Beschluss vom Verwaltungsgericht Stuttgart - 2 K 225/22

Tenor

Das Verwaltungsgericht ist sachlich unzuständig.

Der Rechtsstreit wird an den zuständigen Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg verwiesen.

Die Kosten des Verfahrens bleiben der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

 
I.
Die beigeladene Bauherrin beantragte im August 2018 bei der unteren Immissionsschutzbehörde des Landratsamts L. die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung zweier Windenergieanlagen mit einer Gesamthöhe von jeweils rund 240 m auf der Gemarkung X. Der vorgesehene Anlagenstandort liegt allerdings innerhalb eines durch den Regionalplan des Verbands Region Stuttgart vom 22.07.2009 zeichnerisch festgelegten regionalen Grünzugs. Der darauf bezogene Plansatz 3.1.1 (Z) des genannten Plans bestimmt u.a.: „Regionale Grünzüge dürfen keiner weiteren Belastung, insbesondere durch Bebauung ausgesetzt werden.
Deswegen beantragte das Landratsamt im August 2020 bei der höheren Raumordnungsbehörde des Regierungspräsidiums Stuttgart die Zulassung einer Abweichung (vgl. § 6 Abs. 2 ROG i.V.m. § 24 Satz 1 LPlG) von diesem regionalplanerischen Ziel für die Errichtung der beiden Anlagen. Am 16.12.2021 erteilte das Regierungspräsidium diese Zielabweichung dem Landratsamt und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit dieses Bescheids an.
Im Januar 2022 hat die Klägerin, eine Nachbargemeinde, Drittanfechtungsklage gegen den Zielabweichungsbescheid erhoben. Die Beteiligten sind zur Frage angehört worden, ob nicht der Verwaltungsgerichtshof für diese Streitigkeit nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a VwGO zuständig sei. Die Klägerin hat hierzu ausgeführt, das Verwaltungsgericht bleibe zuständig. § 48 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VwGO habe (nur) den Zweck, sicherzustellen, dass Ausnahmen von der Konzentrationswirkung (der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung) nicht zu Ausnahmen von der sachlichen Zuständigkeit des VGH führten. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei jedoch keine im Vorfeld für das Vorhaben der Beigeladenen relevante Erlaubnis oder Genehmigung, sondern eine Entscheidung über eine Ausnahme auf der Ebene der Raumplanung. Das beklagte Land ist der Meinung, auch wenn es nach der Intention des Gesetzgebers sicher wünschenswert wäre, dass bereits § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a VwGO das Zielabweichungsverfahren mitumfasse, sei die Zulassung einer Zielabweichung gerade keine teilweise Anlagenzulassung. Ihr komme keine unmittelbare Freigabe- oder Gestattungswirkung zu. Es handele sich um ein der Anlagenzulassung vorgelagertes Verfahren. Eine Zielabweichungsentscheidung werde gerade nicht von der Konzentrationswirkung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung mitumfasst. Die beigeladene Bauherrin ist dagegen der Auffassung, § 48 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VwGO greife da ein, wo es an einer Konzentrationswirkung fehle oder diese sich nicht auf alle Genehmigungen und Erlaubnisse erstrecke, die für das Vorhaben erforderlich sind. Mithin führe diese Vorschrift zu einer eigenständigen prozessualen Konzentrationswirkung, welche ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall gebiete.
II.
Für das vorliegende Verfahren ist das Verwaltungsgericht Stuttgart nicht zuständig. Sachlich zuständig ist nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a i.V.m. Satz 2 Alt. 2 VwGO vielmehr der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Zwar ist Verfahrensgegenstand unzweifelhaft keine Streitigkeit, welche „die Errichtung, den Betrieb und die Änderung von Anlagen zur Nutzung von Windenergie an Land mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern“ als solche betrifft. Die durch Satz 1 der genannten Bestimmung begründeten Zuständigkeiten des Verwaltungsgerichtshofs erfahren aber in Satz 2 Alt. 2 VwGO eine dahingehende Erweiterung, dass sie auch „für Streitigkeiten über sämtliche für das Vorhaben erforderlichen Genehmigungen und Erlaubnisse“ gelten. Ein solche gesetzlich vorgesehene Zuständigkeitserweiterung liegt beim Streit um die hier angegriffene Zielabweichung zur Ermöglichung der Errichtung von Windenergieanlagen vor.
Dem steht zunächst nicht entgegen, dass das Landesplanungsgesetz in § 24 nicht den Begriff „Zielabweichungserlaubnis“ oder „Zielabweichungsgenehmigung“ verwendet, sondern von der „Zulassung“ einer solchen Abweichung spricht. Auch kann § 48 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VwGO nicht entnommen werden, dass die in dieser Vorschrift enthaltene Zuständigkeitserweiterung nur selbständig vollziehbare (Teil-)Genehmigungen zu einer Anlagengenehmigung umfasst.
Allerdings darf sich die weitere Erlaubnis, Genehmigung oder Zulassung nicht zu weit im Vorfeld der Anlagenzulassung befinden. Deswegen wird vertreten, § 48 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VwGO finde auf „raumordnungsrechtliche Fragen“ keine Anwendung (vgl. etwa Berstermann, in: BeckOK VwGO, Stand: 01.10.2021, § 48 Rn. 7 unter Bezugnahme auf OVG NRW, Beschl. v. 29.05.1996 - 23 D 128/95.AK - UPR 1996, 454 juris Rn. 11 und OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 06.08.1999 - C 2 S 290/99 - juris Rn. 3f.). In den Sachverhalten der beiden genannten obergerichtlichen Entscheidungen waren aber noch gar keine Anlagenzulassungsverfahren eingeleitet; es ging nur um raumordnungsrechtliche Fragen.
Damit ist der Sachverhalt des vorliegenden Verfahrens nicht vergleichbar, dessen Gegenstand eine regionalplanerische Zielabweichung ist, welche jedenfalls aus einem bereits anhängigen immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren für konkrete Windenergieanlagen heraus beantragt, erteilt und angefochten worden ist. Es bestand sogar die Besonderheit, dass der Antrag auf Erteilung einer Zielabweichung erst zwei Jahre (!) nach Einleitung des immissionsschutzrechtlichen Verfahrens gestellt worden ist. Würde man in einem solchen Fall gleichwohl von einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ausgehen, würde die Intention des Bundesgesetzgebers bei der erst im Jahr 2020 erfolgten Einfügung des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a in die Verwaltungsgerichtsordnung konterkariert. Seine Motivation war damals ausweichlich der Gesetzgebungsmaterialien, „… die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte auf Streitigkeiten über die Errichtung, den Betrieb und die Änderung von Anlagen zur Nutzung von Windenergie an Land mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern“ auszudehnen. „Der Ausbau der Windenergie an Land ist unter anderem deshalb zurückgegangen, weil oftmals Rechtsstreitigkeiten über Genehmigungen geführt werden. Die Verkürzung des Instanzenzugs beschleunigt die Erwirkung einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung. Dies hilft, Ausbauziele für Windenergie an Land zu erreichen, was von zentraler Bedeutung für die Energiewende ist“ (so BT-Drs. 19/22139, S. 16).
Daher bedarf es keiner vertieften Auseinandersetzung der Kammer mit der Frage, ob nicht die Bejahung der Zuständigkeitserweiterung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VwGO hier auch deswegen geboten erscheint, weil nach einer im Vordringen befindlichen Auffassung wegen der gesetzlich angeordneten Konzentrationswirkung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung in § 13 BImSchG mit nur wenigen ausdrücklich aufgezählten Ausnahmen ohnehin vom Landratsamt Göppingen über eine notwendige Zielabweichung mitzuentscheiden gewesen wäre (so OVG Nieders., Beschl. v. 15.12.2021 - 12 MS 97/21 - juris Rn. 21 ff.; Jarass, in: Ders., BImSchG, 13. Aufl. 2020, § 13 Rn. 6a; Kümper, Drittschutz beim Vollzug von Raumordnungsplänen, NuR 2021, 588, 589). Dann würde es zum Auseinanderfallen des Rechtsschutzes gegen die Anlagengenehmigung und die Zielabweichung ohnehin nicht kommen; der Verwaltungsgerichtshof müsste zwangsläufig über die Zielabweichung in erster Instanz mitentscheiden.
III.
Der Rechtsstreit ist daher gemäß § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG entsprechend an den zuständigen Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zu verweisen, der auch über die im Verfahren vor dem angegangenen Verwaltungsgericht Stuttgart angefallenen Kosten zu entscheiden haben wird (§ 17b Abs. 2 GVG entspr.).
10 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 83 Satz 2 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 GVG).

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