Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 1 S 3715/20

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20. November 2020 - 1 K 5607/20 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
1. Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Die dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), geben dem Senat keinen Anlass, über den Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines - noch nicht erhobenen - Widerspruchs gegen die versammlungsrechtliche Auflage im Bescheid der Antragsgegnerin vom 18.11.2020, wonach alle Versammlungsteilnehmer bei der vom Antragsteller für den 21.11.2020 angemeldeten Demonstration in Bad Mergentheim, die ein ärztliches Attest vorweisen können, welches vom Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes befreit, verpflichtet sind, einen Plexiglas-Gesichtsschutz (sog. Vollvisier) zu tragen, zu Recht abgelehnt. Auf die zutreffende Begründung des Verwaltungsgerichts wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung.
a) Ohne Erfolg macht der Antragsteller geltend, eine Auflage zum Tragen eines Plexiglas-Gesichtsschutzes könne rechtmäßigerweise nicht verfügt werden, da solche Schilde generell ungeeignet seien und daher im Umkehrschluss zu deren Tragen nicht verpflichtet werden könne. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, ein Plexiglas-Gesichtsschutz sei nicht gänzlich ungeeignet, sondern könne - wenngleich nicht in gleichem Maße wie eine Mund-Nasen-Bedeckung - die Ausbreitung des Virus jedenfalls bei Verwendung im Freien erschweren; die Rückhaltewirkung von Visieren auf ausgestoßene respiratorische Flüssigkeitspartikel sei zwar deutlich schlechter als die einer Mund-Nasen-Bedeckung; Visiere seien aber jedenfalls geeignet, die direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen aufzufangen. Die Informationsseiten des Landes Baden-Württemberg, auf die der Antragsteller für seine Auffassung einer generellen Ungeeignetheit von Visieren Bezug nimmt, betreffen die Frage, ob die nach § 3 CoronaVO bestehende Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung durch ein Gesichtsschild erfüllt werden kann, und verneinen diese Frage. Sodann ist dort ausgeführt:
„Schutzschilde sind lediglich eine Art ‚Spuckschutz‘ oder Schutzbrille. Sie eignen sich als zusätzliche Komponente der persönlichen Schutzausrüstung für Tätigkeiten, bei denen es spritzt. Beim alleinigen Einsatz eines Schutzschildes fehlt eine Filterwirkung der Ausatemluft, wie sie bei Gewebe gegeben ist. Insofern ist ein Schutzschild – wie ein Motorradhelm – als ungeeignet anzusehen.“(https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/aktuelle-infos-zu-corona/faq-corona-verordnung/)
Die Verneinung der Eignung von Schutzschilden durch das Land Baden-Württemberg bezieht sich mithin auf die Frage der Eignung zur Erreichung der Zwecke des § 3 CoronaVO. Eine völlige Ungeeignetheit des Schutzschilds, Tröpfchen aufzufangen, ergibt sich daraus nicht. Von der Funktion, als Spuckschutz dienen zu können, geht auch das Land Baden-Württemberg aus. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass Schutzschilde jedenfalls geeignet sind, die direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen aufzufangen, steht damit in Einklang.
Ohne Erfolg beruft sich der Antragsteller insoweit auch auf die vom Verwaltungsgericht herangezogene Veröffentlichung des Robert-Koch-Instituts. Dort ist u.a. ausgeführt:
„Die Verwendung von Visieren kann daher nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand nicht als Alternative zur MNB angesehen werden. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass die Rückhaltewirkung von Visieren auf ausgestoßene respiratorische Flüssigkeitspartikel deutlich schlechter ist.“ (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Infektionsschutz.html#FAQId14030212)
Auch daraus ergibt sich, dass Visiere nicht geeignet sind, die mit der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung verfolgten Zwecke zu erfüllen, dass eine Rückhaltewirkung der Visiere auf ausgestoßene respiratorische Flüssigkeitspartikel jedoch - wenn auch deutlich schlechter als bei Mund-Nasen-Bedeckungen - besteht.
Ebenso erfolglos beruft sich der Antragsteller auf https://www.doz-verlag.de/news/corona-wo-visiere-als-alternative-zur-maske-gelten. Dort ist u.a. ausgeführt:
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„Das Robert Koch-Institut (RKI) hält die durchsichtigen Visiere nach wie vor nicht für eine ‚gleichwertige Alternative‘ zur herkömmlichen Maske. Diese könnten in der Regel maximal nur die direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen auffangen, heißt es auf der Website des Instituts. Wissenschaftler der Florida Atlantic University haben jüngst anhand einer Video-Untersuchung getestet, wie unterschiedliche Gesichtsmasken und Visiere vor einer Infektion schützen. Mithilfe einer speziellen Puppe stellten sie den Ausstoß von Tröpfchen beim Husten bzw. Niesen dar, durch Laserlicht verfolgten sie die Bewegung der künstlich hergestellten Spritzer. Das Ergebnis: Die Töpfchen verteilen sich um das Visier herum im Raum.“
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Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, Visiere seien jedenfalls bei der Verwendung im Freien geeignet, die direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen aufzufangen, steht damit nicht in Widerspruch.
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Unbegründet ist folglich auch das Beschwerdevorbringen, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhe auf einer eigenständigen fachlichen Schlussfolgerung, zu welcher das Gericht nicht berufen sei.
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b) Ohne Erfolg macht der Antragsteller geltend, das Verwaltungsgericht habe sich nicht ausreichend mit der notwendigen Rechtsgrundlage für die angefochtene Auflage auseinandergesetzt. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass die Auflage ihre Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 2 Satz 2 der CoronaVO i.V.m. § 15 Abs. 1 VersG finden dürfte. Das Beschwerdevorbringen, dass nach diesen Vorschriften nur Maßnahmen des Infektionsschutzes angeordnet werden dürften, dass dem vom Verwaltungsgericht zitierten Robert-Koch-Institut als auch den Ausführungen des Landes Baden-Württemberg zu entnehmen sei, dass es sich beim Gesichtsschild nur um eine Eigenschutzmaßnahme handele, dass sich mit bloßen Eigenschutzmaßnahmen die Corona-Verordnung aber nicht befasse, genügt bereits nicht dem Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 VwGO. Denn das Verwaltungsgericht hat mit der von ihm bejahten Eignung von Visieren, die Ausbreitung des Virus jedenfalls bei Verwendung im Freien insoweit zu erschweren, als direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen aufgefangen würden, das Visier als Maßnahme des Schutzes anderer Personen angesehen. Denn es hat insoweit ausgeführt:
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„Dies bedeutet, dass grundsätzlich eine Mund-Nasen-Bedeckung vorzugswürdig ist, aber Personen, die eine solche aus medizinischen Gründen nicht tragen können, die von ihnen ausgehende Gefährdung durch Tragen eines Vollvisiers jedenfalls reduzieren können. Dies gilt gerade bei Versammlungen wie der vorliegenden, bei der auch Passanten angesprochen und Flyer an diese verteilt werden sollen, weil die Visiere die auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen auffangen.“
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Unabhängig von dem Darlegungsmangel ist das genannte Vorbringen auch inhaltlich unbegründet. Denn aus den Äußerungen des Robert-Koch-Institutes und des Landes Baden-Württemberg auf seiner Homepage ergibt sich nicht, dass Visiere nur Maßnahme des Eigenschutzes sind. Die - wenn auch geringfügige - Zurückhaltung von Tröpfchen desjenigen, der ein Visier trägt, dient gerade dazu, Dritte vor diesen Tröpfchen zu schützen.
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c) Ohne Erfolg macht der Antragsteller schließlich geltend, dass dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit ein außerordentlicher Wert im Gefüge der Verfassung zukomme und die Auflage zum Ausschluss einzelner Teilnehmer von der Versammlung führen könne, soweit diese sich der Auflage nicht beugen wollten. Das Verwaltungsgericht und die Versammlungsbehörde haben die hohe Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht verkannt. Die Auflage dürfte zu einem - gerechtfertigten - Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters der Versammlung und der Versammlungsteilnehmer führen. Denn zum Grundrecht nach Art. 8 Abs. 1 GG gehört nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben. Es umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (vgl. BVerfGE 69, 315, 343, 355 ff.; 128, 226, 250 f.; Kammerbeschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 - juris Rn. 16), mithin auch die Entscheidung darüber, in welcher Form man an der Versammlung teilnehmen will. Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt mithin, dass der Veranstalter sein Versammlungsanliegen einschließlich der Begleitumstände eigenständig konkretisieren darf. Dieses Recht, auch über die eigene „Aufmachung“ zu entscheiden, an der man an einer Versammlung teilnehmen will, kann jedoch zum Schutz anderer Rechtsgüter beschränkt werden, z.B. durch das Vermummungsverbot des § 17a VersG und die Strafbestimmungen des § 86a StGB. Gefährdet die Durchführung der Versammlung andere Rechtsgüter, ist es Aufgabe der Behörde, die wechselseitigen Interessen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Ausgleich zu bringen. Die Bewertung der gegenläufigen Interessen und ihrer Abwägung mit dem Versammlungsinteresse liegt bei der Behörde (BVerfG, Beschl. v. 26.01.2001 - 1 BvQ 8/01 - NJW 2001, 1407), die insoweit uneingeschränkt der gerichtlichen Kontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG unterliegt. Diesen Ausgleich zwischen den Interessen des Gesundheitsschutzes angesichts der gegenwärtigen Pandemie und dem Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters und der Versammlungsteilnehmer hat die Antragsgegnerin hier voraussichtlich fehlerfrei vorgenommen.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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