Beschluss vom Amtsgericht Kerpen - 150 F 297/15
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass die elterliche Sorge für den verfahrensbetroffenen Jugendlichen I A N, mutmaßlich geboren am XX.XX.XXXX,ruht.
II. Für die Dauer des Ruhens der elterlichen Sorge werden
1. das zu Ziffer 2. verfahrensbeteiligte Jugendamt zum Amtsvormund mit Ausnahme des Wirkungskreises der asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten
und
2. Herr Rechtsanwalt N J in L-I1 berufsmäßig tätiger Mitvormund für den Wirkungskreis derasyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten
bestellt.
III. Termin zur persönlichen Anhörung der Verfahrensbeteiligten wird demnächst amtswegig bestimmt werden.
1
G r ü n d e
2Die getroffene Anordnung beruht auf Art. 3, 6, 11 f., 16 f. des Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ), §§ 1674 Abs.1, 1675, 1773, 1774 BGB.
3Nach Angaben des verfahrensbeteiligten Jugendamtes ist der verfahrensbetroffene Jugendliche nach eigenen, schlüssig erscheinenden und glaubhaft wirkenden Angaben noch minderjährig und ohne Begleitung seiner im Heimatland verbliebenen Eltern als Flüchtling in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Wie auch immer geartete Kontakte zu den Sorgeberechtigten sind weder dem Kind selbst noch den zuständigen Behörden möglich; wann mit einer Wiederherstellung der Kontaktmöglichkeiten oder gar einer Zusammenführung des Jugendlichen mit seinen Eltern gerechnet werden kann, erscheint gegenwärtig ungewiss.
4Damit aber stehen einer tatsächlichen Ausübung der elterlichen Sorge auf unabsehbare und damit voraussichtlich längere Dauer faktische Hindernisse entgegen, so dass das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen und für die Dauer des Ruhens die aus dem Tenor ersichtliche Regelung zu treffen ist.
5Dem betroffenen Jugendlichen ist neben dem Amtsvormund ein Mitvormund in Person eines Rechtsanwalts für die Betreuung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen (vgl. dazu und zu allem Nachfolgenden: Oberlandesgericht Frankfurt, Beschluss vom 28.01.2014 – 6 UF 289/13 = BeckRS 2014, 02549 mit weiteren Nachweisen).
6Gemäß § 1775 BGB können ausnahmsweise mehrere Vormünder für ein Mündel bestellt werden, sofern besondere Gründe hierfür vorliegen; die diesbezügliche Entscheidung ist vom Familiengericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (Staudinger-BGB/Veit, Neubearbeitung 2014, § 1775, Rdnr. 10):
7Angesichts der wachsenden Komplexität der ausländer- und asylrechtlichen Vorgaben kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen werden, dass die – ohnehin hochbelasteten – Amtsvormünder in der Lage sind, die etwa in Art. 25 Abs. 1 a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes geforderte fachkundige und fundierte Vertretung des Jugendlichen in der erforderlichen qualifizierten Weise sicherzustellen; dass sie über die insoweit erforderlichen Spezialkenntnisse verfügen und insoweit als „geeignet“ im Sinne § 1779 Abs.2 BGB zu qualifizieren sind, kann derzeit nicht angenommen werden.Der Amtsvormund wird ohne spezielle ausländer- und asylrechtliche Kenntnisse gar nicht beurteilen können, welche aufenthaltsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen sind, um den ausländerrechtlichen Status für den Minderjährigen zu klären und gegebenenfalls zu sichern um damit im Interesse des Mündels bestmöglich zu handeln. Dies folgt bereits aus den in Betracht kommenden, nicht selten komplexen Verfahrensstrukturen: An das sogenannte "Clearing-Verfahren", welches sich an die Inobhutnahme des unbegleiteten Minderjährigen anschließt und in dem die Umstände und Gründe der Einreise sowie das Maß der Jugendhilfe geklärt werden sollen, schließt sich die Frage an, ob ein Asylantrag gestellt werden muss oder aber welche sonstigen aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zu treffen sind. Da Asylanträge oftmals ohne Erfolg bleiben werden, wird es in manchen Fällen ratsam sein, hiervon abzusehen, um dem Minderjährigen die belastende Situation eines möglicherweise erfolglosen Asylverfahrens zu ersparen (vgl. Working Paper 26 des Bundesamtes für Migration, Unbegleitete minderjährige Migranten in Deutschland, S. 37). Wird ein Asylantrag gestellt, ist zunächst die Dublin III-Verordnung maßgebend. Aber schon die im Vorfeld zu beantwortende Frage, nämlich ob ein Asylantrag Aussicht auf Erfolg hat, erfordert spezielle Rechtskenntnisse im Asylrecht (OLG Frankfurt DAVorm 2000, 485), auch um einen von vornherein erfolglosen Asylantrag zu vermeiden (vgl. hierzu die Tabellen 4 bis 8 aus dem Working Paper 26 des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration a.a.O., S. 41-49). Bei unbegleiteten Minderjährigen, die keinen Asylantrag stellen, ist zudem zu prüfen, ob ein Abschiebungsverbot die zu ihrem Schutz geeignete Maßnahme ist und ob gegebenenfalls ein isolierter Antrag nach § 60 AufenthG zu stellen ist.
8Der bislang fehlenden ausländer- und asylrechtlichen fachlichen Qualifikation des Amtsvormundes kann auch nicht dadurch begegnet werden, dass sich die Jugendämter – etwa über den Weg der Beratungshilfe – von Fall zu Fall externer Hilfe versichern:
9Dies folgt schon daraus, dass über die in Betracht kommende Beratungshilfe dieser umfassende Beratungsbedarf und Rechtsschutz faktisch nicht gewährleistet werden kann. Hinzu kommt, dass es bei dieser Sichtweise von der Person des jeweiligen Amtsvormundes abhinge, ob dieser den Beratungsbedarf erkennt und einen entsprechenden Antrag stellt bzw. im Einzelfall ein Gerichtsverfahren mit Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Anwalts initiiert (vergl. insoweit auch Oberlandesgericht Frankfurt, FamRZ 2013, 1160).
10Entscheidend aber ist das Nachfolgende:Gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (sogenannte Dublin-III-Verordnung müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Durchführung eines Asylverfahrens von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird. Dieser Vertreter muss über eine entsprechende Qualifikation und Fachkenntnisse verfügen, "um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird". Mit dieser Regelung ist klargestellt, dass der Vertreter des Minderjährigen selbst über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen muss und nicht mehr nur ein Vertreter ohne diese Kenntnisse bestellt werden darf, von dessen Entscheidung es dann für den Jugendlichen im jeweiligen Einzelfall erst abhängen würde, ob er einen geeigneten Vertreter für bestimmte Rechtshandlungen oder Verfahren in einer für ihn existentiell wichtigen Situation im fremden Land bestellt bekommt oder nicht. Nach dem Geist und der Intention der Dublin III-Verordnung kann es aber gerade nicht von der Einschätzung eines nach eigenem Bekunden in ausländerrechtlichen Fragen nicht ausreichend fachkundigen Vormunds abhängen, ob er im Einzelfall eine rechtliche Beratung oder Vertretung seines Mündels überhaupt für erforderlich hält und gegebenenfalls mit einer - nach der bis zur Amtsübernahme sowieso schon eintretenden Verzögerung - noch weiter einhergehenden zeitlichen Verzögerung dafür sorgt.
11Die vorbenannte Regelung ist ab dem 01.01.2014 in der Bundesrepublik Deutschland bereits als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden. Denn bei Verordnungen der Europäischen Union handelt es sich um Rechtsakte, die unmittelbare Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten entfalten, d.h. - anders als die Richtlinien - nicht noch durch Erlass nationaler Gesetze einer Umsetzung bedürfen.
12Rechtsmittelbelehrung
13Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsbehelf nicht gegeben. Auf Antrag ist eine mündliche Verhandlung durchzuführen und aufgrund dieser erneut zu entscheiden. Außerdem hat jeder Beteiligte das Recht, die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens zu beantragen.
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