Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 69/22

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Widerruf ihrer Duldung.

2

Die 1977 in Armenien geborene Antragstellerin ist armenischer Staatsangehörigkeit. Sie leidet unter einer chronischen Niereninsuffizienz und ist aus diesem Grund auf Medikamente angewiesen. Im Jahr 2016 reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte im März 2017 einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 25.10.2017 vollumfänglich abgelehnt wurde. Eine hiergegen erhobene Klage wurde durch Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 07.04.2021 (Az. 8 A 14/18) abgewiesen. Das Urteil ist seit dem 11.05.2021 rechtskräftig.

3

Mit Schreiben vom 25.06.2021 wies die Antragsgegnerin die Antragstellerin darauf hin, dass sie infolge des rechtskräftigen Urteils seit dem 11.06.2021 vollziehbar ausreisepflichtig sei und ordnete eine Vorsprache zur Durchführung eines Gesprächs über die Ausreisebereitschaft und die Modalitäten der Abschiebung an. Im Zuge der daraufhin stattfindenden Gespräche erklärte die Antragstellerin, keine Reisedokumente zu haben. Sie machte darüber hinaus geltend, nicht reisefähig zu sein. Mit Schreiben vom 20.07.2021 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zur Abgabe einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung über die Erkrankungen, die eine Abschiebung beeinträchtigen können, auf.

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Noch am selben Tag, dem 20.07.2021, erteilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin aufgrund der fehlenden Reisedokumente eine Duldung. In der Folgezeit wurde die Duldung zweimal mit derselben Begründung verlängert, zuletzt am 22.02.2022 bis zum 12.05.2022.

5

Im Rahmen einer Vorsprache am 22.02.2022 legte die Antragstellerin einen Arztbericht des xxx in A-Stadt vor. Die Antragsgegnerin wies die Antragstellerin darauf hin, dass dieser Arztbericht keinen Aufschluss über ihre Reisefähigkeit gebe und erläuterte ihr, dass es ihr obliege, unverzüglich eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung i.S.d. § 60a Abs. 2d AufenthG vorzulegen. Andernfalls sei ihr Vorbringen zur Reisefähigkeit nicht zu berücksichtigen. Die Antragsgegnerin wies die Antragstellerin darüber hinaus darauf hin, dass ein Amtshilfeersuchen unter anderem zur Passersatzpapierbeschaffung laufe.

6

Eine weitere ärztliche Bescheinigung legte die Antragstellerin in der Folgezeit zunächst nicht vor. Am 09.03.2022 teilte Herr Dr. xy, der behandelnde Arzt der Antragstellerin, der Antragsgegnerin im Rahmen eines Telefonats mit, dass die Antragstellerin reisefähig sei, jedoch die medizinische Versorgung im Heimatland sichergestellt werden müsse. Er teilte weiter mit, dass er ein Rezept für die erforderliche medikamentöse Versorgung während der ersten Monate im Heimatland ausstellen wolle (Bl. 207 des Verwaltungsvorgangs).

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Nachdem für die Antragstellerin Passersatzpapiere beschafft worden waren, erklärte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 04.04.2022 den Widerruf der Duldung. Sie führte zur Begründung aus, dass die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe, die fehlenden Reisedokumente, entfallen seien. Die Aussetzung der Abschiebung sei daher zu widerrufen.

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Mit Schreiben vom 25.04.2022 erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.04.2022. Unter Verweis auf eine ärztliche Bescheinigung des Herrn Dr. xy vom 23.02.2022 machte sie geltend, dass eine Reiseunfähigkeit anzunehmen sei. Darüber hinaus machte sie zielstaatbezogene Abschiebungshindernisse geltend.

9

Am 25.04.2022 hat die Antragstellerin das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht zudem um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Zur Begründung verweist sie auf die Widerspruchsbegründung. In einer späteren Ergänzung verweist sie auf eine weitere Bescheinigung des Herrn Dr. xy vom 29.04.2022. Diese Bescheinigung ist mit der Bescheinigung vom 23.02.2022 nahezu wortgleich. Sie macht darüber hinaus geltend, dass die Antragsgegnerin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hinsichtlich der Frage, ob Abschiebungshindernisse vorliegen, hätte beteiligen müssen.

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Die Antragstellerin beantragt,

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der Antragsgegnerin zu untersagen, Abschiebemaßnahmen durchzuführen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzuweisen.

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Sie meint, der Antrag sei bereits nicht statthaft. Für den Fall einer Umdeutung in einen statthaften Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sei der Antrag jedenfalls unbegründet. Der Widerruf der Duldung sei rechtmäßig erfolgt, da die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe weggefallen seien. Die Reisedokumente lägen vor. Soweit die Antragstellerin nunmehr andere Duldungsgründe geltend mache, würden diese nicht zu einer weiteren Duldung führen. Die Antragstellerin habe eine Reiseunfähigkeit nicht mittels eines qualifizierten ärztlichen Attests glaubhaft gemacht. Das ärztliche Attest vom 23.02.2022 gehe nicht von einer Reiseunfähigkeit aus. Zudem sei die Reisefähigkeit durch den behandelnden Arzt telefonisch bestätigt worden. Sofern die Antragstellerin darüber hinaus zielstaatbezogene Abschiebungshindernisse vortrage, sei die Antragsgegnerin an die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.10.2017 gebunden. Danach lägen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vor. Es sei auch keine Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu veranlassen gewesen, da die Tatsache der chronischen Niereninsuffizienz der Antragstellerin bereits bei der Entscheidung durch das Bundesamt berücksichtigt worden sei.

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Am 25.05.2022 hat die Antragstellerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Wiederaufnahmeantrag zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG (Folgeschutzantrag) gestellt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

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1. Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO statthaft. Die Antragstellerin macht geltend, einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung zu haben und sieht die Verwirklichung dieses Rechts durch eine Abschiebung vereitelt oder wesentlich erschwert.

18

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Statthaftigkeit eines Antrags ist grundsätzlich der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Zulässigkeitsvoraussetzungen W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, Vorb § 40 Rn. 11 m.w.N.). Bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung entspricht dem Schluss der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Hinausgabe der Entscheidung an die Beteiligten (vgl. ebd., § 104 Rn. 14 m.w.N.).

19

Unter Zugrundelegung dieses Zeitpunktes ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO auch nicht gemäß § 123 Abs. 5 VwGO gegenüber einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nachrangig. Sofern eine Duldung zunächst erteilt und später widerrufen worden ist, ist in Bezug auf das Rechtsschutzziel, von Abschiebemaßnahmen verschont zu bleiben, hinsichtlich des statthaften Rechtsbehelfs danach zu differenzieren, ob sich das Rechtsschutzinteresse auf den Zeitraum vor oder nach Ablauf der Gültigkeitsdauer der erteilten Duldung bezieht. Für die Zeit bis zum Ablauf der Gültigkeitsdauer ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, gerichtet auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Widerruf der Duldung, statthaft. Bei Erfolg dieses Antrags wäre der Widerruf nicht vollziehbar und die bereits erteilte Duldung behielte – bis zum Ablauf der Gültigkeitsdauer – ihre Wirkung. Richtet sich das Rechtsschutzinteresse hingegen allein auf einen Zeitraum nach Ablauf der Geltungsdauer einer bereits erteilten Duldung, so kann die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen den Widerruf der Duldung zur Erreichung des Rechtsschutzziels nichts beitragen. In diesem Fall ist die Duldung bereits erloschen, so dass eine etwaige aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs die Rechtsstellung des Antragstellers nicht verbessern könnte.

20

Ein solcher Fall, in dem sich das Rechtsschutzinteresse auf einen Zeitraum nach Ablauf der Gültigkeitsdauer der Duldung bezieht, liegt hier vor. Eine verständige Würdigung des Begehrens der Antragstellerin muss zu dem Ergebnis gelangen, dass diese zwar im Zeitpunkt der Antragstellung (zumindest auch) die Fortgeltung der erteilten Duldung und damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs begehrte, weil die Gültigkeitsdauer der Duldung in diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Mit Ablauf der Gültigkeitsdauer kann sich das Begehren jedoch nur noch auf die Erteilung einer neuen Duldung und damit auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet haben. Diese Auslegung entspricht dem Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin, der es stets entscheidend nur darauf ankam, in der Zukunft von Abschiebemaßnahmen verschont zu bleiben.

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2. Der auch im Übrigen zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch nicht begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.

22

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft machen können. Ein Anspruch auf eine gerichtliche Untersagung gegenüber der Antragsgegnerin, Abschiebemaßnahmen durchzuführen, besteht vorliegend dann, wenn der Antragstellerin ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung zusteht. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass ihr ein entsprechender Anspruch zusteht. Ein solcher Anspruch folgt insbesondere nicht aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Abschiebung ist weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen unmöglich.

23

Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung wurde nicht geltend gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere sind nunmehr die zunächst fehlenden Reisedokumente vorhanden.

24

Die Abschiebung ist auch nicht rechtlich unmöglich. Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf, etwa weil sie aufgrund vorrangigen Rechts, insbesondere aufgrund der Grundrechte, unzulässig ist, oder weil ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG besteht. Dies ist hier nicht der Fall. Die geltend gemachte Reiseunfähigkeit begründet kein Abschiebungsverbot aufgrund höherrangigen Rechts (hierzu unter a)). Auch kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG nicht angenommen werden (hierzu unter b)). Die Unzulässigkeit der Abschiebung folgt auch nicht aus § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG, weder in direkter (hierzu unter c)) noch in analoger (hierzu unter d)) Anwendung. Schließlich folgt die Unzulässigkeit einer Abschiebung auch nicht unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 GG (hierzu unter e)).

25

a) Aus der von der Antragstellerin geltend gemachten Reiseunfähigkeit folgt keine Unzulässigkeit der Abschiebung. Wegen Reiseunfähigkeit folgt dann aus Art. 2 Abs. 2 GG ein Abschiebungsverbot, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des Reisens wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht und die Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Eine Abschiebung muss aber auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet. Dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird die Reisefähigkeit vermutet.

26

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Antragstellerin die gesetzliche Vermutung ihrer Reisefähigkeit nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nicht widerlegen können. Die vorgelegten Atteste lassen keine ausreichenden Rückschlüsse auf ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Reiseunfähigkeit zu.

27

In seinen ärztlichen Bescheinigungen vom 29.04.2022 sowie vom 23.02.2022 legt Herr Dr. xy dar, dass die Antragstellerin aufgrund einer Autoimmunerkrankung unter einer chronischen Niereninsuffizienz leide. Unbehandelt führe die Erkrankung zur Dialysepflichtigkeit. Bei fehlender Dialysemöglichkeit führe dies zum Tode. Aus diesem Grund müsse die Versorgung der Antragstellerin mit der aktuellen Medikation auch im Heimatort sichergestellt werden – eine fachärztliche nephrologische Versorgung im Heimatland unmittelbar nach Ankunft sei dringend zu empfehlen. Aus diesen Ausführungen ergibt sich unmissverständlich die Erforderlichkeit einer fortlaufenden medikamentösen Behandlung der Antragstellerin auch im Heimatland. Sie haben Relevanz für die Frage, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG vorliegt. Die Ausführungen lassen jedoch keine Rückschlüsse auf eine fehlende Reisefähigkeit zu. Vielmehr stützen sie die Annahme einer vorhandenen Reisefähigkeit, wenn Herr Dr. xy von einem Szenario nach der Ankunft in Armenien ausgeht, ohne gesundheitlich Gefahren zu benennen, die gerade infolge des Reisevorgangs an sich entstanden sein könnten. Eine Reiseunfähigkeit könnte bei diesem Krankheitsbild allein dann angenommen werden, wenn die medikamentöse Behandlung unmittelbar nach der Ankunft in Armenien nicht sichergestellt werden könnte. Das aber ist nicht der Fall. Es lässt sich sicherstellen, dass der Antragstellerin die erforderlichen Medikamente auch in den Tagen und Wochen nach ihrer Ankunft zur Verfügung stehen. So hat etwa Herr Dr. xy zugesagt, ein Rezept für die Versorgung in den ersten Monaten auszustellen.

28

Auch das ärztliche Attest der Frau Dr. xy vom 11.07.2022 führt zu keinem anderen Ergebnis. Ebenso wie Herr Dr. xy erläutert sie lediglich, dass es einer fortlaufenden Behandlung der Antragstellerin bedürfe, weil es andernfalls zu einem Nierenversagen kommen könne, das unbehandelt zum Tod führe. Das Attest enthält jedoch ebenfalls keine Ausführungen zu etwaigen reisebedingten oder hiermit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Gesundheitsgefährdungen.

29

b) Die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung kann auch nicht aufgrund eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG angenommen werden. Im vorliegenden Verfahren gegen die Ausländerbehörde ist vielmehr davon auszugehen, dass zielstaatbezogene Abschiebungshindernisse nicht vorliegen. Nach § 42 Satz 1 AsylG ist die Ausländerbehörde an die Entscheidung des Bundesamtes oder des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gebunden. Mit Bescheid vom 25.10.2017 stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen. Eine hiergegen erhobene Klage wurde durch Urteil vom 07.04.2021 abgewiesen. Das Urteil ist rechtskräftig. Es sind daneben auch keine Gründe dargelegt oder sonst ersichtlich, die das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach den übrigen Absätzen des § 60 AufenthG begründen könnten.

30

Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist zu den geltend gemachten Abschiebungsverboten auch keine Beteiligung des Bundesamtes gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG erforderlich. Denn auch bei späteren Änderungen der Sach- oder Rechtslage, die hier im Übrigen wegen der schon zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesamtes bekannten Nierenerkrankung der Antragstellerin nicht erkennbar ist, besteht die Bindungswirkung gemäß § 42 Satz 1 AsylG grundsätzlich fort; eine Änderung kann damit nur über das Bundesamt erreicht werden (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Auflage 2020, § 4 AsylG Rn. 7).

31

c) Auch aus § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG folgt nicht die Unzulässigkeit einer Abschiebung. Für den Fall, dass beim Bundesamt ein Folgeantrag gestellt worden ist, ordnet § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG an, dass eine Abschiebung erst nach einer Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht vorliegen, vollzogen werden darf. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG liegt ein Folgeantrag vor, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt. Ein sog. Folgeschutzantrag, der sich auf die Feststellung zielstaatbezogener Abschiebungshindernisse beschränkt, ist kein Asylantrag (vgl. § 13 AsylG) und damit auch kein Folgeantrag i.S.d. § 71 Abs. 1 AsylG, so dass auch Absatz 5 dieser Vorschrift nicht anwendbar ist (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 14.12.2006 – 8 Q 2642/06.A –, juris Rn. 9 m.w.N.). Die Antragstellerin hat am 25.05.2022 beim Bundesamt einen Wiederaufnahmeantrag zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG und damit einen Folgeschutzantrag – nicht einen Folgeantrag – gestellt.

32

d) Die Unzulässigkeit einer Abschiebung ergibt sich auch nicht aus einer analogen Anwendung des § 71 Abs. 5 AsylG. Für die Annahme einer Analogie besteht insoweit kein Raum (so auch OVG Niedersachsen, Beschl. v. 26.02.2018 – 13 ME 438/17 –, juris Rn. 19 ff., OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 11.09.2017 – 18 B 1033/17 –, juris Rn. 4 ff., Hessischer VGH, Beschl. v. 14.12.2006 – 8 Q 2642/06.A –, juris Rn. 9, Bayerischer VGH, Beschl. v. 29.05.2005 – 24 CE 05.3107 –, juris Rn. 11). Zwar ließen sich durchaus beachtliche Gründe für eine vergleichbare Interessenlage anführen (vgl. hierzu insbes. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.05.2017 – 11 S 2493/16 –, juris Rn. 10 ff.). Es mangelt jedoch jedenfalls an der weiteren Voraussetzung für die Annahme einer Analogie, der planwidrigen Regelungslücke. Es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des Asylgesetzes sehr bewusst abgesteckt und ebenso bewusst die isolierten Anträge auf Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse, also auch sog. Folgeschutzanträge, von diesem Anwendungsbereich ausgenommen hat. Mit dem Asylgesetz hat er gegenüber dem Ausländerrecht ein Sonderrecht für solche Ausländer geschaffen, die einen Asylantrag gestellt haben (vgl. § 1 Abs. 1, § 13 AsylG). In § 13 AsylG benennt er genau, welche Anträge er als Asylanträge aufgefasst haben will. In Abs. 2 Satz 2 dieser Vorschrift stellt er insbesondere ausdrücklich klar, dass ein Antrag, der lediglich auf die Anerkennung internationalen Schutzes beschränkt ist, auch als Asylantrag aufzufassen ist. Obwohl also offenbar eine Auseinandersetzung mit Teilanträgen erfolgte, hat der Gesetzgeber eine dem § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG entsprechende Vorschrift nicht für die in Frage stehenden (Folge-)Schutzanträge geschaffen. Es lässt sich daher annehmen, dass dies eine ganz bewusste Entscheidung war und nicht lediglich ein Versehen. Gestützt wird diese These einer bewussten Entscheidung dadurch, dass er, wie sich aus § 24 Abs. 2 AsylG ergibt, Entscheidungen über Asylanträge von solchen über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG ausdrücklich unterscheidet. Aus § 24 Abs. 2 AsylG folgt zudem, dass der Gesetzgeber die Zuständigkeit für Entscheidungen über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG grundsätzlich bei der Ausländerbehörde sieht (vgl. näher zur Zuständigkeit VG Augsburg, Gerichtsbesch. v. 06.06.2018 – Au 2 K 17.34883 –, BeckRS 2018, 13192 Rn. 36 ff.). Die grundsätzliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde ist aber nur außerhalb des Anwendungsbereichs des Asylgesetzes und damit auch außerhalb des Anwendungsbereichs asylrechtlicher Verfahrensvorschriften wie § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG begründet. Nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers sollen demnach alle isolierten Anträge auf Feststellung von Abschiebungshindernissen, unabhängig davon, ob sie erstmals oder wiederholt gestellt werden, in den Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes fallen. Vor diesem Hintergrund kann nur schwer behauptet werden, isolierte Anträge auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG hätten keine bewusste gesetzliche Regelung erfahren. Im Übrigen nimmt das Gericht zur weiteren Begründung der fehlenden Analogiefähigkeit Bezug auf die zutreffenden Gründe des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11.09.2017 (18 B 1033/17 – juris Rn. 4 ff.).

33

e) Schließlich folgt die Unzulässigkeit einer Abschiebung auch nicht unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 GG. Art. 19 Abs. 4 GG enthält eine Rechtsweggarantie des Inhalts, dass wirksamer gerichtlicher Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt zur Verfügung stehen muss. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht, sondern auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens. Soweit es um beantragten vorläufigen Rechtsschutz geht, verlangt die Rechtsschutzgarantie, dass irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden (BVerfG, Beschl. v. 30.07.2003 – 2 BvR 796/03 –, BeckRS 2003, 23848 m.w.N.). Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze bedeutet dies für die vorliegende Konstellation, in der ein isolierter Folgeschutzantrag gestellt worden ist, dass die Unzulässigkeit der Abschiebung dann aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt, wenn dies zur Sicherung der Effektivität des Folgeschutzantrages erforderlich ist, weil Rechtsschutz anderweitig nicht erlangt werden kann (vgl. hierzu Dickten, in: BeckOK Ausländerrecht, § 71 AsylG Rn. 42 m.w.N.).

34

Das aber ist hier nicht der Fall. Effektiver Rechtsschutz gegen eine drohende Abschiebung steht dem Schutzsuchenden durch vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 VwGO gegenüber dem für die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zuständigen Bundesamt (vgl. zur Zuständigkeit des Bundesamtes bei isolierten Folgeschutzanträgen VG Augsburg, Gerichtsbesch. v. 06.06.2018 – Au 2 K 17.34883 –, BeckRS 2018, 13192 Rn. 38) offen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 11.09.2017 – 18 B 1033/17 –, juris Rn. 7 f. m.w.N.). Der Antrag ist im Ergebnis darauf gerichtet, sicherzustellen, dass die zuständige Ausländerbehörde vorläufig von einer Abschiebung absieht (ebd.). Zwar gibt es Ausnahmekonstellationen in den Fällen, in denen der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Bundesrepublik bzw. jedenfalls die dann zu deren Umsetzung noch erforderliche Mitteilung an die Ausländerbehörde, dass nicht vollzogen werden darf, zu spät käme. In solchen Fällen gebietet die Gewährung effektiven Rechtsschutzes eine solche Rechtsschutzmöglichkeit (Art. 19 Abs. 4 GG). Allerdings kann angesichts der zur Verfügung stehenden modernen Telekommunikationsmittel ein solcher Ausnahmefall allenfalls dann in Erwägung gezogen werden, wenn etwa gegenüber dem jeweiligen Antragsteller oder der jeweiligen Antragstellerin eine konkrete Abschiebungsmaßnahme bereits begonnen worden ist und zu diesem Zeitpunkt nicht mehr damit gerechnet werden kann, dass beim Bundesamt ein zuständiger und vor allem im Außenverhältnis auch entsprechend handlungsbefugter Bediensteter anwesend sein wird, der eine entsprechende gerichtliche Entscheidung umsetzen kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.11.2018 – 12 S 2504/18 –, juris Rn. 19). Ein solcher Eilfall liegt hier aber nicht vor, da die Abschiebung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht begonnen hat.

35

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

36

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.


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