Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 4 S 1933/20

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20. Mai 2020 - 17 K 13739/17 - wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Zulassungsverfahrens.

Gründe

 
Der Kläger wendet sich unter Hinweis auf die unangemessene Dauer des Eilverfahrens gegen ein Urteil, mit dem das Verwaltungsgericht wegen der Unmöglichkeit der Überstellung infolge der Corona-Pandemie die Anordnung der Abschiebung nach Bulgarien sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aufgehoben, die Klage im Übrigen - das heißt, soweit sie sich gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG richtet - aber abgewiesen hat. Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
1. Zur Begründung seines auf grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und Verfahrensmängel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) gestützten Zulassungsantrags führt der Kläger aus, es sei die Frage zu klären, wie lange die angemessene Entscheidungsfrist im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO sei, ob sich der Kläger auf die Überschreitung der Frist berufen könne mit der Folge, dass die Überstellungsentscheidung aufzuheben sei, und schließlich, ob diese Aufhebung dann zur Folge habe, dass der ersuchende Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig werde. Der Kläger verweist in dem Zusammenhang darauf, dass sein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erst nach ungefähr zwei Jahren mit Beschluss vom 19.07.2019 (A 12 K 13738/17) abgelehnt worden sei, ein angemessenes gerichtliches Verfahrens aber nicht länger dauern dürfe als die Überstellungsfrist selbst, wobei sogar eine 18monatige Frist wegen Flucht abgelaufen wäre. Aus der Entscheidung des EuGH vom 26.07.2017 - C-670/16 - (Mengesteab) ergebe sich, dass Dublin-Fristen grundsätzlich individualschützend seien. Die Gehörsverletzung ergebe sich daraus, dass das Gericht den entsprechenden Vortrag aus dem Schriftsatz vom 08.05.2020 nicht zur Kenntnis genommen habe. Mit diesem Schriftsatz übermittelte der Kläger die Begründung seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Eilbeschluss vom 19.07.2019 und den nachfolgenden Beschluss über die Zurückweisung der Anhörungsrüge vom 04.09.2019 (A 12 K 5226/19); die Ausführungen decken sich hinsichtlich Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO im Wesentlichen mit der Begründung des Zulassungsantrags.
2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt nicht vor. Sie ist dann gegeben, wenn mit ihr eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung nicht geklärte Frage von allgemeiner, d.h. über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung aufgeworfen wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war und sich im Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26.04.2019 - A 12 S 2038/18 -, Juris Rn. 2). Die Klärungsbedürftigkeit einer Rechts- oder Tatsachenfrage ist unter anderem dann zu verneinen, wenn die Frage bereits geklärt ist, wenn sie aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.10.2019 - 11 S 1835/19 -, Juris Rn. 11). Dies ist hier der Fall.
Zwar erscheint eine Dauer von ungefähr zwei Jahren für ein Eilverfahren schwerlich als „angemessene Frist“ im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO. Nach Auffassung des Senats kommt es darauf jedoch nicht an, weil sich die daran anknüpfende Frage zur Relevanz einer Fristüberschreitung - aus der allein sich ein (weitergehender) Erfolg der Klage ergeben könnte - auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten lässt. Der Kläger weist im Ausgangspunkt zu Recht auf das Urteil des EuGH vom 26.07.2017 - C-670/16 - hin, wonach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf einer in Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO genannten Frist berufen kann (vgl. in diesem Sinne schon EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - C-63/15 - [Ghezelbash] und Urteil vom 25.10.2017 - C-201/16 - [Shiri]). Der EuGH hebt in Bezug auf die mit der Verordnung verfolgten Ziele insbesondere hervor, dass mit ihr angesichts der bisherigen Erfahrungen die notwendigen Verbesserungen nicht nur hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems vorgenommen werden sollen, sondern auch hinsichtlich des Schutzes der Antragsteller, der insbesondere durch einen ihnen gewährten effektiven und vollständigen gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt wird, und dass eine restriktive Auslegung des Umfangs des in Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Rechtsbehelfs der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen könnte (EuGH, Urteil vom 26.07.2017 - C-670/16 - [Mengesteab], Juris Rn. 46 f.). Der EuGH weist insoweit allerdings ausdrücklich auch darauf hin, „dass der Unionsgesetzgeber die Auswirkungen des Ablaufs dieser Fristen ... geregelt hat“ (Juris Rn. 52). Dem Aspekt, welche Wirkungen der Unionsgesetzgeber im Falle eines Fristablaufs vorgesehen hat, misst der EuGH auch in anderem Zusammenhang entscheidende Bedeutung bei (vgl. EuGH, Urteil vom 25.01.2018 - C-360/16 - [Hasan], Juris Rn. 87 ff. zu Art. 24 Abs. 2 und 3 Dublin III-VO sowie EuGH, Urteil vom 13.11.2018 - C-47/17 und C-48/17 - [X und X], Juris Rn. 60 f., 78 zu Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003).
Dies ist der entscheidende Unterschied zu Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO. Nicht nur ist - im Unterschied zu Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO - eine konkrete Fristdauer nicht bestimmt. Vor allem und entscheidend hat der Verordnungsgeber für die Nichteinhaltung der Frist des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO keinen Übergang der Zuständigkeit angeordnet. Die Dublin III-VO dient der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) anhand eines komplexen, wenn auch nicht lückenlosen Systems zahlreicher Kriterien. Eine Regelungslücke ergibt sich für den Senat aus den Darlegungen des Klägers nicht. Dieser möchte vielmehr einen Zuständigkeitsübergang annehmen, ohne dass eine dies stützende Norm existiert. Dies kommt bei einem ausdifferenzierten Regelwerk wie der Dublin III-VO jedoch nicht in Betracht. Zur Gewährleistung zeitnahen Rechtsschutzes ist der Kläger vielmehr auf die prozessualen Möglichkeiten wie etwa die Verzögerungsrüge (§ 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 3 GVG) zu verweisen.
3. Die Berufung ist auch nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Das Gebot rechtlichen Gehörs (vgl. Art. 103 Abs. 1 GG) gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, alles aus seiner Sicht Wesentliche vortragen zu können, und verpflichtet das Gericht, dieses Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Entscheidungserwägungen einzustellen. Es gebietet hingegen insbesondere nicht, dass sich das Gericht in seinen schriftlichen Entscheidungsgründen mit jeder Einzelheit ausdrücklich und in ausführlicher Breite auseinandersetzt oder seine Rechtsauffassung vor seinem Urteil offenbart und rechtliche Hinweise erteilt. Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellen will, mit dem oder mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht. Art. 103 Abs. 1 GG ist grundsätzlich erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen bzw. bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.12.2006 - 2 BvR 722/06 -; BVerwG, Beschlüsse vom 26.05.1999 - 6 B 65.98 - und vom 04.06.2020 - 2 B 26.19 -; jeweils Juris).
Eine Verletzung rechtlichen Gehörs setzt weiter voraus, dass die angegriffene Entscheidung auf dem Fehlen des rechtlichen Gehörs beruht. Dies ist nur dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die zur Kenntnisnahme von tatsächlichem Vorbringen eines Beteiligten zu einer anderen und für ihn günstigeren Entscheidung geführt hätte. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen. Demzufolge muss vom Zulassungsantragsteller auch in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz dargelegt werden, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, weshalb mithin der geltend gemachte Gehörsverstoß entscheidungserheblich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.02.1998 - 4 B 2.98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.09.2017 - A 11 S 2067/17 -; beide Juris).
Dergleichen kann hier nicht angenommen werden. Vielmehr ergibt sich aus den obigen Ausführungen, dass die Klage auch dann nicht in weitergehendem Umfang Erfolg gehabt hätte, wenn das Verwaltungsgericht die Argumentation des Klägers zur nicht mehr angemessenen Dauer des Eilverfahrens aufgegriffen hätte.
10 
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (vgl. § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
11 
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
12 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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