Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 12 S 1770/22

Tenor

Nach Zurücknahme der Beschwerden wird das Beschwerdeverfahren eingestellt.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 03.08.2022 - 7 K 3216/22 - wird aufgehoben, soweit mit diesem ein Streitwert festgesetzt wird.

Gründe

I. Nach der mit Schriftsatz vom 25.08.2022 erklärten Rücknahme der Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart, soweit mit diesem die Antragsgegnerin zur Neubescheidung des auf Zuweisung eines Platzes in einer kommunalen Kindertageseinrichtung gerichteten Antrags verpflichtet wurde, und nach Rücknahme der Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss mit Schriftsatz vom 29.08.2022, soweit der Antrag des Antragstellers im Übrigen abgelehnt wurde, wird das Beschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO (i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei. Streitigkeiten um die Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer (kommunalen) Kindertageseinrichtung sind auch dann nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei, wenn der Anspruch gegen die Gemeinde geltend und auf den kommunalrechtlichen Benutzungsanspruch aus § 10 Abs. 2 GemO gestützt wird. Es handelt sich dabei um Angelegenheiten der Jugendhilfe im Sinne des § 188 Satz 1 VwGO.
Die Regelung des § 188 Satz 2 VwGO zur Gerichtskostenfreiheit nimmt Bezug die Regelung in Satz 1 der Vorschrift, wonach bestimmte Sachgebiete wie u.a. in Angelegenheit der Fürsorge sowie - speziell - der Jugendhilfe in einem Spruchkörper zusammengefasst werden sollen. In den Verfahren dieser Art werden Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) nicht erhoben (Satz 2).
Die Regelung ist ausdrücklich auf bestimmte Sachgebiete bezogen. Damit hat der Gesetzgeber aus Gründen der Vereinfachung eine umfassende Pauschalregelung getroffen, bezogen auf die Art der Streitigkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 23.04.2019 - 5 C 2.18 -, juris Rn. 43, und vom 28.11.1974 - V C 18.74 -, juris Rn. 17). Der Begriff „Sachgebiet“ macht deutlich, dass es nicht nur auf das gleichnamige Gesetz, sondern auf alle Gesetze ankommt, die materiell den Angelegenheiten der Fürsorge, Jugendhilfe usw. oder zugehörigem Verwaltungsverfahrensrecht zuzurechnen sind. Welchen Streitsachen hierzu jeweils zählen, richtet sich nach dem Schwerpunkt der Materie, in deren Rahmen Ansprüche geltend gemacht werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.06.2012 - 1 S 866/12 -, juris Rn. 2; Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 6; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 188 Rn. 3). Die Regelung stellt allgemein auf die objektive Zugehörigkeit des Klagebegehrens zu einem der genannten Rechtsgebiete ab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.04.2011 - 6 C 10.10 -, juris Rn. 3; Bader in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albdedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 188 Rn. 7). Es kommt dabei nicht darauf an, welchen - möglicherweise von Fall zu Fall unterschiedlichen - Zweck der Kläger mit dem Rechtsstreit verfolgt und auf welche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte er sein Begehren im Einzelnen stützt (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 31.05.2021 - 4 LA 269/20 -, juris Rn. 10).
In das Sachgebiet der Jugendhilfe im Sinne von § 188 VwGO fallen Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen öffentlichen Fürsorge zugunsten Kinder und Jugendlicher (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.07.2017 - 12 S 468/15 -, juris Rn. 64). Umfasst sind alle Streitigkeiten nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch und den ergänzenden Landesausführungsgesetzen, sofern sie dem Bereich der Fürsorge in einem weiten Sinne zugeordnet werden können (Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 188 Rn. 5). Ferner gehören Angelegenheiten mit „mittelbarem“ Bezug zu fürsorgerischen Maßnahme wie etwa die Anerkennung und Förderung von Trägern der Jugendhilfe, insbesondere die Zuschussgewährung für Kindertageseinrichtungen, angesichts der weiten Fassung der Regelung zum Sachgebiet der Jugendhilfe (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.07.2017 - 12 S 468/15 -, juris Rn. 64; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.01.2017 - 7 A 1057/16 -, juris Rn. 52; Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 11 m.w.N.). Auch andere Verfahren in „Angelegenheiten des Kindergartenrechts“ werden den Angelegenheiten der Jugendhilfe im Sinne von § 188 VwGO zugeordnet, wie etwa die Streitigkeiten um die Wahl der Kita-Elternbeiräte (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.04.2020 - OVG 6 S 9/20 -, juris Rn. 11) oder die Streitigkeiten über Elternbeträge für die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege (BVerwG, Urteil vom 28.03.2019 - 5 CN 1.18 -, juris Rn. 22). Letzteres wird unabhängig von der konkreten Rechtsgrundlage angenommen, da die sachliche Nähe zu fürsorgerischen Leistungen den (auch) abgabenrechtlichen Charakter solcher Verfahren überwiegt (vgl. Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 11 m.w.N.). Dem Sachgebiet der Jugendhilfe können ferner auch sonst Verfahren zugeordnet werden, deren Rechtsgrundlagen außerhalb des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch liegen, wenn ihr Schwerpunkt im Kinder- und Jugendhilferecht liegt, die sachliche Nähe zu fürsorgerischen Leistungen zugunsten von Kindern und Jugendlichen überwiegt oder die Sachlage derjenigen in Kinder- und Jugendhilfesachen vergleichbar ist, wie etwa bei Streitigkeiten nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (vgl. zum UVG BVerwG, Urteil vom 14.10.1993 - 5 C 10.91 -, juris Rn, 17; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.11.1995 - 6 S 1945/95 -, juris Rn. 19; Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 11).
Nach diesen Maßgaben handelt es sich bei den Streitigkeiten um die Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer (kommunalen) Kindertageseinrichtung um eine Angelegenheit der Jugendhilfe im Sinne des § 188 Satz 1 VwGO. Dies wird einheitlich so gesehen, wenn die antragstellende Person - in der Regel das zu betreuende Kind vertreten durch seine Eltern - den Anspruch auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes auf § 24 Abs. 2 oder 3 SGB VIII stützt (st. Rspr., vgl. etwa OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 01.09.2022 - OVG 6 S 55/22 -, juris Rn. 6; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19.07.2022 - 14 ME 277/22 -, juris Rn. 6; Senatsbeschlüsse vom 13.12.2021 - 12 S 3227/21 -, juris Rn. 23, vom 21.07.2020 - 12 S 1545/20 -, juris Rn. 34 und vom 18.07.2018 - 12 S 643/18 -, juris Rn. 27). Nichts anders gilt, wenn der Anspruch auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung kumulativ oder - wie hier - allein auf § 10 Abs. 2 GemO gestützt und gegenüber der Gemeinde geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne zum jeweiligen Landesrecht auch VG Potsdam, Beschlüsse vom 13.06.2018 - 7 L 423/18 -, juris Rn. 28, 33, und vom 27.04.2018 - VG 7 L 296/18 -, juris Rn. 18 ff., 29; VG München, Urteil vom 18.09.2013 - M 18 K 13.2256 -, juris Rn. 51, 71; a.A. VG Ansbach, Beschluss vom 17.02.2017 - AN 15 E 17.00226 -, juris Rn. 46; jeweils ohne Begründung).
Auch wenn im vorliegenden Fall die geltend gemachte Anspruchsnorm im Kommunalrecht liegt, wird der Sache nach eine Leistung aus dem Bereich der Fürsorge in einem weiten Sinne zugunsten von Kindern begehrt, da die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen ihren Schwerpunkt in einer fürsorgenden Betreuung mit dem Ziel einer Förderung sozialer Verhaltensweisen und damit (präventiver) Konfliktvermeidung hat (vgl. BT-Drs. 16/9299). Ebenso wie bei Geltendmachung eines Anspruchs auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege nach § 24 Abs. 2, 3 SGB VIII geht es bei der begehrten Zuweisung eines Platzes in einer kommunalen Kindertageseinrichtung nach § 10 Abs. 2 GemO um anspruchsberechtigte Kinder, die sich in einem Alter befinden, in denen sie einer besonderen Betreuung bedürfen. Das konkrete Begehren, d.h. das Rechtsschutzziel - die Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung - unterscheidet sich nicht von dem Begehren derjenigen Person, die sich hierfür auf ihren Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 oder 3 SGB VIII beruft (vgl. allgemein zum Klagebegehren bei unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen Wöckel in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 88 Rn. 7). Andernfalls würde ein und dasselbe Begehren der antragstellenden Person je nach Anspruchsgrundlage bei der gerichtsinternen Geschäftsverteilung und der Gerichtskostenfreiheit unterschiedlich behandelt, was zu einer nicht nachvollziehbaren Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts führen und dem gesetzgeberischen Zweck, mit § 188 VwGO eine umfassenden Pauschalregelung getroffen zu haben, zuwiderlaufen würde.
Es kommt für die Zuordnung zum Sachgebiet der Jugendhilfe im Sinne von § 188 VwGO auch nicht darauf an, ob die Gemeinde nach § 69 SGB VIII i.V.m. § 1 Abs. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg (LKJHG) in der Fassung vom 14. April 2005 (GBl. 2005, 376) zugleich örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist, was sie mit Ausnahme der kreisfreien Städte oder der zu örtlichen Trägern bestimmten kreisangehörigen Gemeinde nicht sind (anders bei Streitigkeiten um einen Platz in der Kinderkrippe des Studentenwerks VG Göttingen, Beschluss vom 30.09.2004 - 4 B 116/04 -, juris Rn. 22). Entscheidend ist vielmehr die sachliche Nähe des geltend gemachten Anspruchs auf Zuweisung eines Platzes in einer kommunalen Kindertageseinrichtung zu den Regelungen der §§ 22 ff. SGB VIII, insbesondere den Grundsätzen der Förderung in § 22 SGB VIII und dem Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII (vgl. zur Berücksichtigung des § 22 SGB VIII bei der Vergabe von Kita-Plätzen etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 03.09.2020 - 10 ME 174/20 -, juris Rn. 4). Dafür spricht auch, dass die Gemeinden nicht nur als Träger der kommunalen Tageseinrichtungen die Grundsätze der Förderung nach §§ 22 ff. SGB VIII zu beachten haben, sondern sie darüber hinaus in vielfältiger Weise in die Erfüllung der Aufgaben nach §§ 22 ff. SGB VIII eingebunden sind (vgl. §§ 2 ff. des Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, andere Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege [Kindertagesbetreuungsgesetz - KiTaG] vom 19.03.2009, GBl. 2009, 161).
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III. Die Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 03.08.2022 - 7 K 3216/22 -, soweit mit diesem eine Gerichtskostenfreiheit verneint und ein Streitwert in Höhe von 5.000,-- Euro festgesetzt worden ist, findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Danach kann die Festsetzung von dem Rechtsmittelgericht von Amts wegen geändert werden, wenn das Verfahren - wie hier - wegen der Hauptsache in der Rechtsmittelinstanz schwebt; die Änderung ist innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat (Satz 2). Von dieser Vorschrift macht die Berichterstatterin Gebrauch und hebt die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts - als stärkste Art der Änderung - auf (vgl. zur Aufhebung einer Streitwertfestsetzung im Fall der Gerichtskostenfreiheit Senatsbeschlüsse vom 23.02.2022 - 12 S 659/19 -, n.v., S. 9, und vom 25.01.2021 - 12 S 4264/20 -, juris Rn. 11).
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IV. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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