g. Beschluss eine vollständige Prüfung (auch vor Ort) unter Bewertung des Qualitätsmanagementsystems durch die neue benannte Stelle ECM vorgenommen werden müssen. Dies ist laut Aussage des damaligen Geschäftsführers der ECM im hiesigen Verfahren nicht geschehen. In seinem Gutachten vom 11. Dezember 2020 führt er zu dem in 2018 erfolgten Wechsel der benannten Stelle aus, dass ihm keine näheren Angaben zu den Abweichungen und deren Bearbeitungsgrad vorlägen und er davon ausgehe, dass potentiell offene Abweichungen im Rahmen des nachfolgenden Konformitätsbewertungsverfahrens geschlossen sein worden. Dies allein spricht bereits dafür, dass erforderliche Dokumente der MedCert weder angefordert noch analysiert worden sind. Hieraus solle aber aus Gründen der Neutralität und Vertraulichkeit laut Gutachter nicht näher eingegangen werden. Diese nebulöse Stellungnahme, die bei der zeitlich unmittelbar nachfolgenden Inspektion des Antragsgegners am 7. September 2018 festgestellten Verstöße und die Bewertung der Vorkommnisse durch das BfArM am 22. Juli 2019 (vgl. hierzu Seite 4 des angegriffenen Bescheides, Bl. 54 der Gerichtakte) lassen eine Erfüllung der Vorgaben des EK-Med Beschlusses mindestens zweifelhaft erscheinen. Soweit der Antragsgegner der Auffassung ist, das Verbot der Doppelbeauftragung benannter Stellen in Ziffer 3.1 des Anhang V der RL 93/42/EWG gelte über die Beauftragung vor dem erstmaligen Inverkehrbringen hinaus, spricht der zitierte EK-Med-Beschluss zum Vorgehen bei freiwilligem Wechsel gegen diese Auffassung.
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Weiterhin haben die Zertifikate der ECM bereits vor Geltungsbeginn der MDR am 21. Mai 2021 ihre legitimierende Fiktionswirkung über die Einhaltung der Vorgaben des MPG und der RL 93/42/EWG gemäß § 8 Abs. 1 MPG und Anhang V Ziff. 3.3 Abs. 1 Satz 2 bei Einhaltung harmonisierter Normen im Sinne des § 3 Nr. 18 MPG verloren und fallen damit nicht mehr in deren Anwendungsbereich. Dies gilt selbst dann, wenn man den ursprünglich geplanten Geltungsbeginn am 26. Mai 2020 zugrunde legt.
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Dem liegen folgende Überlegungen zugrunde: Gemäß Bekanntmachung der Kommission – Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“) vom 26.7.2016 (ABl. C 272, S. 1), Ziff. 5.3.4., berührt die Aussetzung oder der Widerruf bzw. Wegfall einer Notifizierung (Benennung) unbeschadet sektorspezifischer Besonderheiten zwar nicht die von der benannten Stelle bis dahin erteilten Bescheinigungen. Dies gilt jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem nachgewiesen werden kann, dass Bescheinigungen widerrufen werden sollten. Um bei Aussetzung oder Widerruf einer Notifizierung für Kontinuität zu sorgen oder wenn die notifizierte Stelle ihre Tätigkeit eingestellt hat, muss der notifizierende Mitgliedstaat gewährleisten, dass die Akten dieser Stelle von einer anderen notifizierten Stelle weiter bearbeitet bzw. für die zuständigen notifizierenden Behörden und Marktüberüberwachungsbehörden auf deren Verlangen bereitgehalten werden. Dabei erachtet der o.g. EK-Med-Beschluss für den Fall des „Enforced Change“ einen Übergangzeitraum von sechs Monaten für angemessen, um eine neue benannte Stelle zu finden und die entsprechende Auditierung und Zertifizierung zu gewährleisten. Nur in begründeten Einzelfällen kann die Frist länger bemessen werden. Die sechsmonatige Wechselfrist war vorliegend im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 3. Dezember 2020 bereits deutlich überschritten, nachdem das Auslaufen der Berechtigung der ECM nach Angaben der ZLG bereits im Juli 2019 feststand und auch der Antragstellerin nach ihrem eigenen Vortrag im gerichtlichen Verfahren bereits bekannt war. Dabei geht es zulasten der Antragstellerin, dass sie offenbar – trotz absehbaren Endes der Benennung der ECM bereits nach altem Regelungsregime – davon ausgegangen ist, die ECM sei weiterhin für die angemessene Überwachung bezüglich aller geltenden Anforderungen an die von ihr zertifizierten Produkte gemäß Art. 120 Abs. 3 Satz 3 MDR verantwortlich. Art. 120 Abs. 3 MDR – dies zeigt die Formulierung „Unbeschadet des Kapitels IV und Absatz 1 […]“ – gilt wie bereits erörtert nur für die fortgeltende Überwachungsverantwortlichkeit derjenigen nach RL 93/42/EWG benannten Stellen, die aufgrund des Wechsels des Regelungsregimes ihre Benennung verloren haben. Für die aufgrund alten Rechts auslaufenden Benennungen gilt weiterhin der vom Antragsgegner in der Antragserwiderung zitierte AGMP-Leitfadenüber die Vorgehensweise der zuständigen Behörden im Hinblick auf die Gültigkeit der Bescheinigungen von benannten Stellen, die ihre Tätigkeit eingestellt haben. Die zuständige Behörde kann danach das Inverkehrbringen von Medizinprodukten, die von der Einstellung oder Einschränkung der Tätigkeiten einer benannten Stelle betroffen sind und für die die Grundlage der erteilten und noch gültigen Bescheinigungen dadurch verloren ist, von der Einhaltung bestimmter Auflagen abhängig machen. Damit soll der Hersteller die Gelegenheit erhalten, die Voraussetzungen für das rechtmäßige Anbringen der CE-Kennzeichnung seiner Produkte wiederherzustellen, obwohl die bisherige benannte Stelle die ordnungsgemäße Anwendung des genehmigten Qualitätssicherungssystems nicht mehr überwacht. Bei dieser Vorgehensweise handelt es sich mangels entsprechender gesetzlicher Befugnisse laut Leitfaden ausdrücklich nicht um eine amtliche Verlängerung einer Bescheinigung einer benannten Stelle. Die zuständige Behörde übernimmt auch zu keinem Zeitpunkt die Verpflichtungen oder Verantwortlichkeiten einer benannten Stelle und hat auch keinen Einfluss auf die Tätigkeiten der Produktzertifizierung der neuen benannten Stelle. Die Verantwortung für das Inverkehrbringen der betroffenen Produkte bleibt unverändert und ausschließlich beim Hersteller.Er muss daher auch schnellstmöglich für die Beauftragung einer neuen benannten Stelle sorgen.
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Vorliegend hat die Antragstellerin den Wechsel der benannten Stelle nicht schnellstmöglich herbeigeführt, sondern zunächst gegenüber dem Antragsgegner vorgetragen, vom Auslaufen der Benennung keine Kenntnis zu haben. Erst unter dem 24. Juli 2020, mithin über ein Jahr nach Bekanntwerden des Auslaufens der Benennung der ECM, wurde gegenüber dem Antragsgegner eine Anfrage gegenüber einer neuen benannten Stelle (TÜV Nord Polen) belegt und daraufhin das Angebot dieser ausgeschlagen (vgl. E-Mail TÜV Nord vom 24. November 2020, Anlage 6 zur Antragserwiderung, Bl. 36 f. der Beiakte 2). Am 8. September 2020 erfolgte nach Angaben der Antragstellerin die Beauftragung der nunmehr benannten Stelle DQS-MED.
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Anhaltspunkte für eine im Einzelfall länger zu bemessende Übergangsfrist sind nicht ersichtlich oder dargelegt. Ein Zertifikat einer neuen benannten Stelle wurde bis heute nicht zu den Akten gereicht. Vielmehr teilte die Antragstellerin mit, dass man sich nach wie vor im Auditierungsverfahren befinde und zunächst die Dokumente geprüft habe.
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Selbst gültige Zertifikate nach RL 93/42/EWG der ECM unterstellt, darf die Antragstellerin ihre Medizinprodukte nicht mehr in den Verkehr bringen, weil diese zum Geltungsbeginn der vorliegenden Verordnung nicht mehr der RL 93/42/EWG entsprechen.
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Wer – wie die Antragstellerin – Systeme oder Behandlungseinheiten gemäß § 10 Abs. 1 oder 2 für das erstmalige Inverkehrbringen sterilisiert, muss nach § 10 Abs. 3 Satz 1 MPG – in Umsetzung von Art. 12 Abs. 3 RL 93/42/EWG – dafür nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 37 Abs. 1 MPG i. V. m. § 7 Abs. 7 Medizinprodukte-Verordnung (MPV) im Hinblick auf die Sterilisation ein Konformitätsbewertungsverfahren nach den Vorgaben des Anhang II oder V der RL 93/42/EWG durchführen und eine Erklärung abgeben, dass die Sterilisation nach den Anweisungen des Herstellers erfolgt ist.
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Die Erklärung über die Konformität mit den Herstellervorgaben richtet sich für die hier fraglichen und steril zum Einsatz kommenden Produkte nach Anhang VII der RL 93/42/EWG.In der Konformitätserklärung erklärt der Hersteller steriler Produkte, dass er den Verpflichtungen nach Abschnitt 2 und 5 nachkommt und die betreffenden Produkte den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie entsprechen.
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Gemäß Abschnitt 2 stellt der Hersteller die in Abschnitt 3 beschriebene technische Dokumentation zusammen, die insbesondere
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- eine allgemeine Beschreibung des Produkts, einschließlich der geplanten Varianten und seiner Zweckbestimmung(en),
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- Konstruktions- und Fertigungszeichnungen sowie Pläne von Bauteilen, Baugruppen, Schaltungen usw. und die zum Verständnis der genannten Zeichnungen und Pläne sowie der Funktionsweise des Produkts erforderlichen Beschreibungen und Erläuterungen,
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- die Ergebnisse der Risikoanalyse sowie eine Liste der ganz oder teilweise angewandten Normen gemäß Artikel 5 sowie eine Beschreibung der Lösungen zur Einhaltung der grundlegenden Anforderungen dieser Richtlinie, sofern die in Artikel 5 genannten Normen nicht vollständig angewandt worden sind,
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- sofern die Produkte in sterilem Zustand in den Verkehr gebracht werden, eine Beschreibung der angewandten Verfahren und den Validierungsbericht,
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enthält und die Bewertung der Konformität des Produkts mit den Anforderungen der Richtlinie ermöglichen muss.
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Diesen Vorgaben wird die Antragstellerin nicht gerecht. Die von ihr eingereichten Unterlagen lassen keine Konformitätsbewertung ihrer Medizinprodukte hinsichtlich der grundlegenden Anforderungen des Anhangs I zur Sterilität zu. Nach Abschnitt 3 des Anhang I müssen Produkte so ausgelegt, hergestellt und verpackt sein, dass sie geeignet sind, eine oder mehrere der in Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Funktionen entsprechend den Angaben des Herstellers zu erfüllen.
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Hinsichtlich steril gelieferter Produkte bedeutet dies in Anwendung von Abschnitt 8.3 Anhang I, dass sie so hergestellt und in einer nicht wiederverwendbaren Verpackung und/oder unter Verwendung geeigneter Verfahren so verpackt sein müssen, dass ihre Sterilität beim Inverkehrbringen unter den vom Hersteller vorgesehenen Lager- und Transportbedingungen erhalten bleibt, bis die Sterilverpackung beschädigt oder geöffnet wird. Zudem müssen die in sterilem Zustand gelieferte Produkte gemäß Abschnitt 8.4 nach einem geeigneten, validierten Verfahren hergestellt und sterilisiert worden sein, wobei die zu sterilisierenden Produkte selbst unter angemessenen überwachten Bedingungen (z. B. Umgebungsbedingungen wie Reinraum) hergestellt sein müssen (Abschnitt 8.5).
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Die Einhaltung der Bestimmungen des MPG und der RL 93/42 EWG wird gemäß § 8 Abs. 1 MPG vermutet, wenn Medizinprodukte mit harmonisierten Normen oder […] Gemeinsamen Technischen Spezifikationen, die das jeweilige Medizinprodukt betreffen, übereinstimmen. Gemäß § 8 Abs. 2 MPG sind die Gemeinsamen Technischen Spezifikationen in der Regel einzuhalten. Kommt der Hersteller in hinreichend begründeten Fällen diesen Spezifikationen nicht nach, muss er Lösungen wählen, die dem Niveau der Spezifikationen zumindest gleichwertig sind.
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Die Vermutungswirkung wird der Antragstellerin nicht mehr zuteil, weil sie die für sie geltenden harmonisierten Normen und gemeinsamen technischen Spezifikationen nicht einhält.
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Für Verpackungen für in der Endverpackung zu sterilisierende Medizinprodukte und die Validierungsanforderungen an Prozesse der Formgebung, Siegelung und des Zusammenstellens werden die Vorgaben der RL 93/42/EWG durch die ISO 11607-1:2019 (Deutsche Fassung EN ISO 11607-1:2020) und ISO 11607-2:2006 + Amd.: 2014 (Deutsche Fassung EN ISO 11607-2:2017) konkretisiert.
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Gemäß Ziffer 5.1.8 c) und 5.1.9 c) ISO 11607-1 muss die Siegelung(snaht) bei Siegelung mit einem anderen festgelegten Material unter festgelegten Bedingungen eine festgelegte Mindestsiegelfestigkeit aufweisen. Zum Nachweis der Übereinstimmung der verwandten Sterilbarrieresysteme (Beutel/Tüten) mit den Anforderungen der DIN EN ISO 11607-1 an die Siegelfestigkeit und Aufziehbarkeit von Verpackungen wird gemäß deren Anhang B auf DIN EN ISO 868-5 verwiesen. Die von der Antragstellerin im Verpackungsprozess verwandten Systeme Wipack WB4 und WB7 sind nach den von der Antragstellerin eingereichten Unterlagen solche nach den ISO Normen DIN EN ISO 11607-1 und -2 und 868-5. Die von der Antragstellerin hingegen zum Siegeln verwendeten Durchlaufschweißmaschinen des Typs HAWO hpl 500 D sind für die Siegelung der vorgefertigten Sterilbarrieresysteme nach Angaben des technischen Merkblatts des Herstellers weder für den Verpackungsprozess nach ISO 11607-1 noch für die Siegelung von Verpackungen nach DIN EN ISO 868-5 geeignet (vgl. Anlage 02 der Antragserwiderung, technisches Merkblatt auch abrufbar unter https://pdf.directindustry.com/pdf/hawo/hpl-500-d-d-v/73092-690338.html, zuletzt abgerufen am 16. Juni 2020). Das von der Antragstellerin eingereichte Gutachten des Ingenieurbüros Zzz vom 11. Dezember 2020 (vgl. hier Seite 8 f.) übersieht dabei, dass der Verpackungsprozess mittels des von der Antragstellerin verwandten Modells hpl 500 D nach Angaben des Herstellers schon grundsätzlich nicht validierbar ist (vgl. Anlage 02 der Antragserwiderung). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Maschine nur für die Umverpackung (sog. header bags) oder auch für die Primär- und Sekundärverpackung eingesetzt wird, weil der gesamte Verpackungsprozess einer Validierung bedarf. Selbst das Modell HAWO hpl 500 D-V, welches laut Herstellerangaben (vgl. jedenfalls die Herstellerangaben unter https://pdf.directindustry.com/pdf/hawo/hpl-500-d-d-v/73092-690338.html, vgl. oben) einen validierbaren Prozess nach Vorgaben von ISO 11607-2 verspricht, ist laut Herstellerangaben nicht zur Siegelung der hier eingesetzten Verpackungen unter Einhaltung der Mindestsiegelfestigkeit nach ISO 868-5:2009 geeignet.
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Dass die Vorgaben der ISO 11607-1 nicht vollständig eingehalten werden, wird auch im Sachverständigengutachten festgestellt. Inwiefern die Einschätzung im Gutachten des Herrn Zzz, dass die arbeitstäglichen und im gutachterseits nicht näher beschriebenen Verifizierungsmaßnahmen zur Kompensation eines fehlenden Aufzeichnungssystems (zur Validierung) bzw. zur Überwachung des kritischen Prozessparameters der Siegeltemperatur geeignet seien, um die hier fragliche Siegelfestigkeit nach den Vorgaben der ISO EN 868-5 zu gewährleisten, kann mangels näherer Begründung durch die Kammer nicht nachvollzogen werden. Darüber hinaus erscheinen die Ausführungen im Gutachten angesichts der oben geschilderten Zweifel der ZLG an der Aufgabenwahrnehmung durch die ECM, deren Geschäftsführer Herr Zzz bis zur Aufgabe der Geschäftstätigkeit war, und der vormaligen Vertragsbeziehungen zwischen Antragstellerin und Herrn Zzz nicht geeignet, um die hier streitigen Fachfragen zur Einhaltung der harmonisierten Normen und technischen Spezifikationen bzw. dem Nachweis anderer Mechanismen zur Sicherstellung der grundlegenden Anforderungen abschließend zu beurteilen.
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Auch einen Nachweis, dass die jeweiligen Verpackungen die Sterilität über den Lagerungszeitraum von zwei bis drei Jahren aufrechterhalten, hat die Antragstellerin nicht erbracht.
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Um die Leistung und Stabilität des Verpackungssystems insgesamt beurteilen zu können, muss gemäß Ziff. 8.1 ISO EN 11607-1 die Prüfung der Unversehrtheit des Sterilbarrieresystems (mit der nachgewiesen werden soll, dass das Sterilbarrieresystem in der Lage ist, die Sterilität aufrechtzuerhalten) nach der Leistungsprüfung und Prüfung der Stabilität des Verpackungssystems an sterilisierten Proben durchgeführt werden. Mit der Prüfung der Stabilität muss nach Ziff. 8.3.1 nachgewiesen werden, dass das Sterilbarrieresystem seine Unversehrtheit im Lauf der Zeit nicht verliert. Hierfür wird in der Regel die Alterung in Echtzeit überprüft und protokolliert. Dass die Antragstellerin eine solche Prüfung durchgeführt hat, ist weder ersichtlich noch vorgetragen.
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Der Verpackungsprozess ist entgegen den Vorgaben der ISO EN 11607-2 nicht mehr validiert worden, nachdem die Antragstellerin ihre Produktionsstätte von der Firma Xxx in die eigenen Betriebsräume in A-Stadt verlegt hat. Nach Ziffer 5.7.1 ISO EN 11607-2 müssen Dokumente zum Verpackungs- und Siegelungsprozess einem Verfahren zur Prüfung von Änderungen hinsichtlich Dokumentation, Prüfung und Genehmigung von Änderungen unterliegen. Nach Ziff. 5.7.2 sind die Prozesse zu revalidieren, wenn Veränderungen an der Anlage, den Produkten, Verpackungsmaterialien oder am Verpackungsprozess vorgenommen werden, die sich auf die ursprüngliche Validierung nachteilig auswirken und die Sterilität, Sicherheit oder Wirksamkeit der sterilen Medizinprodukte beeinträchtigen können. Bei der Installation eines neuen Anlagenteils, der hier in der Verwendung der betriebseigenen Maschinen liegt, sowie der Überführung von Verfahren und/oder Ausrüstungen zwischen Anlagen oder Orten handelt es sich um Änderungen, die den Status eines validierten Prozesses beeinflussen können. Nach Ziff. 5.7.3 muss das Erfordernis einer Revalidierung bewertet und dokumentiert werden. Je nach Bewertung muss diese Revalidierung nicht so umfangreich sein wie die Anfangsvalidierung. Weder die erforderliche Bewertung hat die Antragstellerin vorgelegt noch eine Revalidierung durchgeführt. Dieser Annahme stehen die unsubstantiierten Vermutungen auf Seite 2 f. des Gutachtens des Herrn Zzz nicht entgegen, die weder eine Bewertung darstellen noch den nachvollziehbaren Schluss zulassen, dass eine Revalidierung des Verpackungsprozesses nicht erforderlich (gewesen) wäre.
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Auch die Vorgaben des Anhang V der RL 93/42/EG erfüllt die Antragstellerin nicht im erforderlichen Umfang.
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Danach stellt der Hersteller sicher, dass das genehmigte Qualitätssicherungssystem für die Herstellung angewandt wird und dass die betreffenden Produkte nach Maßgabe des Abschnitts 3 einer Endkontrolle unterzogen werden. Alle Einzelheiten, Anforderungen und Vorkehrungen, die der Hersteller für sein Qualitätssicherungssystem zugrunde legt, müssen in eine systematisch geführte und nach Strategien und schriftlichen Verfahrensanweisungen geordnete (gelenkte) Dokumentation aufgenommen werden. Diese Dokumentation über das Qualitätssicherungssystem muss eine einheitliche Interpretation der Qualitätssicherungsstrategie und -verfahren, beispielsweise in Form von Programmen, Plänen, Handbüchern und Aufzeichnungen zur Qualitätssicherung, ermöglichen. Sie umfasst u. a. eine angemessene Beschreibung der Mittel zur Überprüfung der Wirksamkeit des Qualitätssicherungssystems, insbesondere von dessen Eignung zur Sicherstellung der angestrebten Produktqualität, einschließlich der Kontrolle über nichtkonforme Produkte und – falls Herstellung und/oder Endkontrolle und Prüfung des Produkts oder von Produktbestandteilen durch einen Dritten erfolgt – Methoden zur Überwachung der wirksamen Anwendung des Qualitätssicherungssystems und insbesondere Art und Umfang der Kontrollen, denen dieser Dritte unterzogen wird. Auch umfasst die gelenkte Dokumentation eine angemessene Beschreibung der Verfahren und Methoden bei der Sterilisation, der Materialbeschaffung und der Ausarbeitung der relevanten Unterlagen sowie geeignete Untersuchungen und Prüfungen, die vor, während und nach der Herstellung durchgeführt werden unter Angabe ihrer Häufigkeit und der verwendeten Prüfgeräte. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben unterliegt der Hersteller der Überwachung durch eine benannte Stelle gemäß Abschnitt 4. Der Hersteller hat die benannte Stelle, die das Qualitätssicherungssystem genehmigt hat, über alle geplanten wesentlichen Änderungen des Qualitätssicherungssystems zu informieren. Die benannte Stelle prüft die vorgeschlagenen Änderungen und entscheidet, ob das geänderte Qualitätssicherungssystem den Anforderungen nach Abschnitt 3.2 noch entspricht. Sie teilt ihre Entscheidung dem Hersteller nach Erhalt der genannten Informationen mit. Die Mitteilung enthält die Ergebnisse der Prüfung und eine Begründung der Entscheidung.
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Medizinprodukte, die unter genormten Herstellungsbedingungen in Übereinstimmung mit den Anforderungen an Qualitätsmanagementsysteme (für die Antragstellerin ISO 13485:2016) gefertigt wurden, könnten vor der Sterilisation mit Mikroorganismen behaftet sein, wenn auch in geringer Anzahl. Diese Medizinprodukte sind unsteril. Zweck der Sterilisaion ist die Inaktivierung der mikrobiologischen Kontamination und damit die Überführung des Medizinprodukts vom unsterilen in den sterilen Zustand. Die ISO 11135 (ISO 11135:2014+Amd.1:2018 - Deutsche Fassung EN ISO 11135:2014+A1:2019) beschreibt die Anforderungen, die – wenn sie erfüllt werden – ein zur Sterilisation von Medizinprodukten bestimmtes Sterilisationsverfahren mit Ethylenoxid (EO) ergeben, das eine geeignete keimabtötende Aktivität aufweist. Durch die Erfüllung der Anforderungen wird außerdem sichergestellt, dass Validierungen, die nach dieser Internationalen Norm durchgeführt werden, Produkte ergeben, die die für sterile Produkte definierten Anforderungen mit einem hohen Vertrauensgrad erfüllen. Nach Ziff. D.12.3.3 sollte die turnusmäßigen Überprüfung der Prozessqualität (PQ) die Beurteilung dahingehend umfassen, dass das Sterilisationsverfahren für das/die spezielle(n) Produkt(e) gültig bleibt. Zu den im Rahmen der PQ-Prüfung zu berücksichtigenden Faktoren gehört dabei gemäß lit. c) die Bestätigung, dass keine signifikanten Änderungen an Produktausführung, -herstellung und Verpackungsmaterialien, PCD, Lieferanten, Herstellungsort oder -einrichtung, Beladungsmuster oder Herstellungsverfahren erfolgt sind, die die Produktsterilität beeinflussen könnten.Auf der Grundlage dieser Überprüfung sollte die Sterilisationsfachkraft den Umfang der erforderlichen erneuten physikalischen und mikrobiologischen Beurteilung (PPQ und MPQ) bestimmen. Die Überprüfung und die getroffene Entscheidung sollten dokumentiert werden und können im Ergebnis zu einer erneuten umfassenden Beurteilung, keiner erneuten PPQ oder MPQ oder einer reduzierten PPQ bzw. MPQ führen. Eine umfassende Beurteilung bestehend aus PPQ und MPQ ist nach ISO 11135 z. B. nach einer signifikanten Änderung der Produkt-/Verpackungsausführung oder -konfiguration (wodurch eine neue „Worst Case"-Bedingung entsteht), der Verfahrensausführung oder von Ausrüstung/Betriebsmitteln indiziert.
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Diese Vorgaben hat die Antragstellerin nicht eingehalten, indem sie wesentliche Teile der Produktion (Leistungsort) für die Zusammenstellung der von ihr in Verkehr gebrachten Sets in Verpackungseinheiten von der Firma Xxx in die eigenen Produktionsräume in A-Stadt verlegt hat – was eine (der) signifikante(sten) Änderung(en) von Ausrüstung und Betriebsmitteln darstellt – ohne eine umfassende Leistungsbeurteilung mittels PPQ und MPQ durchzuführen und die Änderung der damals benannten Stelle ECM anzuzeigen. Diese Bewertung wird nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass die Setkomponenten laut Gutachten nach wie vor durch die Xxx zur Verfügung gestellt werden. Abzustellen ist bei der Herstellung der Behandlungssets nicht auf die einzelnen Komponenten, sondern auf die Endprodukte (Sets), die durch die Antragstellerin in den Verkehr gebracht und deren Konformität mit den Vorgaben der RL 93/42/EWG mit Blick auf den Herstellungs- und Sterilisationsprozess durch die Konformitätserklärung (hier Zertifikat nach Anhang V) belegt werden soll. Darüber hinaus weist der Antragsgegner zurecht darauf hin, dass die Antragstellerin andere Durchlaufschweißgeräte verwendet, worin ebenfalls eine wesentliche Änderung der Ausrüstung/Betriebsmittel liegt.
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Auch die Änderung des Produktportfolios beim Lohnsterilisierer Yyy GmbH (vgl. Beurteilungsbericht 2019 zur EO-Sterilisation in Anlage 03 zur Antragserwiderung, Beiakte B) hätte mindestens zu einer Überprüfung der Prozessqualität durch eine Sterilisationsfachkraft und einer dokumentierten Bewertung und Entscheidung über die Erforderlichkeit einer neuen Leistungsbeurteilung führen müssen, wobei die ZLG im Beschluss 3.9 B 26 aus November 2014 Mindestinhalte von Validierungsberichten gemäß DIN EN ISO 11135-1 für die Sterilisation mit Ethylenoxid vorgegeben hat. Eine diesen Maßgaben entsprechende Dokumentation findet sich nicht in den von der Antragstellerin eingereichten Unterlagen. Die stichwortartige Anmerkung im o.g. Bericht, dass die Änderung des Produktportfolios keinen Einfluss auf die Validität habe, wird weder den Vorgaben der ISO 11135 noch des Beschlusses 3.9 B 26 der ZLG gerecht und lässt auch keine hinreichende Überwachung der Firma Yyy durch die beauftragende Antragstellerin erkennen.
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Soweit – wie dem Auditbericht vom 3. April 2020 zu entnehmen ist – die Antragstellerin Prozesse an die Firma Ccc als Lohnhersteller delegiert hat, liegt auch hierin eine anzeige- und bewertungspflichtige Änderung von Herstellungsort und -verfahren, welche die Antragstellerin entgegen der aus Anhang V Abschnitt 3.4 RL 93/43/EWG folgenden Verpflichtung gegenüber der damals benannten Stelle nicht angezeigt hat.
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Unabhängig von der Frage, ob auch § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MPDG für die Untersagung des Inverkehrbringens tatbestandlich eine konkrete Gefahr für die öffentliche Gesundheit voraussetzt, folgt bereits aus dem Verstoß gegen die Vorschriften über die Sterilisation bzw. die diesbezüglich einzuhaltenden Qualitätssicherungsmechanismen die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Form der öffentlichen Gesundheit. Es spielt keine Rolle, ob sich eine Gefahr für die Gesundheit von Patienten bisher tatsächlich realisiert hat, was – wie der Antragsgegner zurecht vorträgt – aufgrund der Schwierigkeit eines Kausalitätsnachweises, welches der zahlreich verwendeten Medizinprodukte während eines Eingriffs ggf. eine Infektion ausgelöst hat, kaum feststellbar erscheint. Angesichts des hohen Stellenwerts dieses Schutzguts (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) reicht es aus, dass eine solche Möglichkeit besteht (vgl. zum Verstoß gegen Regelungen über das Aufbereitungsverfahren nach § 4 MPBetreibV nach alter Rechtslage VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14. Februar 2012 – 19 K 1602/09 –, Rn. 32; bestätigt durch OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2012 – 13 A 810/12 – juris). Dabei handelt es sich bei Teilen der Sets um chirurgisch-invasiven Medizinprodukte im Sinne der Regel 7 des Anhangs IX der RL 93/42/EWG, die zur kurzzeitigen Anwendung bestimmt sind und der Klasse IIa zugehören (z. B. Katheterführungsdrähte, Kanülen etc.). Dies geht aus den Beladungsmustern der Sets sowie den Zertifikaten hervor. Diese müssen steril zum Einsatz kommen, weil sie unmittelbar mit offenem Wundgewebe in Kontakt kommen und ihr Einsatz daher im Falle einer Bakterienkontamination eine erhöhte Infektionsgefahr mit – im Einzelfall ggf. schwerwiegenden – Folgen für die Gesundheit der Patienten nach sich zieht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Setbestandteile bestimmungsgemäß unmittelbar in Kontakt mit beispielsweise dem Herzkreislaufsystem kommen, da eine konkrete Gefahr für die Patientengesundheit schon anzunehmen ist, wenn durch den Einsatz der im schlechtesten Fall unsterilen Medizinprodukte die konkrete Möglichkeit einer Infektion und folglich eine konkrete Gefahr für die öffentliche Gesundheit besteht.
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Der Antragsgegner war befugt, der Antragstellerin das Inverkehrbringen gemäß § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MPDG zu untersagen, bis die Validierung des gesamten Herstellungsprozesses entsprechend den grundlegenden Anforderungen des Anhangs I RL 93/42/EWG i. V. m. den hierfür harmonisierten Normen durchgeführt, dokumentiert und von einer benannten Stelle zertifiziert worden ist. Er hat das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt, indem er weder die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten noch von seinem Ermessen in einem dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrach gemacht hat, § 114 Satz 1 VwGO. Dabei war der Antragsgegner angesichts des Vorgehens der Antragstellerin, die eine erneute Validierung und Zertifizierung ihres Herstellungs- und Sterilisationsprozesses seit Aussetzung der Zertifikate durch die MedCert im August 2018 immer wieder verzögert hat und in der Folge auch bereits Produkte zurückrufen musste, nicht gehalten, vor einer Untersagungsverfügung nach § 26 MPG vorzugehen und der Antragstellerin bspw. die Einholung eines Gutachtens aufzugeben. Dies wäre angesichts der durch den Antragsgegner nach obigen Ausführungen bereits zutreffend festgestellten Verstöße auch nicht geeignet gewesen, das mit der Anordnung bezweckte Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit vor den Gefahren der nicht sicher sterilen Medizinprodukten der Antragstellerin zu erreichen.In Anbetracht des hohen Schutzgutes der Patientengesundheit ist die Untersagungsanordnung daher auch mit Blick auf die etwaigen Folgen für die wirtschaftliche Existenz der Antragstellerin und ihre durch Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz geschützte Berufsausübungsfreiheit verhältnismäßig.
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Die sofortige Vollziehung der rechtmäßigen Untersagungsverfügung liegt auch im besonderen öffentlichen Interesse. Die mit der sofortigen Umsetzung der Verfügung einhergehenden wirtschaftlichen Nachteile müssen angesichts der erhöhten Infektionsrisiken bei nicht validierter Herstellung und Sterilisation steril zum Einsatz kommenden Medizinprodukte auch in Ansehung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG einstweilen zurücktreten. Die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits dargelegten Gesundheitsgefahren können insbesondere zum Schutz der Patienten auch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht (länger) verantwortet werden. Das gilt umso mehr, als eine sofortige Betriebsschließung von der Antragstellerin etwa durch eine (vorübergehende) externe Sterilisation und Verpackung ihrer Produkte – wie dies bereits in der Vergangenheit zeitweise der Fall war – abgewendet werden könnte. Auch Versorgungsengpässe sind weder substantiiert dargelegt noch ersichtlich und stehen einer sofortigen Vollziehung mithin nicht entgegen.
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Die Rechtmäßigkeit der Zwangsmittelandrohung ergibt sich aus § 236 Abs. 1 Satz 1, § 237 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 LVwG. Insbesondere die Höhe des für jeden Fall des Verstoßes angedrohten Zwangsgeldes, das nach § 237 Abs. 3 LVwG mindestens 15, höchstens 50.000 € beträgt, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Das Ermessen über die Höhe eines anzudrohenden Zwangsgeldes ist auszuüben mit der Tendenz einer unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit größtmöglichen Effektivität in der Verwirklichung der zu vollziehenden Ordnungsverfügung. Dem wird das angedrohte Zwangsgeld in Höhe von 1.500 € für jeden Fall der Zuwiderhandlung gerecht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 und 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz, wobei die Bedeutung der Sache anhand des wirtschaftlichen Interesses der Antragstellerin zu ermitteln ist, für das konkrete Anhaltspunkte nicht vorliegen. Das wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin ist jedoch – auch aufgrund etwaiger Folgewirkungen – als hoch einzuschätzen, sodass ein Streitwert von 100.000,00 € angemessen erscheint. Dieser war sodann in Anwendung von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom 18. Juli 2013 zu halbieren.
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Referenzen
- § 237 Abs. 3 LVwG 1x (nicht zugeordnet)
- MPG § 26 Durchführung der Überwachung 4x
- § 78 MPDG 1x (nicht zugeordnet)
- § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MPDG 2x (nicht zugeordnet)
- 4 RL 93/43 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 4x
- V der RL 93/42 3x (nicht zugeordnet)
- 3 MB 2/21 1x (nicht zugeordnet)
- 12 RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- MPG § 8 Harmonisierte Normen, Gemeinsame Technische Spezifikationen 3x
- 3 RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- I der RL 93/42 2x (nicht zugeordnet)
- VII der RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- § 77 MPDG 2x (nicht zugeordnet)
- V RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- 13 LB 135/19 1x (nicht zugeordnet)
- MPG § 18 Einschränkung, Aussetzung und Zurückziehung von Bescheinigungen, Unterrichtungspflichten 1x
- VwGO § 114 1x
- § 237 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 LVwG 1x (nicht zugeordnet)
- MPBetreibV § 4 Allgemeine Anforderungen 1x
- 13 A 810/12 1x (nicht zugeordnet)
- MPG § 10 Voraussetzungen für das erstmalige Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Systemen und Behandlungseinheiten sowie für das Sterilisieren von Medizinprodukten 2x
- MPG § 28 Verfahren zum Schutze vor Risiken 5x
- MPG § 3 Begriffsbestimmungen 1x
- 4 der RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 2/17 1x
- §§ 17 f. MPG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 der RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- I RL 93/42 2x (nicht zugeordnet)
- 13 B 1250/14 1x (nicht zugeordnet)
- IX der RL 93/42 1x (nicht zugeordnet)
- MPG § 4 Verbote zum Schutz von Patienten, Anwendern und Dritten 1x
- § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 1. Alt. MPDG 2x (nicht zugeordnet)
- MPG § 37 Verordnungsermächtigungen 1x
- 19 K 1602/09 1x (nicht zugeordnet)