Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 1/22

Tenor

&7622 Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerinnen wenden sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine ihnen drohende Abschiebung.

2

Die Antragstellerin zu 1) sowie ihre Tochter, die Antragstellerin zu 2), sind türkische Staatsangehörige. Sie reisten am 01.05.2017 mit einem Visum zu dem damaligen Ehemann der Antragstellerin zu 1) nach Deutschland ein. Die Antragstellerin zu 1) erhielt am 31.07.2017 zunächst eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, gültig bis zum 28.08.2020.

3

Mit Bescheid vom 29.05.2018 befristete die Antragsgegnerin wegen der Auflösung der ehelichen Gemeinschaft die Aufenthaltserlaubnis nachträglich auf das Datum der Rechtskraft des Bescheides (Ziffer 1). Die gemäß § 31 AufenthG beantragte Aufenthaltserlaubnis wurde abgelehnt (Ziffer 2). Der Antragstellerin zu 1) wurde eine Ausreisefrist von einem Monat nach Zustellung des Bescheides gesetzt (Ziffer 3). Zugleich wurde ihr die Abschiebung gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG in die Türkei angedroht bzw. in einen anderen Staat, in den sie einreisen darf und der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 4). Der Bescheid, zugestellt am 29.05.2018, wurde nicht angefochten und erging damit in Bestandskraft.

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In der Folgezeit erhielten die Antragstellerinnen eine Duldung.

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Die Antragstellerin zu 1) reichte im weiteren Verlauf bei der Antragsgegnerin einen Befundbericht von Dr. ... (Praxis für Psychotherapie) vom 21.01.2020 ein. Danach leidet sie an einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10; F32.1), einer generalisierten Angststörung (F41.1), einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.40). Seit dem 01.08.2018 befände sie sich in psychotherapeutischer Langzeitbehandlung. Bei einem Abbruch der kombinierten Behandlungen seien prognostisch erhebliche akute Belastungsreaktionen und damit eine Beschwerdezunahme zu erwarten. Dabei würde sie im Falle einer Rückführung „wohl handlungsunfähig“ sein. Ein weiterer, ergänzender Befundbericht des Arztes vom 18.08.2020 bestätigte die Diagnosen.

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Am 08.06.2021 beantragte die Antragstellerin zu 1) eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG. Eine von der Antragsgegnerin hieraufhin eingeholte amtsärztliche Stellungnahme vom 22.07.2021 zur Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1) gelangte zu dem Ergebnis, dass eine anstehende Abschiebung der Antragstellerin zu 1) zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen könne und daher während einer Rückführung eine professionelle Begleitung vorhanden sein solle. Eine Transportfähigkeit sei gegeben. Werde Reisefähigkeit im erweiterten Sinne verstanden, so seien medizinische Bedenken zu beachten. Im Hinblick auf die Veränderung der äußeren Umstände und/oder des sozialen Umfelds könne es zu einer Dekompensation und zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes kommen. Die Zumutbarkeit einer Abschiebung wurde offengelassen.

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Mit Bescheid vom 18.08.2021 lehnte die Antragsgegnerin den von der Antragstellerin zu 1) gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG ab. Zur Begründung hieß es, die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor. Es läge keine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise vor. Gemäß der Stellungnahme des ... Amtes für Gesundheit vom 22.07.2021 sei die Antragstellerin zu 1) reise- und transportfähig. Damit sei ihr jederzeit die freiwillige Ausreise in die Türkei möglich. Die 11-jährige Antragstellerin zu 2) befände sich seit vier Jahren in Deutschland. Allein der Schulbesuch stelle keine besondere Härte dar.

8

Den hiergegen eingelegten Widerspruch, der sich im Wesentlichen auf die in der amtsärztlichen Stellungnahme geäußerten Bedenken bezog, lehnte die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 28.10.2021, der Antragstellerin zu 1) am 02.11.2021 zugestellt, ab. Zur Begründung hieß es, die von der Antragstellerin zu 1) eingereichten Unterlagen hätten dem ... Amt für Gesundheit vollständig vorgelegen. Daher sei die amtsärztliche Stellungnahme verwertbar. Bei einer Rückführungsmaßnahme werde zudem ein Arzt anwesend sein, der die Personen, die medizinischer Behandlung bedürften nach Ankunft im Heimatland einem anwesenden Arzt übergebe. Die medizinische Betreuung bei der Rückführungsmaßnahme und im Heimatland sei daher sichergestellt.

9

Die Antragstellerinnen waren zuletzt im Besitz einer Duldung, gültig bis zum 23.05.2022.

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Die Antragstellerinnen haben am 02.12.2021 Klage erhoben (11 A 10023/21).

11

Sie haben sodann am 04.01.2022 einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, nachdem die Antragsgegnerin am selben Tag einen Abschiebeversuch unternommen hatte, der an der Corona-Infektion der Antragstellerin zu 1) gescheitert war.

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Sie tragen vor, die Antragstellerin zu 1) habe erhebliche gesundheitliche Beschwerden. Sie sei weiterhin alle zwei bis drei Monate beim Arzt und werde medikamentös behandelt. Aufgrund der gesundheitlichen Beschwerden könne sie auch nicht arbeiten. Sie habe erhebliche Rückenschmerzen. In der Türkei wären die Antragstellerinnen auf sich allein gestellt. Ihre Familie habe sich von ihnen abgewandt, da die Ehe der Antragstellerin zu 1) gescheitert sei. Inzwischen habe die Antragstellerin zu 1) sogar Morddrohungen erhalten, weil sie die Familienehre beschmutzt habe.

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Als Nachweis reichte die Antragstellerin zu 1) erneut einen Befundbericht der Praxis für Psychotherapie von Dr. ... vom 06.01.2022 ein, aus dem unter anderem hervorgeht, dass eine akute Belastungsstörung mit Beschwerdezunahme vorläge. Es seien diesbezüglich mehrere Telefonate geführt worden. Als Diagnosen finden sich: chronische Schmerzstörung, depressive Angststörung, Somatisierungsstörung, reduzierte Merkfähigkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, eingeschränktes Umstellungs- und Änderungsvermögen, Anpassungsprobleme, erheblich reduzierte psycho-physische Belastbarkeit, Schwindelsyndrom, „Tinnitus dem Boden einer emotional-instabilen und ängstlich-dysthymen Persönlichkeitsstruktur“. In Verbindung damit lägen vor: Fibromyalgiesyndrom, LWS-Syndrom, Skoliose, Hypothyreose, Anämie, chronisches Schmerzsyndrom. Als Medikamente sind aufgeführt: Sertralin Accord, Duloxetin, Cetirizin, Ibuprofen. Weiter heißt es, dass unter der Bedrohung der Progredienz der Symptomatik die Patientin aufgrund der multiplen Erkrankungen fast handlungsunfähig zu sein scheine. Aufgrund der multiplen Funktionseinschränkungen sei die Antragstellerin zu 1) im Alltag und im Haushalt ganz und partiell auf externe Hilfe angewiesen. Wegen der psychischen Labilität sei bei Belastungen mit weiteren psychischen Dekompensationen zu rechnen. Weiter reichte die Antragstellerin einen handschriftlichen Vermerk ein, notiert auf dem vorgenannten Befundbericht, von Dr. med. ..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Ein weiterer Befundbericht von Dr. ... vom 05.02.2022 führt ergänzend aus, es sei eine Beschwerdezunahme festzustellen. Es bestehe die Indikation für die kontinuierliche Durchführung der Behandlungen.

14

Die Antragstellerinnen beantragen wörtlich,

15

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 02.12.2021 gegen die Abschiebeanordnung der Antragsgegnerin anzuordnen.

16

Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

18

Sie trägt vor, der ärztliche Befundbericht erfülle nicht die Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG und könne daher die gesetzliche Vermutung des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, dass gesundheitliche Gründe der Abschiebung nicht entgegenstünden, nicht entkräften. Es würden zum Schweregrad der Erkrankung lediglich Vermutungen angestellt und auch die Erkrankung werde nicht klassifiziert. Auch zu den konkret zu erwartenden Folgen der Abschiebung äußere sich der Befundbericht nicht.

19

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

20

Der Antrag ist nur teilweise statthaft und, soweit er statthaft ist, unbegründet.

21

1. Der Antrag der Antragstellerinnen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die – offensichtlich gemeinte – Abschiebungsandrohung ist zwar grundsätzlich als Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO statthaft, weil gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG der Widerspruch gegen Maßnahmen, die in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden – dazu gehört auch der Erlass einer Abschiebungsandrohung – keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 23.09.2021 – 1 B 112/21 –, Rn. 6, juris). Allerdings enthält, anders als der Wortlaut des Antrags suggeriert, weder der streitgegenständliche Bescheid noch der Widerspruchsbescheid eine (weitere) Abschiebungsandrohung. Vielmehr ist eine solche nur in dem bestandskräftigen Bescheid vom 29.05.2018 enthalten. Ein Eilantrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, der einen solchen bestandskräftigen Verwaltungsakt zum Gegenstand hat, ist aber unstatthaft (vgl. VGH München Beschluss vom 17.12.2021 – 10 AS 21.2683, BeckRS 2021, 41394 Rn. 1, beck-online).

22

2. Und auch, wenn der Antrag der Antragstellerinnen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gemäß §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO dahingehend auszulegen wäre, dass sie beantragen, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bis zur Entscheidung über die Klage in der Hauptsache vorläufig verschont zu bleiben, da es im Ergebnis ihrem Begehren entspricht, während des Laufes des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens nicht abgeschoben zu werden, so ist dieser Antrag teilweise unstatthaft und hat im Übrigen jedenfalls in der Sache keinen Erfolg.

23

Soweit sich der Antrag auf Duldungsgründe sowie einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG bezieht, ist dieser zunächst als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wäre diesbezüglich nur dann statthaft, wenn die Versagung des Aufenthaltstitels ein zunächst eingetretenes fiktives Bleiberecht nach § 81 AufenthG beendet hat, wenn also der Aufenthalt nach Stellung des Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 81 AufenthG zunächst als erlaubt oder als geduldet galt, d.h. die gesetzliche Erlaubnis- oder Duldungsfiktion ausgelöst hat (Dittrich/Breckwoldt in HTK-AuslR / Rechtsschutz / 2.1.3, Stand: 23.09.2019, Rn. 30 ff. m.w.N.). Zwar lebt im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG nicht (wieder) auf, denn die behördliche Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, der nach der Konzeption des Gesetzgebers unbeschadet einer gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers beendet (OVG Magdeburg, Beschluss vom 22.01.2007 – 2 M 318/06 –, juris Rn. 4 m.w.N.; VG Schleswig, Beschluss vom 26.11.2018 – 1 B 115/18 –, juris, Rn. 21). Allerdings würde die Einstellung des Vollzugs nach § 241 Abs. 1 Nr. 3 LVwG erreicht werden können, sodass der beantragte Rechtsbehelf nicht nutzlos wäre. Deshalb wäre in diesen Fällen § 80 Abs. 5 VwGO der zutreffende Rechtsbehelf (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25.07.2011 – 4 MB 40/11 –, juris Rn. 10; VG Schleswig, Beschluss vom 09.01.2019 – 1 B 137/18 –, juris, Rn. 6). Die Antragstellerinnen können sich aber weder auf § 81 Abs. 3 AufenthG noch auf § 81 Abs. 4 AufenthG berufen, da sie zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis bereits aufgrund der Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 29.05.2018 vollziehbar ausreisepflichtig waren. Einer ihnen drohenden Abschiebung ist daher nur durch Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO entgegenzuwirken.

24

Der Antrag ist allerdings unbegründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.

25

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Antragstellerinnen haben keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es ist nicht ersichtlich, dass den Antragstellerinnen auf der Grundlage ihres Vorbringens eine Duldung (a.) oder eine Aufenthaltserlaubnis (b.) zu erteilen sein könnte.

26

a. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist.

27

Weder eine rechtliche noch eine tatsächliche Unmöglichkeit wurde von den Antragstellerinnen glaubhaft gemacht.

28

Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung, die hier allein in Betracht kommt, ergibt sich insbesondere nicht aus einer Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1). Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann gegeben sein, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich der Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht und die Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Eine Abschiebung muss auch unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bedeutet. Dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) (BeckOK AuslR/Kluth/Breidenbach, AufenthG, 32. Ed., Stand: 01.01.2022, § 60a, Rn. 13).

29

Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten, § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG. Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zur prognostischen Diagnose kommt und welche Tatsachen dieser zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. VGH München, Beschluss vom 23.08.2016 – 10 CE 15.2784 –, Rn. 16, juris m. w. N.)

30

Nach diesen Maßstäben – und den im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes allein zu berücksichtigenden präsenten Beweismitteln und glaubhaft gemachten Tatsachen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 19.03.2013 – 8 ME 44/13 –, juris, Rn. 5) – hat die Antragstellerin zu 1) die gesetzliche Vermutung nicht widerlegt.

31

Den von der Antragstellerin zu 1) eingereichten ärztlichen Befundberichten lässt sich weder entnehmen, dass sie transportunfähig ist, noch, dass eine Abschiebung für sie eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bedeuten könnte. Der im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens eingereichte Befundbericht erhält eine Vielzahl von aneinandergereihten Befunden ohne lateinische Bezeichnung und ohne Angabe des ICD-Codes. Weder die Grundlagen der Diagnosestellung noch die seit 2018 durchgeführten Therapiemaßnahmen werden im Einzelnen benannt. Auch heißt es nur vage, „andere fachärztliche Kombinationsbehandlungen“ würden durchgeführt, ohne dass hier eine Konkretisierung erfolgt, die im Falle anderer fachärztlicher Konsultationen und erfolgter Behandlungsmaßnahmen zu erwarten gewesen wäre. Aber auch selbst wenn die ICD-Diagnosen aus den älteren Befundberichten aus dem Jahr 2020 ergänzend herangezogen werden, leidet der Befundbericht – ebenso wie die älteren Berichte – daran, dass diesem keine konkreten Folgen im Hinblick auf zu erwartende erhebliche Gesundheitsgefahren zu entnehmen sind. Hierzu heißt es lediglich pauschal, dass bei Belastungen mit einer weiteren psychischen Dekompensation zu rechnen sei. Was hieraus wiederum folgen soll, lässt der Bericht offen. Und auch die nicht weiter präzisierten Aussagen, die Antragstellerin zu 1) sei „nahezu handlungsunfähig“ und sei „teilweise im Alltag und im Haushalt ganz und partiell auf externe Hilfe angewiesen“, lassen keinen Schluss auf mögliche gesundheitsgefährdende Folgen einer Abschiebemaßnahme zu. Soweit sich auf dem zweiten Befundbericht eine weitere fachärztliche Einschätzung von Dr. ... findet, so ist anzumerken, dass diese nur schwer leserlich ist. Soweit lesbar schließt sich der Facharzt der Einschätzung von Dr. ... an, führt aber gleichzeitig weiter aus, dass die Antragstellerinnen in der Türkei weder ein soziales, noch finanzielles oder (möglicherweise gemeint: medizinisches) Netz haben. Die Familie habe sie verstoßen, weil sie das zweite Mal geheiratet habe und dies als unmoralisch bewertet werde. Eine Dekompensation zeichne sich schon jetzt ab. Wie der Arzt dann jedoch – sofern die Kammer die Schrift zutreffend entziffert hat – zu der Einschätzung gelangt, dass eine lebensbedrohliche Situation absehbar sei, so ist dies nicht ansatzweise nachvollziehbar. Zum einen wird bereits nicht deutlich, ob und in welchem Zeitfenster der Arzt die Antragstellerin zu 1) ärztlich betreut hat. Zum anderen lässt sich der handschriftlichen Notiz nicht entnehmen, auf welcher (eigenen) Diagnosestellung der Arzt zu der Einschätzung einer lebensbedrohlichen Situation gelangt und ob sich diese Schlussfolgerung auf die medizinischen Folgen oder – zielstaatsbezogen – auf die familiären Umstände in der Türkei stützt.

32

Der amtsärztlichen Stellungnahme, die eine professionelle Begleitung während der Rückführung sowie die Übergabe an kompetente Betreuungspersonen für erforderlich hält, äußert zwar Bedenken, dass es im Hinblick auf die Veränderung der äußeren Umstände bzw. des sozialen Umfeldes zu einer Dekompensation und zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes kommen könne, überlässt die Zumutbarkeit einer Bewertung dieses Umstandes jedoch letztlich den Gerichten. Mangels eigener ärztlicher Einschätzung ist diese Stellungnahme insoweit ebenfalls nicht geeignet, die gesetzlich vermutete Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1) zu erschüttern, zumal die Antragsgegnerin bereits zugesagt hat, die Abschiebung unter ärztlicher Aufsicht stattfinden zu lassen.

33

Tatsächliche Anhaltspunkte, die eine weitere Sachaufklärung (§ 60a Abs. 2d Satz 2 Halbsatz 2 AufenthG) erfordern würden, liegen angesichts fehlenden Vortrags zu konkret zu erwartenden Gesundheitsgefahren im Rahmen einer Abschiebemaßnahme nicht vor. Insbesondere ist weder vorgetragen noch sonst erkennbar, weshalb die durch die Antragsgegnerin getroffenen Sicherheitsvorkehrungen einer möglichen Gesundheitsverschlechterung nicht ausreichend begegnen sollten.

34

Eine rechtliche Unmöglichkeit ergibt sich ferner nicht aus dem Vortrag der Antragstellerin zu 1), sie habe Morddrohungen durch Familienmitglieder erhalten, weil sie die Familienehre beschmutzt habe. Hierbei handelt es sich um ausschließlich zielstaatsbezogenen Vortrag, der im vorliegenden Verfahren nicht zu berücksichtigen ist. Zwar ist die Ausländerbehörde nach § 72 Abs. 2 AufenthG gehalten, im Falle des Vortrags zu zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen die besondere Sachkunde des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu nutzen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zu 1) mit ihrem Vortrag materielle Asylgründe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG geltend macht. Für die materielle Bewertung ist aber ausschließlich das Bundesamt und nicht die Antragsgegnerin zuständig. Dies gilt gleichsam für die Prüfung zugleich geltend gemachter Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG, § 24 Abs. 2 AsylG (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom 19.11.2020 – 18 B 1639/20 –, juris, Rn. 14, 16). Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG hier ausnahmsweise eine einstweilige Anordnung gegenüber der Antragsgegnerin erfordern könnte.

35

b. Aus den vorgenannten Gründen ist auch kein grundsätzlich sicherungsfähiger Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG glaubhaft gemacht worden. Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Insoweit wird hinsichtlich der tatsächlich oder rechtlichen Unmöglichkeit auf die obigen Ausführungen verwiesen.

36

3. Soweit im Rahmen der weitestmöglichen Auslegung des Antrags dieser sich auch auf den Hauptantrag im Klageverfahren und damit einen nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu sichernden Anspruch gemäß § 31 Abs. 2 AufenthG beziehen soll, so ist dieser Antrag bereits unstatthaft. Denn der Antrag wurde, wie unter Ziffer 1 ausgeführt, mit Bescheid vom 29.05.2018 bestandskräftig abgelehnt und ein neuer Antrag bislang bei der Antragsgegnerin nicht gestellt. In diesen Konstellationen fehlt es grundsätzlich am Rechtsschutzbedürfnis, da der Bürger gehalten ist, sein Begehren zuvor bei der zuständigen Verwaltungsbehörde vorzutragen (vgl. NK-VwGO/Adelheid Puttler, 5. Aufl. 2018, VwGO § 123 Rn. 70). Die Antragstellerin zu 1) hat überdies auch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, da es hierzu an jeglichem Vortrag fehlt.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 GKG.


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