Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 100/21

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ausweisungsverfügung vom 14.10.2021 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Ausweisungsverfügung.

2

Er ist türkischer Staatsangehöriger und wurde im Jahr 1983 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Er absolvierte die Grund- und Förderschule in Deutschland.

3

In den Jahren 1998 bis 2000 wurde der Antragsteller als Jugendlicher mehrfach wegen verschiedener Straftaten angeklagt, darunter mehrfach wegen Diebstahls, Diebstahls mit Waffen, Körperverletzung, Betäubungsmitteldelikten, Hausfriedensbruchs und schweren Raubes. Er wurde in der Folge zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

4

Die Schwester des Antragstellers informierte die Antragsgegnerin darüber, dass der Antragsteller wegen eines Suchtproblems im November 2003 in die Türkei ausgereist sei. Er kehrte im Juni 2004 mit einem Visum wieder zurück in die Bundesrepublik. Er erhielt eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG.

5

Im Jahr 2005 wurde der Antragsteller wegen Hausfriedensbruchs zu einer Geldstrafe verurteilt. Im gleichen Jahr wurde er wegen unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt.

6

Im Jahr 2006 wurde er wegen Sachbeschädigung in Tateinheit mit Einbruchsdiebstahl zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen verurteilt.

7

Ab 2006 wurden dem Antragsteller fortlaufend Aufenthaltserlaubnisse nach § 34 AufenthG erteilt.

8

Im Jahr 2007 wurde er wegen Diebstahls und Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

9

Im Jahr 2008 wurde der Antragsteller wegen Unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe verurteilt.

10

2009 und 2010 wurde er jeweils erneut wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe verurteilt.

11

Im Jahr 2012 wurde der Antragsteller wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Auch diese Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

12

2013 wurde er wegen unerlaubten Besitzes von verbotenen Gegenständen und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlichem Führen eines nicht versicherten Kraftfahrzeuges jeweils zu Geldstrafen verurteilt.

13

Im Jahr 2015 wurde er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wobei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

14

2017 wurde der Antragsteller zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt wegen unerlaubten Anbaus von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln, unerlaubtem Besitz von Gegenständen, unerlaubtem Besitz von Munition, unerlaubtem Besitz einer Schusswaffe und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis. Die Vollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt.

15

Im Jahr 2019 wurde er wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe verurteilt.

16

Zuletzt wurde der Antragsteller am 20.01.2021 vom Landgericht B-Stadt wegen versuchten Raubes und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Antragsteller wurde in einer Entziehungsanstalt untergebracht.

17

Mit Bescheid vom 14.10.2021 erließ die Antragsgegnerin eine Ausweisungsverfügung, forderte den Antragsteller nach Haftentlassung bzw. Entlassung aus der Fachklinik zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland auf und drohte ihm bei Zuwiderhandlung die Abschiebung in die Türkei an. Zusätzlich ordnete sie die sofortige Vollziehung der Entscheidung an. Außerdem wurde die Wiedereinreise für sieben Jahre ab der Ausreise untersagt. Die Ausweisung wurde damit begründet, dass der Antragsteller durch seine letzte Verurteilung ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse verwirklicht habe. Dieses überwiege sein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse. Er sei zwar faktischer Inländer, habe aber wiederholt und andauernd Straftaten verübt, sodass das öffentliche Interesse überwiege. Die Anordnung des Sofortvollzuges wurde damit begründet, dass davon auszugehen sei, dass der Antragsteller bei seiner Entlassung aus der Haft erneut straffällig werde.

18

Mit Schreiben vom 25.10.2021 legte der Antragsteller Widerspruch ein. Die Taten, für die er verurteilt wurde, seien auf eine Suchterkrankung zurückzuführen. Das Landgericht B-Stadt habe in seinem Urteil erkannt, dass durch die Unterbringung in der Entziehungsanstalt eine Behandlung erfolgreich sein werde. Ihm komme daher eine positive Prognose zu Gute. Weiterhin habe er zwei minderjährige deutsche Kinder. Er pflege regelmäßige Umgangskontakte zu seinem älteren Sohn und habe auch zu der Kindesmutter ein gutes Verhältnis. Der 2019 geborene Sohn entstamme seiner Ehe. Für seinen älteren Sohn habe er regelmäßigen Unterhalt geleistet. Ferner sei er regemäßig beschäftigt gewesen, zuletzt beim xxx in Festanstellung. Er habe keine familiären Kontakte in die Türkei und sei ein faktischer Inländer. Aus diesen Gründen überwiege sein Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse erheblich.

19

Am 25.10.2021 hat der Antragsteller um Eilrechtsschutz nachgesucht. Er trägt im Wesentlichen vor, dass die Antragsgegnerin es unterlassen habe, die Interessen seiner deutschen Ehefrau und seiner Kinder angemessen zu würdigen. Er sei trotz seiner Suchterkrankung arbeitsfähig gewesen und sei einer geregelten Tätigkeit nachgegangen. Die Therapie setze er bis heute fort und habe sie nicht abgebrochen. Er erhalte regelmäßig Besuch von seiner Ehefrau und seinem Sohn.

20

Er beantragt,

21

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 14.10.2021 anzuordnen.

22

Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

24

Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass der Antragsteller unbelehrbar sei. Nachdem er wegen einer Straftat verurteilt worden war, habe er wiederholt die gleiche Straftat erneut begangen. Er ließe sich nicht von der deutschen Justiz beeindrucken. Die Straftaten des Antragstellers würden sich außerdem allmählich zuspitzen. Dabei sei auch nicht außer Acht zu lassen, dass auch Straftaten mit Waffen keine Seltenheit beim Antragsteller seien. Aufgrund seiner Freiheitsstrafen habe die Familie des Antragstellers ohnehin ohne ihn zurechtkommen müssen und dies scheine auch zu gelingen. Sie seien daher auch in Zukunft nicht auf ihn angewiesen.

25

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

26

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.

27

Der Antrag des Antragstellers wird gemäß §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO dahingehend ausgelegt, dass er beantragt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 25.10.2021 gegen die Ausweisungsverfügung vom 14.10.2021 wiederherzustellen. Dies ergibt sich daraus, dass er sämtlichen Vortrag in dem gerichtlichen Eilverfahren sowie im Widerspruchsverfahren gegen die Ausweisung richtet.

28

Der so ausgelegte Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft, da der am 25.10.2021 eingelegte Widerspruch wegen der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung entfaltet.

29

Der Antrag ist auch begründet.

30

Die in der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 14.10.2021 enthaltene Begründung zur sofortigen Vollziehung genügt in formeller Hinsicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Hiernach ist in den Fällen der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung ist nicht bereits genügt, wenn überhaupt eine Begründung gegeben wird. Es bedarf vielmehr einer schlüssigen, konkreten und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat (BVerwG, Beschluss vom 18. September 2001 – 1 DB 26.01 –, juris Rn. 6). Die zuständige Antragsgegnerin ist der gesetzlichen Verpflichtung, die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu begründen, in ausreichendem Maße nachgekommen. Ihre Ausführung, weshalb eine sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse geboten ist, erschöpft sich nicht in formelhaften Ausführungen oder einem Verweis auf den Wortlaut des § 80 Abs. 3 VwGO. Ein hinreichender Einzelfallbezug sowie die Darlegung der Dringlichkeit sind gegeben, da in der Begründung konkret auf die erhöhte Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller abgestellt wird.

31

Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2016 – 1 B 1375/15 –, juris Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.08.1991 – 4 M 109/91 –, SchlHA 1991, 220).

32

Es besteht schon kein besonderes Vollziehungsinteresse i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO. Für das Vorliegen des besonderen Vollziehungsinteresses kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (Bayerischer VGH, Beschluss vom 02. August 2021 – 19 CS 21.330 –, juris Rn. 2). Die gesetzliche Wertung des § 80 Abs. 1 VwGO geht davon aus, dass Widerspruch und Klage regelmäßig aufschiebende Wirkung haben. Dies dient dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Dieses Gebot verleiht dem Bürger einen substantiellen Anspruch auf Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne einer tatsächlichen wirksamen gerichtlichen Kontrolle. Irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, sollen soweit wie möglich ausgeschlossen werden. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet die aufschiebende Wirkung jedoch nicht schlechthin. Vielmehr können überwiegende öffentliche Belange es auch vor der Verfassung rechtfertigen, den Rechtsschutz des einzelnen einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08. April 2010 – 1 BvR 2709/09 –, juris Rn. 22; OVG Schleswig, Beschluss vom 18. Juni 2020 – 4 MB 21/20 –, juris Rn. 4). Die Anordnung des Sofortvollzugs als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden, akuten Gefahren kann auch schon vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens erforderlich sein (Bayerischer VGH, Beschluss vom 02. August 2021 – 19 CS 21.330 –, juris Rn. 36 m.w.N.).

33

Gemessen an diesen Maßstäben liegt kein besonderes Vollziehungsinteresse vor. Der Antragsteller befindet sich seit dem 25.02.2021 in einer Entziehungsanstalt. Er wurde durch das Landgericht B-Stadt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Außerdem wurde er zuvor durch das Amtsgericht B-Stadt zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt, deren Strafaussetzung mittlerweile widerrufen worden ist. Die Ausweisung durch die Antragsgegnerin erfolgte am 14.10.2021. Zwar ist die Erforderlichkeit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung regelmäßig dann zu bejahen, wenn die Ausweisung von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bereich der Spezialprävention getragen wird, die nicht nur langfristig, sondern auch schon während des Klageverfahrens Geltung beanspruchen kann (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 21. Mai 2021 – 19 CS 20.2977 –, juris Rn. 44 m. w. N.). Allerdings geht selbst die Antragsgegnerin nicht von einer solchen unmittelbar erforderlichen Vollziehung aus. Denn statt einer Ausweisung aus der Strafhaft heraus, hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Ausreisefrist von zwei Wochen gesetzt, die erst nach der Haftentlassung bzw. der Entlassung aus der Fachklinik zu laufen beginnt. Eine solche ist aber nach Angaben der Antragsgegnerin erst ab dem 16.06.2025 zu erwarten. Es besteht daher ausreichend Zeit für die Durchführung eines etwaigen Hauptsacheverfahrens. Soweit die Antragsgegnerin befürchtet, dass der Antragsteller in der Zeit nach seiner Haftentlassung Straftaten begehen könnte, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Zum Zeitpunkt der Anordnung der sofortigen Vollziehung bestand jedenfalls kein Anlass und keine Dringlichkeit dafür, den Rechtsschutz des Antragstellers bereits – gewissermaßen auf Vorrat – zu verkürzen. Es bestehen derzeit auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass es zu akuten Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens kommen wird. Diese Anhaltspunkte könnten sich etwa ergeben, wenn die Haftentlassung des Antragstellers unmittelbar bevorstünde und eine gerichtliche Hauptsacheentscheidung noch auf unbestimmte Zeit ausstünde oder wenn sich trotz Inhaftierung konkrete Anhaltspunkte für Straftaten aus oder in der Haft ergeben. In diesen Fällen könnte eine Situation entstehen, in der die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller durch Erlass einer Anordnung der sofortigen Vollziehung zu verhindern wäre. Selbst unter den Voraussetzungen der §§ 67 Abs. 5 Satz 1, 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 StGB, unter denen der Antragsteller ab etwa 2024 wieder auf freiem Fuß wäre, stünde der Antragsgegnerin ausreichend Zeit zur Verfügung, auf diese Situation zu reagieren.

34

Da schon kein besonderes Vollziehungsinteresse der Ausweisung ersichtlich ist, kann die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung an dieser Stelle offenbleiben.

35

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.


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