Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 5 S 2503/21

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19. Juli 2021 - 8 K 2443/21 - wird zurückgewiesen.

Gründe

 
I. Die Beschwerde der Antragsteller hat keinen Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat es mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt, der Antragsgegnerin im Wege einer gerichtlichen Zwischenentscheidung bis zur Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO aufzugeben, sofortige Maßnahmen zur Einstellung der Baumaßnahmen zu ergreifen.
1. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist statthaft. Insbesondere ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts gemäß § 146 Abs. 1 VwGO beschwerdefähig. Nach dieser Vorschrift steht den Beteiligten gegen alle Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters, die nicht Urteile oder Gerichtsbescheide sind, die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht zu, soweit nicht in der Verwaltungsgerichtsordnung etwas anderes bestimmt ist. Der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts betrifft den Erlass einer Zwischenentscheidung im Rahmen eines anhängigen Eilverfahrens (sogenannter Hängebeschluss), mit der zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine Regelung für den Zeitraum zwischen dem Eingang des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und der Entscheidung des Gerichts über diesen Eilantrag getroffen wird.
Die Anfechtbarkeit einer solchen Zwischenentscheidung im Wege der Beschwerde ist nicht gesetzlich ausgeschlossen. Bei der Zwischenentscheidung handelt es insbesondere nicht um eine prozessleitende Verfügung gemäß § 146 Abs. 2 VwGO (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 20.7.2021 - 6 S 2237/21 - juris Rn. 5, vom 14.10.2019 - 9 S 2643/19 - juris Rn 4 und vom 26.9.2017 - 2 S 1916/17 - juris Rn. 4; vom 18.12.2015 - 3 S 2424/15 - juris; HessVGH, Beschluss vom 28.4.2017 - 1 B 947/17 - NVwZ 2017, 1144; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 4.4.2017 - 3 M 195/17 - juris; OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 14.12.2012 - 1 B 1411/12 - juris; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 8.11.2011 - 3 M 464/11 - juris; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 2.7.2010 - OVG 1 S 71.10 - juris; SächsOVG, Beschluss vom 17.12.2003 - 3 BS 399/03 - NVwZ 2004, 1134; ThürOVG, Beschluss vom 3.5.2002 - 4 VO 48/02 -, juris; Happ in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl., § 146 Rn. 10; W.-R. Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 146 Rn. 11; Guckelberger, NVwZ 2001, 275; a. A. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 8.5.2018 - 10 S 396/18 - juris Rn. 2 und vom 15.3.2018 - 11 S 2094/17 - juris; NdsOVG, Beschluss vom 7.7.2017 - 13 ME 170/17 - juris; OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 27.2.2014 - 6 B 182/14 -, juris; Meyer-Ladewig/Rudisile in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 32. EL Mai 2018, § 146 Rn. 11a).
Prozessleitende Verfügungen im Sinne dieser Vorschrift sind Entscheidungen des Gerichts oder des Vorsitzenden, die sich auf den äußeren, förmlichen Fortgang des Verfahrens beziehen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.12.2015, a.a.O.; SächsOVG, Beschluss vom 17.12.2003, a.a.O.; W.-R. Schenke in: Kopp/Schenke, a.a.O. § 146 RdNr. 10). Die im vorliegenden Fall begehrte Zwischenentscheidung hat indes keinen solchen Inhalt. Mit ihr soll vielmehr eine sachliche, wenn auch nur befristete Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers getroffen werden, die auf die Rechtsstellung der Beteiligten einwirkt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.12.2015, a.a.O.; Guckelberger, NVwZ 2001, 275).
2. Die mithin statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist jedoch unbegründet.
a) Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist allein die Frage, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer Zwischenentscheidung vorliegen. Dagegen hat der Senat nicht zu prüfen - wovon die Beteiligten aber aufgrund ihres umfangreichen Vorbringens zur Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit formellem und materiellem Baurecht auszugehen scheinen -, ob dem Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben ist oder nicht. Denn hierüber hat das Verwaltungsgericht noch gar nicht entschieden. Zudem beschränkt sich die Prüfung des Senats auf die zu diesem Verfahrensgegenstand dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO, vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.7.2021 - 6 S 2237/21 - juris Rn. 12).
b) Die Voraussetzungen für den Erlass eines Hängebeschlusses liegen derzeit nicht vor. Hiervon ist das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht ausgegangen.
Ob eine Zwischenentscheidung in Form eines sogenannten Hängebeschlusses im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren auf Antrag eines Beteiligten oder von Amts wegen erforderlich ist, muss im Wege einer Interessenabwägung ermittelt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.8.2012 - 7 VR 7.12 - juris). Der Erlass eines Hängebeschlusses ist, wenn keine anderen überwiegenden Interessen eine sofortige Vollziehung der im Eilverfahren angegriffenen Bescheide erfordern, zulässig und geboten, wenn der Eilantrag nicht von vornherein offensichtlich aussichtslos ist und ohne die befristete Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gefährdet wäre, weil irreversible Zustände oder schwere und unabwendbare Nachteile einzutreten drohen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.2.2019, vom 26.9.2017 und vom 18.12.2015 a.a.O.; HessVGH, Beschluss vom 28.4.2017, a.a.O.; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 4.4.2017, a.a.O.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 11.10.2013 - 1 BvR 2616/13 -, juris; Schoch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, a.a.O., § 80 Rn. 357 ff.; Guckelberger, NVwZ 2001, 275).
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Nach diesem Maßstab besteht auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens keine Veranlassung zum Erlass der begehrten Zwischenverfügung.
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aa) Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts folgt dies allerdings nicht schon daraus, dass die Antragsteller der „prozessualen Anforderung“ nicht nachgekommen wären, zeitgleich mit ihrem Widerspruch vom 17. September 2020 einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieses Widerspruchs zu stellen. Denn ihnen war zwar eigenem Vortrag zufolge schon im September 2020 bekannt, dass auf dem Baugrundstück „Grabarbeiten“ stattfanden. Im Beschwerdeverfahren haben die Antragsteller aber plausibel - und unwidersprochen - dargelegt, dass es sich hierbei um Baggerschürfe im Zusammenhang mit einer geologischen Baugrunduntersuchung gehandelt habe. Mit dem Aushub der Baugrube sei hingegen erst im Juni 2021 begonnen worden. Hiervon ausgehend haben die Antragsteller ihren Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes am 8. Juli 2021 zeitnah zu dem Beginn der eigentlichen Bauarbeiten beim Verwaltungsgericht gestellt.
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bb) Jedoch droht den Antragstellern durch den Fortgang der Bauarbeiten jedenfalls derzeit weder ein irreversibler Zustand noch ein schwerer und unabwendbarer Nachteil.
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(1) Die - nach dem Beschwerdevortrag im wesentlichen abgeschlossenen - Aushubarbeiten sind reversibel. Denn Ab- und Ausgrabungen auf dem Baugrundstück könnten ohne weiteres wieder an- oder aufgefüllt werden.
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(2) Die Antragsteller befürchten des Weiteren, dass die aufgrund der topographischen Verhältnisse tief in das vorhandene Gelände eingeschnittene Baugrube nah an ihre Grundstücksgrenze heranrücken und dadurch ihr Grundstück gefährden könnte. Hierzu hat bereits das Verwaltungsgericht auf S. 4 seines Beschlusses ausgeführt, dass das Vorhabengrundstück unterhalb des Antragstellergrundstücks liegt und nach den Nebenbestimmungen zur Baugenehmigung mit dem Bau erst begonnen werden darf, wenn die bautechnischen Nachweise einschließlich der Nachweise zur Baugrubensicherung vorliegen. Die Antragsteller zeigen mit ihrem Beschwerdevortrag nicht auf, dass und weshalb diese Erwägung fehlerhaft oder untauglich sein sollte, die von ihnen befürchtete Gefährdung auszuschließen.
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(3) Soweit die Antragsteller mit ihrer Beschwerde darauf abheben, dass jedenfalls die Errichtung der Bodenplatte und der Tiefgarage faktisch irreversibel seien und/oder einen schweren und unabwendbaren Nachteil zu ihren Lasten begründeten, geht der Senat davon aus, dass eine solche Teilrealisierung des Bauvorhabens wohl zeitnah zu erwarten ist. Denn in Bezug auf diese Baumaßnahme hat die Baurechtsbehörde schon seit längerem eine (Teil-) Baufreigabe erteilt. Gleichwohl rechtfertigt die bevorstehende Errichtung der Bodenplatte und der Tiefgarage hier nicht den Erlass der begehrten Zwischenentscheidung. Denn diese Anlagenteile könnten in tatsächlicher Hinsicht ohne weiteres wieder zurückgebaut werden, wenn sich erweisen sollte, dass das Bauvorhaben aus bauplanungsrechtlichen und/oder bauordnungsrechtlichen Gründen nicht genehmigungsfähig ist.
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Der Umstand, dass die rechtliche Durchsetzung eines solchen Rückbaus von Anlagenteilen erfahrungsgemäß langwierige Auseinandersetzungen nach sich zieht, begründet hier noch nicht einen derart schweren, unabwendbaren Nachteile auf Seiten der Antragsteller, dass eine Zwischenentscheidung zu ihren Gunsten geboten wäre. Denn es darf nicht übersehen werden, dass der Nachbarwiderspruch der Antragsteller gemäß § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung hat und der Bauherr daher nach der gesetzlichen Wertung ungeachtet etwaiger Nachbarwidersprüche schon vor Bestandskraft der Baugenehmigung mit dem Bau beginnen darf. Die gesetzliche Regelung in § 80 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 212 a Abs. 1 BauGB rechtfertigt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Nachbarrechtsbehelfs regelmäßig nur dann, wenn aufgrund einer überschlägigen Prüfung zumindest gewichtige Zweifel an der nachbarrechtlichen Unbedenklichkeit der Baugenehmigung bestehen. Sind die Erfolgsaussichten des Nachbarrechtsbehelfs hingegen offen, rechtfertigt auch eine drohende Schaffung vollendeter Tatsachen wegen der gesetzlichen Vorgabe in § 212a Abs. 1 BauGB im Regelfall nicht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Damit hat der Gesetzgeber dem Bauen auf eigenes Risiko den Vorrang eingeräumt und den Nachbarn darauf verwiesen, etwaige Abwehransprüche nach einem Obsiegen in dem Hauptsacheverfahren zu realisieren, auch wenn dies mit gegebenenfalls gravierenden wirtschaftlichen Konsequenzen für die Bauherrschaft einhergeht (OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 4.4.2017 - 3 M 195/17 - juris Rn. 16; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 16.9.2016 - 2 S 29.16 - juris).
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Diese gesetzliche Wertung des § 212a BauGB würde umgangen, wenn schon jede drohende Realisierung eines noch nicht bestandskräftig genehmigten Vorhabens mit Blick auf zu erwartende Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines künftig etwa erforderlich werdenden Rückbaus es ohne Hinzutreten weiterer Umstände rechtfertigen würde, zugunsten des Grundstücksnachbarn, der einen Antrag nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO stellt, einen schweren, unabwendbaren Nachteil anzunehmen.
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Nach diesen Überlegungen reicht auch hier die Tatsache, dass der Beigeladene durch die Errichtung einer Bodenplatte und einer Tiefgarage in Bezug auf einen Teil des Bauvorhabens vollendete Tatsachen schafft, für den Erlass einer Zwischenentscheidung nicht aus. Weitere Einzelfallumstände, die in Zusammenschau mit dieser Tatsache im Wege einer Abwägung sämtlicher beteiligter Interessen - auch der Beigeladenen - zur Annahme schwerer, unabwendbarer Nachteile auf Seiten der Antragsteller führen können, sind ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen.
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II. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da die durch das Verfahren auf Erlass einer Zwischenentscheidung entstehenden Kosten - einschließlich der Kosten eines hierauf bezogenen Beschwerdeverfahrens - Teil der Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO sind. Denn die Zwischenentscheidung soll nur die Zeitspanne bis zum Ergehen der Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts überbrücken. Sie ergeht daher nicht in einem gegenüber dem Eilverfahren selbständigen Nebenverfahren (VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 26.9.2017 - 2 S 1916/17 - juris Rn. 10 m.w.N.).
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Der Beschluss ist unanfechtbar.

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