Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 4. Juni 2021 - 1 K 2019/21 - geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 02.06.2021 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
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| 1. Der Senat entscheidet über die heute um kurz nach 10 Uhr eingegangene Beschwerde der Antragstellerin zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO, da die Versammlung, die die Antragstellerin veranstalten möchte, heute stattfinden soll und sie das mit der Beschwerde verfolgte Ziel nur bei einer vorherigen Entscheidung des Senats vollständig erreichen könnte. Die Antragstellerin hat ihre Beschwerde bereits in der Beschwerdeschrift begründet. Die Antragsgegnerin hatte Gelegenheit, sich zu der Beschwerdeschrift zu äußern, und hat hiervon Gebrauch gemacht. |
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| 2. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung im Beschwerdeverfahren regelmäßig beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), geben dem Senat Anlass, über den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden. Die Antragsgegnerin hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid die von der Antragstellerin für heute, ab 16:00 Uhr, mit dem Thema „Friedensmarsch für Unterdrückte Völker (Palästina, Uyguren)“ mit ca. 300 Teilnehmern angemeldete Versammlung unter Anordnung des Sofortvollzugs verboten. Auf den Antrag der Antragstellerin ist die aufschiebende Wirkung ihres am 03.06.2021 hiergegen eingelegten Widerspruchs wiederherzustellen. Denn die Verfügung der Antragsgegnerin vom 02.06.2021 ist voraussichtlich rechtswidrig. |
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| a) Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet werden, wenn das Interesse des Antragstellers, von den Wirkungen der Verfügung einstweilen verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Das Gewicht der gegenläufigen Interessen wird vor allem durch die summarisch zu prüfenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, aber auch durch die voraussichtlichen Folgen des Suspensiveffekts einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits bestimmt. Bei der Abwägung auf Grund summarischer Erfolgsprüfung hat das Suspensivinteresse umso stärkeres Gewicht, je größer die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs sind. Dem Vollzugsinteresse ist hingegen umso größeres Gewicht beizumessen, je weniger Aussicht auf Erfolg der Rechtsbehelf hat. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens nicht abschätzen, ist eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die voraussichtlichen Folgen des Suspensiveffekts einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits zu gewichten sind; in versammlungsrechtlichen Verfahren ist dabei nach Möglichkeit eine möglichst weitgehende Prüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorzunehmen, die über eine reine Folgenabwägung hinausgeht. |
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| Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben überwiegt das Suspensivinteresse der Antragstellerin das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, weil sich das Verbot der Versammlung zum Thema „Friedensmarsch für Unterdrückte Völker (Palästina, Uyguren)“ in der Verfügung der Antragsgegnerin vom 02.06.2021 als voraussichtlich rechtswidrig erweist. |
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| b) Gemäß § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei der Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst dabei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 − 1 BvR 233/81 − BVerfGE 69, 315, juris Rn. 77; BVerwG, Urt. v. 25.06.2008 − 6 C 21.07 − juris Rn. 13). |
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| Die Norm genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen allerdings nur, wenn sie unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit ausgelegt und angewandt wird. Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (Senat, Beschl. v. 16.05.2020 – 1 S 1541/20 – juris Rn. 3). Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet dem Grundrechtsträger das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung (BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985, a.a.O., Rn. 61 und v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 – juris Rn. 54). Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde bei einem Versammlungsverbot daher keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Das für beschränkende Verfügungen vorauszusetzende Erfordernis einer unmittelbaren Gefährdung setzt daher eine Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen führt. Erforderlich sind daher zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung erkennbare konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte, aus denen sich die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ergibt; bloße Vermutungen reichen nicht aus (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 – 1 BvR 2793/04 – juris Rn. 20 und v. 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris Rn. 17). Versammlungsverbote sind nur zum Schutz von Rechtsgütern zulässig, die der Versammlungsfreiheit zumindest gleichwertig sind. Andernfalls entsprechen sie nicht dem Gebot der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). |
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| Aus früheren Versammlungen kann sich eine Indizwirkung für das Gefahrenpotential ableiten. Als Vorgängerversammlungen sind in erster Linie diejenigen Veranstaltungen heranzuziehen, die bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen. Haben sich bei Veranstaltungen an anderen Orten mit anderen Beteiligten Gefahren verwirklicht, so müssen besondere, von der Behörde bezeichnete Umstände die Annahme rechtfertigen, dass ihre Verwirklichung ebenfalls bei der nunmehr geplanten Versammlung zu befürchten ist (BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 − 1 BvR 2147/09 − juris Rn.13). |
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| Lediglich von einzelnen Teilnehmern ausgehende Gefahren für die öffentliche Sicherheit können in der Regel Maßnahmen gegenüber der gesamten Versammlung, insbesondere ein Versammlungsverbot nach § 15 Abs. 1 VersG nicht rechtfertigen. Für die überwiegende Anzahl der friedlichen, Versammlungsteilnehmer, von denen keine Gefahren für die öffentliche Sicherheit ausgeht und die Gefahren für die öffentliche Sicherheit auch weder anstrebt noch billigt, bleibt der grundrechtliche Schutz von Art. 8 Abs. 1 GG insoweit ungemindert bestehen (BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985, a.a.O.; Barczak, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 Rn. 206). |
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| Nach diesem Maßstab sind aufgrund der Gefahrenprognose im angefochtenen Bescheid, der von der Antragsgegnerin vorgelegten Unterlagen und des gesamten Akteninhalts hinreichende Anhaltspunkte für so gravierende Gefahren für die öffentliche Sicherheit, dass ein Versammlungsverbot nach § 15 Abs. 1 VersG gerechtfertigt wäre, nicht erkennbar: |
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| aa) Die von der Antragsgegnerin angeführten Angriffe auf Polizeibeamte im Anschluss an die Versammlung vom 15.05.2021 vor allem durch Bewerfen mit Gegenständen, u.a. Steinen, können das streitige Versammlungsverbot voraussichtlich nicht rechtfertigen. Angriffe auf Polizeibeamte sind zweifellos Verletzungen der öffentlichen Sicherheit, da das verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgut von besonderem Rang, der Schutz der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, infrage steht und Angriffe auf Polizeibeamte in der Regel Straftaten und daher auch Verletzungen der objektiven Rechtsordnung sind. Zudem stellen Angriffe auf Polizeibeamte das unverzichtbare Gewaltmonopol des Staates und damit letztlich auch die gesellschaftliche Friedensordnung infrage. Gleichwohl können die Auseinandersetzungen im Anschluss an die Versammlung vom 15.05.2021 das streitige Versammlungsverbot voraussichtlich nicht tragen. Denn nach dem Bericht des Führungs- und Einsatzstabs des Polizeipräsidiums Mannheim vom 15.05.2021 kam es am 15.05.2021 „zu vereinzelten Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften“. Für konkrete Anhaltspunkte, dass es bei der anstehenden Versammlung nicht nur zu einzelnen Angriffen auf Polizeibeamte, sondern zu einer darüber hinausgehenden kollektiven Unfriedlichkeit der Versammlung kommen wird, ist nichts ersichtlich und auch von der Antragsgegnerin konkret nichts vorgetragen. |
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| Zu berücksichtigen ist zudem, dass diese vereinzelten Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften im Anschluss an die Versammlung vom 15.05.2021 stattfanden. Dies hält auch der genannte Polizeibericht ausdrücklich so fest („nach Verlassen des Veranstaltungsgeländes“); die Beschwerdeerwiderung der Antragsgegnerin, die Behauptung, dass die Störungen sich erst im Nachgang zur Versammlung ereignet hätten, sei unrichtig und widerlegt, vermag der Senat daher nicht nachzuvollziehen. Entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin kann ein Verhalten nach Ende der Versammlung dieser nicht ohne Weiteres zugerechnet werden. Das Versammlungsgesetz geht von einer „inneren Ordnung“ einer Versammlung aus, die insbesondere durch den Versammlungsleiter und die Ordner gewährleistet wird. Für Aufzüge - wie hier streitgegenständlich - hat der Leiter des Aufzugs nach § 19 Abs. 1 Satz 1 VersG für den ordnungsgemäßen Ablauf zu sorgen. Er kann sich gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 VersG der Hilfe ehrenamtlicher Ordner bedienen, für welche § 9 Abs. 1 und § 18 VersG gelten. Die Teilnehmer sind nach § 19 Abs. 2 VersG verpflichtet, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen des Leiters und der von ihm bestellten Ordner zu befolgen. Vermag der Leiter sich nicht durchzusetzen, so ist er nach § 19 Abs. 3 VersG verpflichtet, den Aufzug für beendet zu erklären. Die Befugnisse von Versammlungsleiter und Ordnern enden mit der Beendigung der Versammlung durch den Versammlungsleiter oder durch die Auflösung der Versammlung durch die Polizei (vgl. Breitbach, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, a.a.O., § 8 Rn. 25, § 9 Rn. 24). Ihre Befugnisse, auf die Versammlungsteilnehmer - z.B. im Hinblick auf die Einhaltung der Rechtsordnung und der Befolgung von Auflagen - einzuwirken, sind somit beendet. Zwar mag hierdurch nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass Rechtsverletzungen, die im Anschluss an eine Versammlung stattgefunden haben, dem Veranstalter und oder dem Leiter der Versammlung zuzurechnen sind und dass auf solche Vorkommnisse eine Gefahrenprognose für ähnlich gelagerte, noch anstehende Versammlungen zulässiger Weise gestützt werden kann. Für eine solche Zurechnung von Rechtsverletzungen bedarf es aber gerade im Hinblick auf den Umstand, dass Versammlungsleiter und Ordner nach Beendigung der Versammlung keine Befugnisse mehr gegenüber den Versammlungsteilnehmern haben, einer besonderen Begründung. Diese kann sich z.B. aus tatsächlichen Anhaltspunkten dafür ergeben, dass Rechtsverletzungen, die im Anschluss an die vorangegangene Versammlung erfolgt sind, die „natürliche Fortsetzung“ des Versammlungsgeschehens waren und solche auch für zukünftige Versammlungen gerade während deren Verlauf zu erwarten sind. Solche Anhaltspunkte sind hier jedoch nicht ersichtlich und auch von Antragsgegnerin nicht vorgetragen. |
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| bb) Konkrete Umstände, die eine ein Versammlungsverbot rechtfertigende Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründen können, ergeben sich auch nicht aus den von der Antragsgegnerin angeführten Äußerungen und Parolen der Versammlung vom 15.05.2021. Aus welchen Gründen ein Banner mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“ eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit darstellt, legt die Antragsgegnerin bereits nicht dar. Ihre Gefahrenprognose ist daher unzureichend. |
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| Es ist nicht konkret erkennbar, dass der angeführte Straftatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 StGB insoweit am 15.05.2021 erfüllt wurde. Die Vorschrift setzt einen in besonderer Weise qualifizierten Angriff gegen unter anderem Teile der Bevölkerung mit einem im Vergleich zu den Beleidigungsdelikten gesteigerten Unrechtsgehalt voraus. Erfasst sind Taten, die von Feindseligkeit geprägt sind. Daneben erfasst die Norm schwerwiegende Formen der Missachtung, die durch ein besonderes Maß an Gehässigkeit und Rohheit geprägt sind und die Angegriffenen als insgesamt minderwertig und ohne Existenzrecht in der Gemeinschaft abqualifizieren. Im Einzelnen ist im Sinne von § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB unter Aufstacheln zum Hass ein Verhalten zu verstehen, das auf die Gefühle oder den Intellekt eines anderen einwirkt und objektiv geeignet sowie subjektiv bestimmt ist, eine emotional gesteigerte, über die bloße Ablehnung oder Verachtung hinausgehende feindselige Haltung gegen den betroffenen Bevölkerungsteil zu erzeugen oder zu verstärken. Das Auffordern zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen setzt ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches oder konkludentes Einwirken auf andere voraus mit dem Ziel, in ihnen den Entschluss zu diskriminierenden Handlungen hervorzurufen, die den elementaren Geboten der Menschlichkeit widersprechen (BGH, Urt. v. 27.07.2017 - 3 StR 172/17 - juris Rn. 29 f.; OVG NRW, Beschl. v. 14.05.2018 - 15 B 643/18 - juris Rn. 17 ff.). |
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| Bei der Auslegung von § 130 Abs. 1 StGB ist zudem zu beachten, dass das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedem das Recht gibt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Dies umfasst nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch in überspitzter und polemischer Form zum Ausdruck gebrachte Kritik. Vom Schutzbereich erfasst werden Meinungen unabhängig von deren Begründetheit, Werthaltigkeit oder Richtigkeit. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden. Bei der Subsumtion unter eine strafrechtliche Norm ist vor jeder rechtlichen Wertung daher zunächst der Sinn der Meinungsäußerung zutreffend zu erfassen. Maßgeblich hierfür ist weder die subjektive Absicht des Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat. Bei der Deutung von Äußerungen sind neben dem Wortlaut und dem sprachlichen Kontext auch die äußeren Begleitumstände zu beachten. Mehrdeutige Aussagen können nur dann unter einen Straftatbestand subsumiert werden, wenn strafrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten, die nicht völlig fernliegen, mit schlüssigen Argumenten ausgeschlossen werden können (OVG NRW, a.a.O., unter Hinweis auf die Rspr. des BVerfG). |
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| Nach diesem Maßstab überschritt das Zeigen des Banners mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“ am 15.05.2021 voraussichtlich nicht die Schwelle der Strafbarkeit. Jedenfalls hat die Antragsgegnerin auch nicht ansatzweise dargelegt, dass das Banner mit dieser Aufschrift über eine scharfe, aber noch von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gedeckte Kritik am Verhalten des Staates Israel in der jüngsten Auseinandersetzung in Nahost hinausging und im konkreten Zusammenhang am 15.05.2021 mit dieser Äußerung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen bestimmte Bevölkerungsteile aufgefordert oder deren Menschenwürde angegriffen worden sei. |
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| Das Gleiche gilt für eine etwaige Strafbarkeit nach § 131 StGB. |
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| dd) Auch das Verbrennen der Flagge des Staates Israel im Anschluss an die Versammlung vom 15.05.2021 durch eine Person sowie der (unterbundene) Versuch einer weiteren Person, eine Flagge des Staates Israel zu verbrennen, im Anschluss an diese Versammlung können das streitige Verbot voraussichtlich nicht tragen. Das Verbrennen der Flagge des Staates Israel kann den Straftatbestand des § 104 StGB erfüllen und damit die öffentliche Sicherheit im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG verletzen. Wenn die Gefahr solcher Handlungen für eine anstehende Versammlung besteht, können folglich grundsätzlich Maßnahmen nach § 15 Abs. 1 VersG erfolgen. |
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| Eine dahingehende ausreichende Gefahrenprognose der Antragsgegnerin fehlt für die streitige Versammlung jedoch. Auch insoweit ist zu berücksichtigen, dass die genannten Vorfälle, wie ebenfalls im Polizeibericht ausdrücklich festgehalten, im Anschluss an die Versammlung vom 15.05.2021 stattfanden und dieser daher nicht ohne Weiteres zuzurechnen sind. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass auf der anstehenden Versammlung ein Verbrennen der Flagge des Staates Israel konkret zu befürchten ist, vermag die Antragsgegnerin nicht zu benennen. Die Antragstellerin hat zudem ausdrücklich dazu aufgefordert, nur Palästina-Flaggen mitzubringen. Es ist weder ersichtlich noch dargelegt, dass diese Aufforderung nicht ernst gemeint ist. |
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| ee) Voraussichtlich ohne Erfolg stützt die Antragsgegnerin ihre Gefahrenprognose auf die von der Polizei anlässlich der Versammlung vom 15.05.2021 gefertigten Strafanzeigen. Der genannte Polizeibericht vom 15.05.2021 führt hierzu an: 4 x Beleidigung zum Nachteil von Polizeibeamten, 2 x Volksverhetzung, 2 x Widerstand, 1 x gefährliche Körperverletzung, 1 x gemeinschaftliche Körperverletzung, 1 x Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, 1 x Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen, 2 x Sachbeschädigung von Dienst-Kfz nach Steinwurf. Des Weiteren stehe der Anfangsverdacht eines Landfriedensbruchs im Raum. Die zusammenhanglose Aufzählung gefertigter Strafanzeigen vermag bereits im Ansatz eine tragfähige Gefahrenprognose für die anstehende Versammlung nicht zu tragen. Ob den Strafanzeigen tatsächlich ein strafbares Verhalten zugrunde liegt, kann nicht nachvollzogen werden, da die Antragsgegnerin auch im Beschwerdeverfahren nicht mitgeteilt hat, welche Sachverhalte zur Anzeige kamen. Insbesondere kann in keiner Weise festgestellt werden, ob es sich um der Versammlung zuzurechnende Straftaten oder im Anschluss an die Versammlung erfolgte Straftaten handelt, für die eine Zurechnung zur Versammlung gesondert zu begründen ist. |
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| ff) Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG, die das streitgegenständliche Versammlungsverbot rechtfertigen können, ergeben sich voraussichtlich auch nicht aus Gründen des Infektionsschutzrechts. Wie der Senat bereits in zahlreichen Fällen entschieden hat, kann die Gefahr, dass es bei einer Versammlung zu einer Verletzung des in § 2 Abs. 2 der Corona-Verordnung festgelegten Mindestabstands von 1,5 m durch eine erhebliche Anzahl von Versammlungsteilnehmer kommt, der Versammlungsbehörde die Befugnis zu Maßnahmen nach § 15 Abs. 1 VersG geben. Denn die Unterschreitung des Mindestabstandes kann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht nur im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Leben und die Gesundheit einer Vielzahl von Menschen begründen, sondern auch die Gefahr der Verletzung von § 2 Abs. 2 der Corona-Verordnung, der als Teil der objektiven Rechtsordnung auch zu den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit gehört. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der sachverständigen Äußerung des hierzu kraft Gesetzes berufenen Robert Koch-Instituts bei einer solchen Unterschreitung des Mindestabstands auch im Freien ein Übertragungsrisiko im Hinblick auf das Coronavirus bei größeren Menschenansammlungen besteht, wenn die Personen keine Mund-Nasen-Bedeckungen tragen (vgl. zuletzt Senat, Beschl. v. 03.06.2021 - 1 S 1823/21 -). |
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| Wenn zu erwarten ist, dass sich die Versammlungsteilnehmer an eine Auflage, bei der Versammlung eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, halten werden, wird in aller Regel eine entsprechende Auflage nach § 15 Abs. 1 VersG zur Abwendung der genannten Gefahren ausreichen mit der Folge, dass ein Versammlungsverbot hierauf nicht gestützt werden kann. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass bei der streitigen Versammlung eine Auflage, dass die Versammlungsteilnehmer eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen müssen, nicht eingehalten würde, sind weder ersichtlich noch konkret vorgetragen. Auch aus dem im Internet verfügbaren und von der Antragsgegnerin selbst in Bezug genommenen Video der Versammlung vom 15.05.2021 ergeben sich solche Umstände nicht; vielmehr ist dort zu erkennen, dass alle oder fast alle Versammlungsteilnehmer Mund-Nasen-Bedeckungen trugen. |
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