Urteil vom Verwaltungsgericht Stuttgart - A 7 K 1510/19

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2019 wird in Ziffer 2 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der nach seinen Angaben am ... in A geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit. Er verließ sein Herkunftsland nach eigenen Angaben im Dezember 2015 und reiste aus Griechenland kommend im August 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 5. September 2017 einen förmlichen Asylantrag.
Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Weiteren: Bundesamt) am 7. Februar 2019 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass seine letzte offizielle Anschrift, an der er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten habe, in A, Stadtteil A, gewesen sei. Wehrdienst habe er nicht leisten müssen, da er aufgrund seines Universitätsstudiums wiederholt zurückgestellt worden sei. Einen Wehrpass habe er im Alter von 18 Jahren erhalten. Freunde von ihm seien bei einer Demonstration von ca. 50 Personen, an der auch er teilgenommen habe, von uniformierten Soldaten des Assad-Regimes erschossen worden. In Syrien sei er vor seiner Ausreise vom Assad-Regime gesucht worden, weil er mehrmals an friedlichen Demonstrationen in A im Jahr 2012 teilgenommen habe. Er habe Syrien nur verlassen können, weil er einen Polizeioffizier bestochen und dieser ihm eine Erklärung ausgestellt habe, dass er unschuldig sei. Er wolle keine Waffe in die Hand nehmen und auch niemanden umbringen. Er wolle in Frieden leben. Auf Frage erklärte er, dass er erst Ende 2015 aus Syrien ausgereist sei, weil er Mitte des Jahres 2015 an einem Kontrollpunkt festgenommen worden sei und dabei erstmals erfahren habe, dass er gesucht werde. Er sei sieben Tage inhaftiert und gefoltert worden, bis seine Eltern ein Bestechungsgeld gezahlt hätten und er freigekommen sei. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, ins Gefängnis zu müssen und dies nicht zu überleben.
Mit Bescheid vom 11. Februar 2019, als Einschreiben am 18. Februar 2019 zur Post gegeben, wurde dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt (Ziffer 1 des Bescheids). Im Übrigen wurde sein Asylantrag abgelehnt (Ziffer 2).
Am 5. März 2019 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen ergänzend vorgetragen, dass er aus einem oppositionellen Gebiet stamme und von dort geflohen sei. Bei seiner Inhaftierung sei er als Terrorist bezeichnet worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zu einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt.
10 
Mit Beschluss vom 24. Februar 2021 ist dem Klägers Prozesskostenhilfe bewilligt worden.
11 
In der mündlichen Verhandlung am 17. Februar 2021 ist der Kläger informatorisch angehört worden und hat im Wesentlichen angegeben, dass er in Deutschland einen Minijob habe, d. h. für eine Zeitung als Kommissionär arbeite. Er sei gesund. Familie in Syrien habe er keine mehr. In Deutschland sei er traditionell verheiratet.
12 
Eine Rückkehr nach Syrien sei für ihn schwierig, da er zum Wehrdienst verpflichtet sei. Er befürchte, im Falle einer Rückkehr verhaftet zu werden und im Gefängnis zu sterben. Auf Frage, wie er zum Wehrdienst stehe, hat er erklärt, dass er nicht an einem Krieg teilnehmen wolle. Auf Frage, ob er im Falle einer Einbürgerung auch den Wehrdienst bei der deutschen Bundeswehr ablehnen würde, hat er angegeben, dass die Situation hier anders sei. Die Bundeswehr würde nicht auf Zivilisten schießen. In Syrien hingegen werde die Armee gegen Zivilisten eingesetzt. Auf Frage, ob er es sich vorstellen könne, in Syrien für eine andere Truppe gegen das Regime zu kämpfen, hat er erklärt, dass die Situation dort komplett undurchsichtig sei. Es wisse keiner, wer gegen wen kämpfe. Letztendlich seien die Zivilisten die Opfer und Leidtragenden. Auf Frage, wie er damit umginge, wenn er zurückkehre und zwangsweise verpflichtet würde, in der Armee zu dienen, hat er erklärt, dass er die Waffe nehmen, aber auf keinen Fall auf Menschen schießen würde. Er würde in die Luft schießen. Wenn die Assad-Treuen dies bemerkten, wäre sein Leben in Gefahr.
13 
Auf Frage hat der Kläger erklärt, dass er aus einem Oppositionsgebiet, konkret A, stamme. Assad-Gegner hätten dort fünf Jahre lang und im Zeitpunkt seiner Ausreise die Macht innegehabt, bevor das Regime die Stadt erobert habe. Er habe auch an friedlichen Demonstrationen gegen das Regime teilgenommen. Hiermit habe er aufgehört, nachdem die Lage eskaliert sei. Im Weiteren hat er im Wesentlichen dargelegt, dass er, bevor er das Land verlassen habe, an einem Kontrollpunkt verhaftet und für eine Woche ins Gefängnis gebracht worden sei. Das Gefängnis und das Land habe er nur verlassen können, weil er einen Polizisten bestochen habe.
14 
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Der Berichterstatter konnte mit Einverständnis der Beteiligten anstelle der Kammer entscheiden (vgl. § 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO).
16 
Die zulässige Klage ist begründet.
17 
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
18 
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
19 
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Für die Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
20 
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). § 3a Absatz 2 AsylG enthält weitere Beispiele für Verfolgungshandlungen, insbesondere Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, wie z. B. Kriegsverbrechen (§ 3 a Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG).
21 
Eine solche Verfolgung kann vom Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) oder nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.
22 
Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
23 
a) Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor einer Verfolgung begründet ist, müssen die relevanten Rechtsgutsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebens-sachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war (Vorverfolgung), begründet die Vermutung, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, BeckRS 2017, 141174).
24 
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger eine ihn betreffende asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlung in seinem Herkunftsstaat vor seiner Ausreise glaubhaft dargelegt hat, da ihm nach Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
25 
Zur Begründung einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgefahr beruft sich der Kläger auf Wehrdienstentzug bzw. Wehrdienstverweigerung und einer ihm deswegen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
26 
Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Abkehr von der Rechtsprechung des 11. Senats (vgl. Urt. vom 2. Mai 2017 - A 11 S 562/17 - und vom 14. Juni 2017 - A 11 S 511/17 – juris) in seinen Urteilen vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - und vom 27. März 2019 - A 4 S 335/19 - (jeweils juris) festgestellt, dass in ihr Heimatland zurückkehrenden männlichen Syrern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung alleine deswegen droht. Zur Begründung führt er aus, dass die Tatsache, dass das syrische Regime seit längerer Zeit einen durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg führe, der sich auch gegen die Teile der Zivilbevölkerung richte, lasse nicht den Schluss zu,
27 
„dass die Verfolgung von Männern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern sich auch als Verfolgung aufgrund einer den betreffenden Personen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung darstellt“ (VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 39).
28 
Die Annahme, dass das syrische Regime unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet, hält der Senat vor diesem Hintergrund auch in Anbetracht des jedenfalls für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas nicht für gerechtfertigt (VGH Baden-Württemberg, a.a.O, Rn. 40).
29 
Der EuGH wiederum hat in seinem Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - das Bestehen einer starken Vermutung dafür festgestellt, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründen in Zusammenhang steht (vgl. EuGH, a.a.O., juris, Rn. 61). Einen entsprechenden Automatismus nimmt der EuGH aber auch in diesen Fällen nicht an. Die Verweigerung des Militärdienstes könne zwar Ausdruck politischer Überzeugung – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zu Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehe – oder religiöser Überzeugungen sein oder ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben. Die Verweigerung könne aber auch in der Furcht begründet sein, sich den Gefahren eines bewaffneten Konflikts auszusetzen (EuGH, a.a.O., Rn. 47; so auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 -, juris, Rn. 7). Auch könne eine Verknüpfung zwischen zumindest einem der in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht als gegeben angesehen werden und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden entzogen werden (EuGH, a.a.O., Rn. 50). Die zuständige Behörde habe in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte, die Plausibilität der Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art 10 der RL 2011/95 genannten Gründen und der Strafverfolgung und Bestrafung zu prüfen, mit der sie im Falle der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen rechnen muss. Jedoch hebt der EuGH in seinem Urteil hervor, dass eine starke Vermutung dafürspreche, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht (EuGH, a.a.O., Rn. 57).
30 
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs geht das erkennende Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) von einer dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung wegen einer ihm unterstellten oppositionellen Haltung im Falle einer Rückkehr nach Syrien aus. Ihm droht Strafverfolgung gem. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, weil er sich glaubhaft der Ableistung eines Militärdienstes verweigern würde, der mit der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG einhergehen würde. So hat er glaubhaft geschildert, dass er Wehrdienst nicht grundsätzlich ablehnt und unter Zwang zwar vordergründig auch in Syrien eine Waffe in die Hand nehmen, aber nicht kämpfen würde, da die Armee gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt würde. Ein Einsatz gegen Zivilisten stellt ein Kriegsverbrechen dar, da sich solche Maßnahmen gegen Personen und Einrichtungen richten, die durch das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten v. 12. August 1949 besonders geschützt sind (dazu OVG LSA NVwZ-RR 2012, NVWZ-RR Jahr 2012 Seite 984 = Asylmagazin 2013, 89). Nach Auffassung des erkennenden Gerichts würde die fehlende Bereitschaft des Klägers mitzukämpfen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bemerkt und der Kläger in asylrelevanter Weise zur Rechenschaft gezogen.
31 
An der Pflicht des Klägers, Militärdienst in Syrien leisten zu müssen, bestehen vorliegend, nicht zuletzt wegen des Seitens des Klägers vorgelegten Wehrdienstheftes (Bl. 56 ff. der Bundesamtsakte), keine Zweifel. Der Kläger ist aufgrund seines Alters auch weiterhin verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. und die Zurückstellung wegen seines Studiums am 23. November 2015 abgelaufen (siehe Wehrdienstheft, Bl. 62 der Bundesamtsakte). So besteht in Syrien eine Militärdienstpflicht grundsätzlich für alle syrischen Männer zwischen 18 und 42 Jahren unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund einschließlich der Palästinenser, die in Syrien leben (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 2. Januar 2017).
32 
Ferner bestehen keine Zweifel, dass dem Kläger eine Strafverfolgung bzw. Bestrafung wegen seiner Wehrdienstentziehung bzw. Wehrdienstverweigerung drohen würde. So wird in Syrien eine Wehrdienstverweigerung nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. AA, Lagebericht vom 20. November 2019, S. 12; AA an VG Düsseldorf vom 02. Januar 2017; „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23. März 2017, S. 8 f.). Nach dessen Art. 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Art. 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre. Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Art. 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (vgl. AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
33 
Keine Rolle kann es wiederum nach Auffassung des erkennenden Gerichts spielen, dass der Kläger im Falle einer unterstellten hypothetischen Rückkehr seinen konkreten Einsatzort und die ihm zugedachte Einheit nicht kennt. Im Kontext des syrischen Bürgerkrieges sind wiederholte und systematische Kriegsverbrechen durch die syrische Armee dokumentiert, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzort dazu veranlasst wird, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung dieser Verbrechen teilzunehmen, sehr hoch ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 37). Folglich ist die Ableistung von Militärdienst im Rahmen eines solchen Bürgerkrieges unabhängig vom konkreten Einsatzgebiet mit der unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 38).
34 
In Übereinstimmung mit dem VGH Baden-Württemberg geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass das syrische Regime nicht unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 40). Auch ist dem VGH Baden-Württemberg zuzustimmen, soweit er in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 ausführt, dass keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die dafürsprechen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als „Oppositioneller“ mit regimekritischen Meinung oder Grundhaltung verfolgt würde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 22. Dezember 2020, juris, Rn. 16, m. w. N.).
35 
Unter Zugrundelegung des dargestellten Urteils des EuGH, ist jedoch nach hier vertretener Auffassung diese Feststellung alleine nicht ausreichend, um die vom EuGH hervorgehobene „starke Vermutung“ einer politischen Verfolgung in Fällen der vorliegenden Art zu wiederlegen. Soweit der VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 darauf abstellt, dass auch nach dem dargestellten Urteil des EuGH weiterhin nur zu prüfen sei, ob eine Verfolgung aufgrund einer (unterstellten) oppositionellen Haltung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe (VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 20) erscheint dies nicht hinreichend. Vielmehr geht das erkennende Gericht davon aus, dass zur Wiederlegung einer „starken Vermutung“ Anhaltspunkte erforderlich sind, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegenteilige Annahme rechtfertigen. Im vorliegenden Fall wären somit nach hier vertretener Ansicht konkrete Anhaltspunkte dafür erforderlich, dass das syrische Regime Wehrdienstverweigerern bzw. Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht eine oppositionelle Haltung unterstellt und sie nicht aus diesem Grund verfolgt werden. Solche Anhaltspunkte sind vorliegend jedoch weder vorgetragen noch aufgrund der Erkenntnismittellage ersichtlich (so auch z. B. VG Frankfurt (Oder), Urt. vom 29. Januar 2021 - 3 K 2873/16.A -, juris, oder VG Regensburg, Urt. vom 15. Dezember 2020 - RN 11 K 20.31283 -, das jedoch die „starke Vermutung“ im konkreten Fall als entkräftet ansieht, juris, Rn. 75, oder das VG Berlin, Urt. vom 08. Dezember 2020 - 13 K 146.17 A -, das von einer widerleglichen Tatsachenvermutung ausgeht, dies im konkreten Fall jedoch als widerlegt ansieht, juris, Rn. 39ff.)
36 
Nicht nachvollziehbar ist für das erkennende Gericht ferner, warum sich die vom EuGH hervorgehobene „starke Vermutung“, so wie vom VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 angenommen, nur auf den Fall der Vorverfolgung beziehen soll (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O., juris, Rn. 18). Letztendlich geht es bei der Vorverfolgung und bei der drohenden Verfolgung im Falle der Rückkehr gleichermaßen darum, ob aus der unter Strafe stehenden Wehrdienstverweigerung bei einem völkerrechtswidrigen Krieg eine starke Vermutung für eine Verfolgung aus politischen Gründen begründet ist. Die rechtlich zu würdigende Situation vor der Ausreise oder im Falle der hypothetischen Rückkehr unterscheiden sich nach hiesiger Auffassung zumindest im vorliegenden Fall nicht. Das heißt, wenn eine politische Verfolgung im Zeitpunkt der Ausreise „stark“ zu vermuten ist, wenn ein Flüchtling glaubhaft darlegt, gerade wegen der Völkerrechtswidrigkeit des syrischen Krieges den Militärdienst verweigert und das Land verlassen zu haben, muss eine politische Verfolgung nach hier vertretener Auffassung ebenfalls „stark“ vermutet werden, wenn er denselben Sachverhalt für den Falle einer glaubhaft darlegt, d.h. nach seiner Rückkehr wegen der Völkerrechtswidrigkeit des syrischen Krieges den Militärdienst zu verweigern. Anhaltspunkte, das der Richtlinien- bzw. Gesetzgeber hier hat differenzieren wollen, sind für das erkennende Gericht nicht ersichtlich.
37 
b) Zuletzt ist der Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht nach § 3a AsylG ausgeschlossen. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG). Neben der auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützten Prognose tatsächlicher Erreichbarkeit muss dem Ausländer am Zufluchtsort die Sicherung seines Existenzminimums möglich sein.
38 
Vorliegend besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger bereits bei einer Einreise am Flughafen von den Grenzbehörden oder dem Geheimdienst festgehalten wird. Darüber hinaus gibt es keinen Landesteil, in den er sicher reisen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen Personen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. EASO, Country Guidance: Syria Common analysis and guidance note, vom 01.09.2020, S. 150; AA, Lagebericht vom 20.11.2019, S. 11).
39 
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

Gründe

 
15 
Der Berichterstatter konnte mit Einverständnis der Beteiligten anstelle der Kammer entscheiden (vgl. § 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO).
16 
Die zulässige Klage ist begründet.
17 
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
18 
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
19 
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Für die Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
20 
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). § 3a Absatz 2 AsylG enthält weitere Beispiele für Verfolgungshandlungen, insbesondere Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, wie z. B. Kriegsverbrechen (§ 3 a Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG).
21 
Eine solche Verfolgung kann vom Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) oder nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.
22 
Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
23 
a) Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor einer Verfolgung begründet ist, müssen die relevanten Rechtsgutsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebens-sachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war (Vorverfolgung), begründet die Vermutung, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, BeckRS 2017, 141174).
24 
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger eine ihn betreffende asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlung in seinem Herkunftsstaat vor seiner Ausreise glaubhaft dargelegt hat, da ihm nach Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
25 
Zur Begründung einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgefahr beruft sich der Kläger auf Wehrdienstentzug bzw. Wehrdienstverweigerung und einer ihm deswegen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
26 
Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Abkehr von der Rechtsprechung des 11. Senats (vgl. Urt. vom 2. Mai 2017 - A 11 S 562/17 - und vom 14. Juni 2017 - A 11 S 511/17 – juris) in seinen Urteilen vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - und vom 27. März 2019 - A 4 S 335/19 - (jeweils juris) festgestellt, dass in ihr Heimatland zurückkehrenden männlichen Syrern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung alleine deswegen droht. Zur Begründung führt er aus, dass die Tatsache, dass das syrische Regime seit längerer Zeit einen durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg führe, der sich auch gegen die Teile der Zivilbevölkerung richte, lasse nicht den Schluss zu,
27 
„dass die Verfolgung von Männern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern sich auch als Verfolgung aufgrund einer den betreffenden Personen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung darstellt“ (VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 39).
28 
Die Annahme, dass das syrische Regime unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet, hält der Senat vor diesem Hintergrund auch in Anbetracht des jedenfalls für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas nicht für gerechtfertigt (VGH Baden-Württemberg, a.a.O, Rn. 40).
29 
Der EuGH wiederum hat in seinem Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - das Bestehen einer starken Vermutung dafür festgestellt, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründen in Zusammenhang steht (vgl. EuGH, a.a.O., juris, Rn. 61). Einen entsprechenden Automatismus nimmt der EuGH aber auch in diesen Fällen nicht an. Die Verweigerung des Militärdienstes könne zwar Ausdruck politischer Überzeugung – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zu Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehe – oder religiöser Überzeugungen sein oder ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben. Die Verweigerung könne aber auch in der Furcht begründet sein, sich den Gefahren eines bewaffneten Konflikts auszusetzen (EuGH, a.a.O., Rn. 47; so auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 -, juris, Rn. 7). Auch könne eine Verknüpfung zwischen zumindest einem der in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht als gegeben angesehen werden und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden entzogen werden (EuGH, a.a.O., Rn. 50). Die zuständige Behörde habe in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte, die Plausibilität der Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art 10 der RL 2011/95 genannten Gründen und der Strafverfolgung und Bestrafung zu prüfen, mit der sie im Falle der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen rechnen muss. Jedoch hebt der EuGH in seinem Urteil hervor, dass eine starke Vermutung dafürspreche, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht (EuGH, a.a.O., Rn. 57).
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Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs geht das erkennende Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) von einer dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung wegen einer ihm unterstellten oppositionellen Haltung im Falle einer Rückkehr nach Syrien aus. Ihm droht Strafverfolgung gem. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, weil er sich glaubhaft der Ableistung eines Militärdienstes verweigern würde, der mit der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG einhergehen würde. So hat er glaubhaft geschildert, dass er Wehrdienst nicht grundsätzlich ablehnt und unter Zwang zwar vordergründig auch in Syrien eine Waffe in die Hand nehmen, aber nicht kämpfen würde, da die Armee gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt würde. Ein Einsatz gegen Zivilisten stellt ein Kriegsverbrechen dar, da sich solche Maßnahmen gegen Personen und Einrichtungen richten, die durch das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten v. 12. August 1949 besonders geschützt sind (dazu OVG LSA NVwZ-RR 2012, NVWZ-RR Jahr 2012 Seite 984 = Asylmagazin 2013, 89). Nach Auffassung des erkennenden Gerichts würde die fehlende Bereitschaft des Klägers mitzukämpfen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bemerkt und der Kläger in asylrelevanter Weise zur Rechenschaft gezogen.
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An der Pflicht des Klägers, Militärdienst in Syrien leisten zu müssen, bestehen vorliegend, nicht zuletzt wegen des Seitens des Klägers vorgelegten Wehrdienstheftes (Bl. 56 ff. der Bundesamtsakte), keine Zweifel. Der Kläger ist aufgrund seines Alters auch weiterhin verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. und die Zurückstellung wegen seines Studiums am 23. November 2015 abgelaufen (siehe Wehrdienstheft, Bl. 62 der Bundesamtsakte). So besteht in Syrien eine Militärdienstpflicht grundsätzlich für alle syrischen Männer zwischen 18 und 42 Jahren unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund einschließlich der Palästinenser, die in Syrien leben (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 2. Januar 2017).
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Ferner bestehen keine Zweifel, dass dem Kläger eine Strafverfolgung bzw. Bestrafung wegen seiner Wehrdienstentziehung bzw. Wehrdienstverweigerung drohen würde. So wird in Syrien eine Wehrdienstverweigerung nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. AA, Lagebericht vom 20. November 2019, S. 12; AA an VG Düsseldorf vom 02. Januar 2017; „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23. März 2017, S. 8 f.). Nach dessen Art. 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Art. 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre. Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Art. 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (vgl. AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
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Keine Rolle kann es wiederum nach Auffassung des erkennenden Gerichts spielen, dass der Kläger im Falle einer unterstellten hypothetischen Rückkehr seinen konkreten Einsatzort und die ihm zugedachte Einheit nicht kennt. Im Kontext des syrischen Bürgerkrieges sind wiederholte und systematische Kriegsverbrechen durch die syrische Armee dokumentiert, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzort dazu veranlasst wird, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung dieser Verbrechen teilzunehmen, sehr hoch ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 37). Folglich ist die Ableistung von Militärdienst im Rahmen eines solchen Bürgerkrieges unabhängig vom konkreten Einsatzgebiet mit der unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 38).
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In Übereinstimmung mit dem VGH Baden-Württemberg geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass das syrische Regime nicht unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 40). Auch ist dem VGH Baden-Württemberg zuzustimmen, soweit er in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 ausführt, dass keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die dafürsprechen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als „Oppositioneller“ mit regimekritischen Meinung oder Grundhaltung verfolgt würde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 22. Dezember 2020, juris, Rn. 16, m. w. N.).
35 
Unter Zugrundelegung des dargestellten Urteils des EuGH, ist jedoch nach hier vertretener Auffassung diese Feststellung alleine nicht ausreichend, um die vom EuGH hervorgehobene „starke Vermutung“ einer politischen Verfolgung in Fällen der vorliegenden Art zu wiederlegen. Soweit der VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 darauf abstellt, dass auch nach dem dargestellten Urteil des EuGH weiterhin nur zu prüfen sei, ob eine Verfolgung aufgrund einer (unterstellten) oppositionellen Haltung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe (VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 20) erscheint dies nicht hinreichend. Vielmehr geht das erkennende Gericht davon aus, dass zur Wiederlegung einer „starken Vermutung“ Anhaltspunkte erforderlich sind, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegenteilige Annahme rechtfertigen. Im vorliegenden Fall wären somit nach hier vertretener Ansicht konkrete Anhaltspunkte dafür erforderlich, dass das syrische Regime Wehrdienstverweigerern bzw. Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht eine oppositionelle Haltung unterstellt und sie nicht aus diesem Grund verfolgt werden. Solche Anhaltspunkte sind vorliegend jedoch weder vorgetragen noch aufgrund der Erkenntnismittellage ersichtlich (so auch z. B. VG Frankfurt (Oder), Urt. vom 29. Januar 2021 - 3 K 2873/16.A -, juris, oder VG Regensburg, Urt. vom 15. Dezember 2020 - RN 11 K 20.31283 -, das jedoch die „starke Vermutung“ im konkreten Fall als entkräftet ansieht, juris, Rn. 75, oder das VG Berlin, Urt. vom 08. Dezember 2020 - 13 K 146.17 A -, das von einer widerleglichen Tatsachenvermutung ausgeht, dies im konkreten Fall jedoch als widerlegt ansieht, juris, Rn. 39ff.)
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Nicht nachvollziehbar ist für das erkennende Gericht ferner, warum sich die vom EuGH hervorgehobene „starke Vermutung“, so wie vom VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 angenommen, nur auf den Fall der Vorverfolgung beziehen soll (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O., juris, Rn. 18). Letztendlich geht es bei der Vorverfolgung und bei der drohenden Verfolgung im Falle der Rückkehr gleichermaßen darum, ob aus der unter Strafe stehenden Wehrdienstverweigerung bei einem völkerrechtswidrigen Krieg eine starke Vermutung für eine Verfolgung aus politischen Gründen begründet ist. Die rechtlich zu würdigende Situation vor der Ausreise oder im Falle der hypothetischen Rückkehr unterscheiden sich nach hiesiger Auffassung zumindest im vorliegenden Fall nicht. Das heißt, wenn eine politische Verfolgung im Zeitpunkt der Ausreise „stark“ zu vermuten ist, wenn ein Flüchtling glaubhaft darlegt, gerade wegen der Völkerrechtswidrigkeit des syrischen Krieges den Militärdienst verweigert und das Land verlassen zu haben, muss eine politische Verfolgung nach hier vertretener Auffassung ebenfalls „stark“ vermutet werden, wenn er denselben Sachverhalt für den Falle einer glaubhaft darlegt, d.h. nach seiner Rückkehr wegen der Völkerrechtswidrigkeit des syrischen Krieges den Militärdienst zu verweigern. Anhaltspunkte, das der Richtlinien- bzw. Gesetzgeber hier hat differenzieren wollen, sind für das erkennende Gericht nicht ersichtlich.
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b) Zuletzt ist der Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht nach § 3a AsylG ausgeschlossen. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG). Neben der auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützten Prognose tatsächlicher Erreichbarkeit muss dem Ausländer am Zufluchtsort die Sicherung seines Existenzminimums möglich sein.
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Vorliegend besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger bereits bei einer Einreise am Flughafen von den Grenzbehörden oder dem Geheimdienst festgehalten wird. Darüber hinaus gibt es keinen Landesteil, in den er sicher reisen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen Personen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. EASO, Country Guidance: Syria Common analysis and guidance note, vom 01.09.2020, S. 150; AA, Lagebericht vom 20.11.2019, S. 11).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

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