Beschluss vom Verwaltungsgericht Sigmaringen - A 8 K 424/21

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. Februar 2021 unter Ziffer 5. verfügte Abschiebungsandrohung wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

 
Der Antragsteller begehrt mit Erfolg vorläufigen Rechtsschutz gegen die auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützte Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet.
I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Malis, nach Aktenlage möglicherweise aber (auch) Staatsangehöriger Gambias. Er gelangte im Herbst 2012 nach Europa und stellte in Schweden einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 08.05.2013 abgelehnt wurde.
Anschließend reiste der Antragsteller weiter nach Deutschland und stellte am 19.11.2013 auch hier einen Asylantrag, wobei er als Geburtsort Timbuktu (Mali) angab. Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) legte er Unterlagen aus dem schwedischen Asylverfahren vor und gab an, er sei in Mali geboren, woher sein Vater stamme; seine Mutter stamme demgegenüber aus Gambia. Er sei zunächst in Mali aufgewachsen und mit sieben Jahren nach Gambia gekommen, wo er sich mehrere Jahre aufgehalten habe. Anschließend sei er wieder nach Mali zurückgekehrt. Von dort aus sei er 2012 nach Europa aufgebrochen.
Auf ein Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 27.11.2013 stimmte Schweden mit Schreiben vom 03.12.2013 der Überstellung des Antragstellers zu, woraufhin das Bundesamt den Asylantrag mit Bescheid vom 09.12.2013 als unzulässig ablehnte und die Abschiebung des Antragstellers nach Schweden anordnete. Hierbei ging das Bundesamt im Anschluss an den schwedischen Behörden davon aus, der Antragsteller sei Staatsangehöriger Gambias. In den dagegen beim Verwaltungsgericht Sigmaringen angestrengten Verfahren (Hauptsacheverfahren A 1 K 5007/13, Eilverfahren A 1 K 5008/13) brachte der Antragsteller abermals vor, er stamme aus Mali und sei vor dem dortigen Krieg geflohen. Da eine Überstellung des Antragstellers in der Folgezeit trotz Erfolglosigkeit seines Eilantrags unterblieb, hob die Antragsgegnerin den Bescheid vom 09.12.2013 mit Prozesserklärung vom 14.10.2014 auf und erklärte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Mit Schreiben vom 05.08.2014 hatte das Bundesamt dem Gericht überdies mitgeteilt, dass die Personendaten geändert worden seien und der Antragsteller in Mali geboren sowie – zu diesem Zeitpunkt minderjähriger – Staatsangehöriger Malis sei.
Mit Verfügung vom 05.02.2016 legte das Bundesamt das Verfahren als Zweitantrag im nationalen Verfahren an und hörte den Antragsteller schriftlich zum Ergebnis des Erstverfahrens an. Im schriftlichen Anhörungsverfahren wies der Antragsteller mit Schreiben vom 21.03.2016 nochmals darauf hin, dass er aus Mali stamme, wohin er – nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Gambia – im Alter von ca. 14 Jahren zurückgekehrt sei. Nach einem Übergriff durch Tuareg-Rebellen Mitte 2012 habe die Familie u.a. wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen in Mali die Flucht ergriffen. In Mali gebe es nach wie vor lebensgefährliche kriegerische Auseinandersetzungen.
In den Akten findet sich eine vom 10.01.2018 datierende Übersetzung des schwedischen Asylbescheids vom 08.05.2013, aus der sich entnehmen lässt, dass sich die schwedische Migrationsbehörde auch nach Durchführung verschiedener Tests weder von der Identität noch von der Staatsangehörigkeit des Antragstellers überzeugen konnte, bei der Prüfung aber von dem Herkunftsland Gambia ausging und die vom Antragsteller vorgebrachten Bedrohungen in Mali explizit außer Betracht ließ.
Mit Bescheid vom 22.05.2019 hob das Bundesamt u.a. den Bescheid vom 09.12.2013 auf, lehnte den Asylantrag erneut als unzulässig ab und drohte die Abschiebung nach Mali oder in einen anderen Staat (Gambia) an, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Zur Begründung führte das Bundesamt nun im Wesentlichen aus, bei dem Antrag des Antragstellers handele es sich nach den Erkenntnissen aus dem schwedischen Asylverfahren um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG. Dieser sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unzulässig, denn es fehle an einem Wiederaufgreifensgrund. Der Antragsteller habe alle vorgetragenen Gründe schon im Rahmen des schwedischen Asylverfahrens geltend machen können. Insbesondere eine Änderung der Sachlage sei nicht gegeben.
Mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 05.05.2020 (Az. A 8 K 2827/19) hob das Verwaltungsgericht Sigmaringen diesen Bescheid (mit Ausnahme der Aufhebung des vorangegangenen Bescheids) auf und führte zur Begründung u.a. aus, dass Wiederaufgreifensgründe vorlägen. Denn zum einen sei die Antragsgegnerin – mit Mali anstatt Gambia – von einer anderen Staatsangehörigkeit als im Ausgangsverfahren ausgegangen. Zum anderen stellten sich die Intensität des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Mali und die dortige Sicherheitslage als extrem volatil dar. Infolgedessen habe die Antragsgegnerin insoweit in eine erneute Sachprüfung des Asylantrags eintreten müssen.
10 
Auf ein Informationsersuchen der Antragsgegnerin vom 13.07.2020 stellten die schwedischen Behörden die dortigen Anhörungsprotokolle des Antragstellers vom 05.11.2012 und vom 03.04.2013, die ablehnende Entscheidung der Einwanderungsbehörde vom 08.05.2013, das Urteil des Verwaltungsgerichts Göteborg vom 12.09.2013 sowie die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Stockholm – Oberstes Einwanderungsgericht – vom 20.11.2013 zur Verfügung. Daraus ergibt sich u.a., dass der Antragsteller sich bei den schwedischen Behörden auf Mali (Provinz Timbuktu) als Herkunftsland berief und auf Vorhalt entgegenstehender, für Gambia als Herkunftsland sprechender Anhaltspunkte erklärte, hinsichtlich Gambias keine Asylgründe geltend machen zu wollen.
11 
Mit Schreiben vom 30.10.2020 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zu Widersprüchen zwischen seinen Angaben bei den schwedischen Asylbehörden und vor dem Bundesamt an, die insbesondere seine familiären Verhältnisse und die angeblich in Mali erlebte Bedrohung durch Tuareg-Rebellen betrafen. Hierauf ließ der Antragsteller mit anwaltlichem Schreiben vom 17.12.2020 vortragen, seine Angaben in Schweden hätten nicht der Richtigkeit entsprochen, was er bereue. Vor dem Bundesamt habe er die Wahrheit gesagt.
12 
Durch Bescheid vom 11.02.2021, zur Post gegeben am 15.02.2021, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Anerkennung als Asylberechtigter sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet ab und stellte gleichzeitig fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 1-4). Außerdem forderte es den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, und drohte die Abschiebung nach Gambia, Mali oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an, wobei es die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und den Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der Klagefrist bzw. zur Bekanntgabe der etwaigen Ablehnung eines Eilantrags aussetzte (Ziff. 5). Nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet sowie auf 42 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6).
13 
Zur Begründung führte das Bundesamt u.a. aus, es liege keine Zweitantragskonstellation nach § 71a AsylG vor, weil die Ermittlungen bei den schwedischen Behörden ergeben hätten, dass das Asylverfahren erst nach Antragstellung im Bundesgebiet rechtskräftig abgeschlossen gewesen sei. Deshalb sei der Antrag als Erstantrag zu werten. Die Staatsangehörigkeit des Antragstellers habe sich nicht klären lassen; die Prüfung erfolge deshalb hinsichtlich der Länder Gambia und Mali. Die Voraussetzungen der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung internationalen Schutzes lägen hinsichtlich beider Länder nicht vor. Für Gambia habe der Antragsteller keine Vorverfolgung geltend gemacht. Hinsichtlich Mali ließen erhebliche Widersprüche im Vortrag des Antragstellers das von ihm behauptete Verfolgungsschicksal als nicht glaubhaft erscheinen. Subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sei dem Antragsteller nicht zu gewähren, denn der festgestellte Grad willkürlicher Gewalt in Mali erreiche nicht das hierfür geforderte hohe Niveau. Im Übrigen stehe dem Antragsteller interner Schutz im Süden Malis zur Verfügung.
14 
Das Offensichtlichkeitsurteil werde auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützt, denn in Anbetracht der stark divergierenden Angaben des Antragstellers hinsichtlich Herkunft, ausreiseursächlichen Umständen und Familienkonstellation sei die hierfür erforderliche Schwelle an fehlender Substantiierung und Widersprüchlichkeit erreicht.
15 
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 24.02.2021 Klage erhoben (Az.: A 8 K 423/21). Mit seinem gleichzeitig eingegangenen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bringt er vor, er werde sich in seinem Herkunftsland Mali keine Existenzgrundlage schaffen können.
16 
Der Antragsteller beantragt (sachdienlich gefasst),
17 
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2021 anzuordnen.
18 
Die Antragsgegnerin beantragt,
19 
den Antrag abzulehnen.
20 
Dem Gericht liegen die Akten des Bundesamts sowie sämtliche Akten der vorausgegangenen Verfahren beim Verwaltungsgericht Sigmaringen vor. Auf diese sowie auf die gewechselten Schriftsätze wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.
II.
21 
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter; die Voraussetzungen für eine Übertragung auf die Kammer nach Satz 2 dieser Vorschrift liegen nicht vor.
22 
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, also insbesondere das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der letzten Änderung durch Art. 3 des Neunundfünfzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 9. Oktober 2020 (BGBl. I, 2075), in Kraft getreten am 1. Januar 2021.
23 
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft (vgl. §§ 36 Abs. 3, 75 AsylG in Verbindung mit § 80 Abs. 5 VwGO) und fristgerecht innerhalb einer Woche (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) erhoben worden. Gegenstand des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO ist die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitigen Bescheids (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
24 
2. Der Antrag ist auch begründet, denn das Offensichtlichkeitsurteil im angefochtenen Bescheid begegnet ernstlichen Zweifeln. Die von der Antragsgegnerin hierzu gegebene Begründung trägt voraussichtlich nicht, soweit der Antragsteller sich im behördlichen Verfahren auf den allgemeinen Verfolgungsgrund des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG berufen hat.
25 
a) Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG (vgl. Art. 16a Abs. 4 GG) darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, also des Offensichtlichkeitsurteils oder der Abschiebungsandrohung im Übrigen bestehen. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen immer schon dann, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält; Bezugspunkt ist nicht der Erfolg in der Hauptsache, sondern vielmehr allein die Frage, ob das Bundesamt den Asylantrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, ohne dass deshalb der Ablehnungsbescheid selbst zum Verfahrensgegenstand wird (grundlegend zum Ganzen BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94, 166).
26 
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist dabei nicht nur die formelle Voraussetzung zu prüfen, ob die Anerkennung eines Antragstellers als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Vielmehr gelten hier die Maßstäbe für die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet (§ 78 Abs. 1 AsylG) entsprechend. Eine solche setzt voraus, dass an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt die Abweisung der Klage dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich zudem klar ergeben, warum die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist. Diese Grundsätze gelten nicht nur für das Asylgrundrecht, sondern auch für Verfahren, die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten gerichtet sind (BVerfG, Beschluss vom 25.02.2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 20).
27 
Die vorgenannten Kriterien sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Offensichtlichkeitsprüfung, die im Rahmen des Eilverfahrens vorzunehmen ist, ohne Weiteres übertragbar. Hiernach hat das Verwaltungsgericht aufgrund einer eigenständigen Beurteilung insbesondere zu prüfen, ob das Bundesamt die Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter und die Zuerkennung internationalen Schutzes zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts auch weiterhin Bestand haben kann. Das Offensichtlichkeitsurteil und damit auch dessen gerichtliche Überprüfung muss den gesamten Asylantrag erfassen, also insbesondere auch den Anspruch auf internationalen Schutz (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (13. Auflage 2020), § 30 AsylG Rn. 7). Die gerichtliche Prüfung der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsfeststellung hat dabei auf Grund der als asylerheblich vorgetragenen oder zu erkennenden Tatsachen und in Anwendung des materiellen Asylrechts zu erfolgen. Das Verwaltungsgericht darf sich dabei nicht mit einer bloßen Prognose zur voraussichtlichen Richtigkeit des „Offensichtlichkeitsurteils“ begnügen, sondern muss die Frage der Offensichtlichkeit – will es sie bejahen – erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren klären und insoweit über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehen (zum Ganzen BVerfG, Beschlüsse vom 23.07.2020 - 2 BvR 939/20 -, juris Rn. 18, vom 25.02.2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 21, und vom 17.12.1991 - 2 BvR 1041/91 -, InfAuslR 1992, 75 ff.).
28 
Wird ein Schutzersuchen neben individuellem Vorbringen des Betroffenen auch auf allgemeine Gründe gestützt und ist das individuelle Vorbringen des Betroffenen nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, so steht damit noch nicht fest, dass Gleiches auch für die allgemeinen Gründe gilt. Das Tatbestandsmerkmal „Punkte“ nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat insoweit besondere Bedeutung, als damit deutlich gemacht wird, dass die Voraussetzungen der Bestimmung zumindest dann, wenn der Schutzsuchende mehrere Verfolgungsgründe geltend gemacht hat, für alle wesentlichen, selbstständig zu beurteilenden Verfolgungsgründe erfüllt sein müssen (Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG (Lfg. 113/01.10.2017), § 30 AsylG Rn. 65; a.A. Kluth/Heusch, BeckOK AuslR (29. Ed./01.04.2021), § 30 AsylG Rn. 36). Jeder selbstständig geltend gemachte Verfolgungsgrund muss offensichtlich unbegründet sein (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (13. Auflage 2020), § 30 AsylG Rn. 7). Erwägungen zur offensichtlichen Unbegründetheit des individuellen Vorbringens rechtfertigen es daher nicht ohne Weiteres, den Asylantrag auch im Hinblick auf die Gewährung subsidiären Schutzes z.B. nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht lediglich als „einfach“ unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abzulehnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.06.2017 - 2 BvR 1353/17 -, juris).
29 
Wird der Antrag im Hinblick auf den individuellen Vortrag eines Schutzsuchenden gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet qualifiziert, darf eine Ablehnung des Antrags insgesamt als offensichtlich unbegründet vielmehr nur dann erfolgen, wenn dies auch für die weiteren geltend gemachten selbstständigen Verfolgungsgründe gilt, die über den individuellen Vortrag hinausgehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.05.2000 - 2 BvR 349/97 -, juris Rn. 5). Zu schlüssigem Vortrag ist der Schutzsuchende jedoch nur hinsichtlich seines persönlichen Bereichs verpflichtet, so dass ihm ein Vortrag i.S.d. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hinsichtlich allgemeiner Verhältnisse im Herkunftsland regelmäßig kaum wird entgegengehalten werden können (vgl. zu dieser Differenzierung Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG (Lfg. 113/01.10.2017), § 30 AsylG Rn. 66 ff.).
30 
b) Nach diesen Maßstäben ist hier die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen. Denn die Antragsgegnerin hat den Asylantrag auch bezogen auf die Gewährung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt, ohne die Offensichtlichkeitsentscheidung mit Blick auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG tragfähig gesondert zu begründen.
31 
Der Bescheid des Bundesamts enthält zwar ausführliche Erwägungen dazu, weshalb das individuelle Vorbringen des Antragstellers zum Verfolgungsgeschehen als in wesentlichen Punkten nicht substantiiert und in sich widersprüchlich zu erachten und der Asylantrag deshalb nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen sei. Diese Erwägungen sind jedoch nicht geeignet zu begründen, dass der Asylantrag auch im Hinblick auf die Gewährung subsidiären Schutzes wegen ernsthafter individueller Bedrohung einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht lediglich „einfach“ unbegründet, sondern – mit den sich aus § 36 AsylG ergebenden asylverfahrensrechtlichen Konsequenzen – offensichtlich unbegründet sein soll. Denn insoweit geht es um allgemeine Gründe für das Schutzersuchen, die nicht mit dem individuellen Vortrag des Beschwerdeführers zusammenhängen.
32 
Hinsichtlich dieser Gründe lässt sich keineswegs festhalten, dass an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Bundesamts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen könne und sich die Ablehnung (auch) des Antrags auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG geradezu aufdränge: Die Sicherheitslage in Mali ist insgesamt angespannt (eingehend hierzu, insbesondere auch zu den Unruhen im Jahr 2020, dem anschließenden Militärputsch und den eingeleiteten Stabilisierungsmaßnahmen: UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General, 29.09.2020)). In allen Regionen kommt es – mit höchst unterschiedlicher Intensität – nach wie vor zu willkürlicher Gewalt sowie auch zu Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe (vgl. z.B. für den exzessiven Gewalteinsatz bei Demonstrationen in Bamako mit mehreren Todesopfern im Juli 2020: UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General, 29.09.2020), S. 11). Zuletzt hat sich die Sicherheitslage insbesondere in den im Zentrum des Landes gelegenen Provinzen Mopti und Ségou weiter verschlechtert (hierzu und zum Folgenden UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General) vom 28.12.2020, S. 8 ff., und vom 26.03.2021, S. 6 ff.; UNHCR, Position on Returns to Mali – Update II (01.07.2019), S. 3 f.; zur Provinz Mopti als Zentrum des Konflikts und zu den maßgeblichen Akteuren EASO, COI Query: Armed groups, Security situation, Internal displacement situation in Mopti Region between 1 June-30 November 2020 (17.12.2020)).
33 
Auch im Norden, in dem der Staat die effektive Gebietsgewalt schon länger eingebüßt hatte und im Rahmen des Friedensprozesses nur sehr langsam zurückgewinnt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Mali vom 27.08.2019 (Stand: Juli 2019), S. 13), waren weiterhin gewalttätige extremistische Gruppen aktiv. Hier dauerten etwa die Zusammenstöße zwischen den der Dschihadisten-Organisation Jama'a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin (JNIM) und dem Islamic State in the Greater Sahara (ISGS) zugehörigen Gruppierungen an, wobei bedeutende Kämpfe in der Region Gao auftraten. In der Region Timbuktu blieben die gewalttätigen extremistischen Gruppen ebenfalls aktiv; hier wurden etwa bei einem Angriff am 01.10.2020 zwei malische Polizisten getötet und einer verletzt. Von Dezember 2020 bis Februar 2021 ereigneten sich 38 % der gegen die malischen Sicherheitskräfte und ihre Alliierten gerichteten asymmetrischen Attacken in Nordmali, darunter 16 % in der Region Timbuktu und 12 % in der Provinz Gao. Auf die Zentralregion entfielen 62 % der Anschläge, darunter 58 % auf die Region Mopti und 4 % auf die Region Ségou. Vereinzelt wurden auch in den Provinzen Koulikoro und Sikasso im Süden Malis Sprengstoffanschläge registriert.
34 
Zivilpersonen sind auch weiterhin die Hauptopfer von Angriffen der bewaffneten und gewalttätigen extremistischen Gruppen. Nachdem die Zahl der Anschläge gegen Zivilpersonen gegen Ende 2020 rückläufig gewesen war, kam es in den Folgemonaten wieder zu einem gewissen Anstieg. Dabei gingen allerdings die Opferzahlen zurück: Landesweit wurden zum 22.02.2021 (seit Anfang Dezember 2020) 238 Vorfälle registriert, bei denen 145 Zivilisten getötet, 155 verletzt und 80 entführt wurden. Auch insoweit stand die Region Mopti bei weitem im Vordergrund. Allein aus dieser Region wurden 73 Vorfälle berichtet, bei denen 83 Zivilisten getötet, 68 verletzt und 53 entführt wurden; hierbei handelte es sich um 39 % aller Vorfälle, in die Zivilisten verwickelt waren. Die MINUSMA-Operation dokumentierte in diesem Zeitraum überdies 409 Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen. Wie in den sechs Monaten zuvor waren auch hier die meisten Vorkommnisse in Zentralmali zu verzeichnen, insbesondere in den Regionen Douentza, Mopti und Ségou (zu alledem UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General, 26.03.2021), S. 9 f.).
35 
Hinzu kommt, dass der Generalsekretär des Präsidialamtes am 14.05.2021 ohne Angabe von Gründen die Auflösung der nach dem Militärputsch im August 2020 eingesetzte Übergangsregierung bekanntgab und Regierungschef Moctar Ouane mit der Bildung einer neuen Übergangsregierung beauftragt wurde (BAMF, Briefing Notes vom 17.05.2021). Anschließend wurden Übergangspräsident Bah Ndaw und Regierungschef Moctar Ouane von Offizieren festgenommen und in eine Militärbasis gebracht. Sie gaben sodann ihren Rücktritt bekannt, was auf einen erneuten Militärputsch hindeutet (vgl. z.B. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/putsch-in-mali-spitze-der-uebergangsregierung-tritt-zurueck-17359683.html, abgerufen am 26.05.2021), dessen Folgen für die Sicherheitslage im Land und die Intensität des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts noch gar nicht absehbar sind.
36 
Auch der Hinweis der Antragsgegnerin auf internen Schutz trägt das Offensichtlichkeitsurteil nicht, denn solcher steht nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen (vgl. z.B. UNHCR Position on Returns to Mali – Update II (Juli 2019), S. 7), mit denen sich die Antragsgegnerin entgegen § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht auseinandergesetzt hat, im Süden Malis nicht zur Verfügung.
37 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
38 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen