Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 9 S 696/22

Tenor

Auf den Antrag der Kläger wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. Januar 2022 - A 1 K 1547/20 - zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

 
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung ist zulässig, insbesondere fristgerecht (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG) gestellt und begründet (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Er hat auch in der Sache Erfolg. Die Berufung ist wegen des Vorliegens eines von den Klägern geltend gemachten und der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden, in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmangels zuzulassen. Durch den Gang des gerichtlichen Verfahrens ist der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt worden.
1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verbürgt, dass ein Beteiligter vor einer Gerichtsentscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen und als Subjekt Einfluss auf das Verfahren nehmen kann. Der gerichtlichen Entscheidung dürfen nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war. Ein Anspruch darauf, dass das in einer mündlichen Verhandlung geschehen muss, besteht aber grundsätzlich nicht. Dementsprechend wurden die Beteiligten in der Ladung vom 15.11.2021 zu dem auf den 28.01.2022, 9:30 Uhr, anberaumten Termin darauf hingewiesen, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
a) Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kommt wegen der Ablehnung oder Nichtbescheidung eines Antrags auf Aufhebung oder Verlegung eines Termins nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 ZPO danach nur in Betracht, wenn ein erheblicher Grund im Sinne des § 227 Abs. 1 ZPO tatsächlich vorgelegen hat, rechtzeitig geltend und glaubhaft gemacht worden ist und sich das Ermessen des Gerichts unter Berücksichtigung von Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf die Nichtdurchführung der beabsichtigten mündlichen Verhandlung verdichtet hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29.04.2004 - 3 B 119.03 -, DÖV 2004, 800, und vom 30.08.1982 - 9 C 1.81 -, DÖV 1983, 247; Senatsbeschluss vom 06.08.2018 - A 9 S 2420/17 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 08.05.2013 - 1 S 466/13 -; OVG Bln-Bbg., Beschluss vom 28.10.2003 - 2 A 369/02.AZ -, AuAS 2004, 58).
b) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hat ein erheblicher Grund für die Aufhebung des Termins vorgelegen, der von den Klägern auch glaubhaft gemacht worden ist.
aa) Ein erheblicher Grund ist mit der vom Gesundheitsamt des Landkreises Konstanz angeordneten Quarantäne gegeben. Diese Anordnung beruhte in tatsächlicher Hinsicht auf dem positiven Ergebnis eines SARS-CoV-2 Antigen-Schnelltests vom 26.01.2022, der bei der Klägerin zu 5 in der Sonnenhalde-Grundschule durchgeführt worden war. Ihre rechtliche Grundlage fand die Anordnung in der Verordnung des Sozialministeriums zur Absonderung von mit dem Virus SARS-CoV-2 infizierten oder krankheitsverdächtigen Personen und deren haushaltsangehörigen Personen vom 14.12.2021 in der Fassung vom 11.01.2022 (gültig bis 02.05.2022; im Folgenden CoronaVO Absonderung a.F.). Die Klägerin zu 5 unterlag demnach gemäß § 3 CoronaVO Absonderung a.F. der Absonderung, die erst nach Maßgabe des § 3 Abs. 3 CoronaVO Absonderung a.F. nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung endete. Nach § 4 Abs. 1 unterlagen die Kläger zu 1 bis 4 als haushaltsangehörige Personen einer Absonderungspflicht nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4. Allen Klägern war es damit - ungeachtet der Schwere der Erkrankung der Klägerin zu 5 - jedenfalls bereits aufgrund der §§ 3, 4 CoronaVO Absonderung a.F. rechtlich unmöglich, ihre Wohnung als Ort der Absonderung zu verlassen und den Gerichtstermin vom 28.01.2022 wahrzunehmen.
bb) Die Kläger haben diesen erheblichen Grund auch gegenüber dem Verwaltungsgericht glaubhaft gemacht. Nach vorheriger telefonischer Ankündigung hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 27.01.2022, beim Verwaltungsgericht eingegangen um 13:15 Uhr, mitgeteilt, dass sich die Familie wegen einer Corona-Erkrankung einer ihrer Töchter in Quarantäne befinde und die Verlegung des Termins beantragt. Nach Ablehnung des Antrags hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 27.01.2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht am selben Tage um 19:00 Uhr, eine Kopie der amtlichen Bescheinigung des positiven SARS-CoV-2 Antigen-Schnelltests der Klägerin zu 5 vorgelegt und erneut die Verlegung des Termins beantragt. Jedenfalls mit Schreiben vom 28.01.2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht am selben Tage um 09:11 Uhr, hat der Prozessbevollmächtigte eine Kopie der Bescheinigung über den Quarantäneaufenthalt des Klägers zu 1, ausgestellt vom Landkreis Konstanz (Bl. 111, 113 der VG-Akten), vorgelegt, die nach Auffassung des Senats auch hinreichend lesbar ist. Dies ist zur Glaubhaftmachung der rechtlichen Unmöglichkeit, den Termin vom 28.01.2022 wahrzunehmen, ausreichend. Im Übrigen hätte das Verwaltungsgericht bei Zweifeln aufgrund des Vorbringens auch kurzfristig - ggf. unter der vom Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 27.01.2022 mitgeteilten Rufnummer - mit der für die Bestätigung der Quarantäne zuständigen Stelle Rücksprache halten können. Dies ist nach Lage der Akten nicht geschehen.
Der vom Verwaltungsgericht angelegte strenge Maßstab für die kurzfristige Geltendmachung eines erheblichen Grundes wegen einer Erkrankung (BVerwG, Beschluss vom 09.12.1994 - 6 B 32.94 -, NJW 1995, 799; OVG NRW, Beschluss vom 01.12.2018 - 4 A 10/18.A -, juris; Bay. LSG, Urteil 21.07.2016 - L 15 SB 97/15 -, juris; Senatsbeschluss vom 24.10.2019 - A 9 S 741/19 -) ist auf den Fall einer rechtlichen Unmöglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wegen einer infektionsschutzrechtlichen Pflicht zur Absonderung nicht anwendbar. Das Erfordernis der näheren Bezeichnung der Art und Schwere der Erkrankung sowie der konkreten Gründe, weshalb diese Erkrankung eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte in der mündlichen Verhandlung ausschließt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.12.1994, a.a.O.), hat für das Bestehen eines rechtlichen Hindernisses in Gestalt einer infektionsschutzrechtlichen Pflicht zur Absonderung erkennbar keine Bedeutung.
c) Das Ermessen des Verwaltungsgerichts ist aufgrund des vorliegenden und glaubhaft gemachten erheblichen Grundes darauf reduziert gewesen, den Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben. Ausweislich des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsandrohung ergangenen Beschlusses vom 17.06.2020 - A 1 K1548/20 - ist das Verwaltungsgericht dort davon ausgegangen, es sei offen und bedürfe weiterer Aufklärung, „ob der fünfköpfigen Familie mit dem Einkommen des Antragstellers zu 1 in einem anderen Landesteil ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh wahrendes Existenzminimum gesichert wäre. Die zusätzliche Mietbelastung, der bisher mietfrei wohnenden Familie könnte dazu führen, dass der Familie bei einer Rückkehr nicht ausreichend finanzielle Mittel für Lebensmittel zur Verfügung stünden.“ Dies gelte es im Rahmen des Hauptsacheverfahrens weiter aufzuklären. Demnach dürfte sich eine persönliche Anhörung insbesondere der Kläger zu 1 und 2 aufgedrängt haben; jedenfalls konnte diesen ein berechtigtes Interesse an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nicht abgesprochen werden.
d) Der Annahme eines Gehörsverstoßes steht nicht entgegen, dass die diesbezügliche Rüge grundsätzlich die substantiierte Darlegung dessen erfordert, was die Prozesspartei bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.1997 - 7 B 261.97 -, NJW 1997, 3328). Denn diese Darlegungspflicht gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn sich die behauptete Versagung rechtlichen Gehörs - wie hier - nicht auf einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte bezieht, sondern darauf, dass ein Verfahrensbeteiligter sich zum gesamten Prozessstoff nicht äußern konnte, etwa weil er unverschuldet an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verhindert war (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.09.1994 - 3 C 28.92 -, BVerwGE 96, 368 sowie OVG NRW, Beschluss vom 19.04.2004 - 8 A 590/04.A -, juris).
10 
2. Führt bereits der unter 1. dargestellte Verfahrensmangel zur Zulassung der Berufung, so kann der Senat offenlassen, ob das rechtliche Gehör der Kläger ferner dadurch verletzt worden ist, dass - wie die Kläger weiter geltend machen - das Verwaltungsgericht das vom Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 18.01.2022 - beim Verwaltungsgericht eingegangen am 19.01.2022 - vorgelegte Schreiben der Universität Konstanz vom 14.01.2022 über die Erkrankung der Klägerin zu 3 und die Gefahr der Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland (Bl. 61-67 der VG-Akte) in den Gründen der angefochtenen Entscheidung unbeachtet gelassen habe.
11 
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG).
12 
Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG).
13 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen