Beschluss vom Bundessozialgericht (5. Senat) - B 5 R 45/16 B

Tenor

Der Klägerin wird hinsichtlich der Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. September 2015 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil wird dieses Urteil aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung gewähren muss.

2

Im Verwaltungsverfahren zog die Beklagte ein Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. Z. bei und lehnte den Rentenantrag der Klägerin ab, weil sie nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme nicht erwerbsgemindert sei (Bescheid vom 14.5.2013 und Widerspruchsbescheid vom 18.9.2013). Das SG Freiburg hat die Klage nach Beiziehung von Befundberichten abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 5.6.2014).

3

Im Berufungsverfahren hat die Klägerseite am 4.8.2015 einer "Entscheidung nur nach Aktenlage" zugestimmt und sich mit Schriftsatz vom 7.8.2015 für die Ausführungen im Richterbrief vom 5.8.2015 bedankt, wonach das Gericht ihre Erklärung "als Zustimmung zu einer Entscheidung des Rechtstreits im schriftlichen Verfahren, also ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung" werte. Am 13.8.2015 ist beim LSG die angeforderte Akte des SG Freiburg aus dem Schwerbehindertenverfahren S 16 SB 4076/13 eingegangen. Das LSG hat eine Kopie des dort eingeholten Gerichtsgutachtens des niedergelassenen Neurologen und Psychiaters Dr. B. aus K. vom 26.5.2015 zur Gerichtsakte genommen und gleichzeitig dessen "schriftliche Vernehmung als sachverständiger Zeuge über die … im Laufe der Behandlung d. Kläg. getroffenen Feststellungen" angeordnet. Nachdem Dr. B. darauf hingewiesen hatte, dass er die Klägerin nicht behandelt, sondern nur begutachtet habe, die Beklagte einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung telefonisch zugestimmt und eine beratungsärztliche Stellungnahme des Sozialmediziners Dr. S. vom 21.8.2015 vorgelegt hatte, hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Freiburg durch Urteil vom 22.9.2015 ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

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Der Senat hat der Klägerin mit Beschluss vom 4.1.2016, der ihr am 13.1.2016 zugestellt worden ist, für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt W. aus O. antragsgemäß beigeordnet. Am 11.2.2016 ist per Telefax (Kopfzeile: "11. Feb. 2016 13:43 RAe-R.-O. Nr. 1583") auf einem Briefbogen der Rechtsanwälte R., E. & Partner, denen der beigeordnete Rechtsanwalt W. angehört, Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt worden. Die Beschwerdeschrift schließt folgendermaßen ab:

        
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In der Beschwerdebegründungsschrift vom 11.4.2016 rügt die Klägerin ua, das LSG habe ihr "Recht … auf eine mündliche Verhandlung verletzt", weil es über die Berufung ermessensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden habe, wobei erschwerend hinzukomme, dass bereits in erster Instanz ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden worden sei. Außerdem habe das Berufungsgericht ihr "Recht auf rechtliches Gehör im Sinne des § 62 SGG" verletzt, indem es "nach Beiziehung des Gutachtens des Dr. B. unter Einholung der Stellungnahme der Beklagten vom 21.08.15 nicht erneuten richterlichen Hinweis an die Klägerin erteilt und dieser Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben" habe. Die Beschwerdebegründungsschrift schließt wie folgt ab:

        
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Die Klägerin beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. September 2015 zuzulassen.

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Die Beklagte, die keinen Antrag gestellt hat, weist darauf hin, dass die Unterschriften auf der Berufungsschrift und auf der Vollmacht vom 20.11.2015 nicht derselben Person zuzuordnen seien, so dass unklar sei, "ob die Berufung ordnungsgemäß erhoben wurde".

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Der Senat hat Rechtsanwalt W. unter dem 28.6.2016 aufgefordert mitzuteilen, wer die Beschwerdeeinlegungsschrift vom 11.2.2016 und wer die Beschwerdebegründungsschrift vom 11.4.2016 unterschrieben hat sowie um Übersendung entsprechender Vollmachten gebeten. "Fürsorglich" hat Rechtsanwalt W. daraufhin mit Schriftsatz vom 15.7.2016 "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand … wegen Versäumung der Frist für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde und in die Frist für deren Begründung" beantragt, nochmals Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und sie begründet. Zum Wiedereinsetzungsgesuch hat er angegeben, die Beschwerde und deren Begründung habe der kanzleiangehörige Rechtsanwalt J. G. unterzeichnet, dessen Schriftzug die Gerichte noch nie beanstandet hätten. Er versichere, dass es sich um die übliche Unterschrift von Rechtsanwalt G. handele. Beigefügt sind eine Vollmacht der Klägerin an die Rechtsanwälte R., E. & P."wegen Nichtzulassungsbeschwerde gg. Urteil v. 22.09.15" vom 19.1.2016, eine Untervollmacht von Rechtsanwalt W. an Frau Rechtsanwältin K. und Herrn Rechtsanwalt G. vom 21.1.2016 sowie eine eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt G. vom 15.7.2016, wonach er die Unterschriften unter der Beschwerdeschrift vom 11.2.2016 sowie unter der Beschwerdebegründungsschrift vom 11.4.2016 geleistet und sich den Inhalt dieser Schriftsätze zu eigen gemacht habe. Die eidesstattliche Versicherung ist wie folgt unterzeichnet:

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II. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 22.9.2015 ist zulässig (1.) und begründet (2.).

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1. Sie ist - nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - fristgerecht eingelegt und begründet und auch im Übrigen zulässig.

11

Gemäß § 160a Abs 1 S 3 und Abs 2 SGG ist die Beschwerde schriftlich einzulegen und zu begründen; in der Begründung muss der geltend gemachte Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Um das Schriftformerfordernis zu erfüllen, müssen sowohl Beschwerdeeinlegungs- als auch -begründungsschrift von einem beim BSG nach § 73 Abs 4 SGG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eigenhändig unterschrieben sein. Weder die Beschwerdeschrift vom 11.2.2016 noch die Beschwerdebegründungsschrift vom 11.4.2016 schließen jedoch mit einer Unterschrift ab (nachfolgend a). Die von dem beigeordneten Rechtsanwalt W. ordnungsgemäß unterzeichnete Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsschrift vom 15.7.2016 ist dagegen erst nach Ablauf der einmonatigen Beschwerdefrist und der verlängerten Beschwerdebegründungsfrist eingereicht worden (nachfolgend b). In beide versäumten Fristen ist der Klägerin jedoch gemäß § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (nachfolgend c). Schließlich ist die Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) hinreichend bezeichnet (nachfolgend d).

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a) Mit dem Begriff der Unterschrift verbindet der Sprachgebrauch ein Gebilde aus Buchstaben einer üblichen Schrift, dh einen Schriftzug, der sich - ohne lesbar sein zu müssen- als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt (BSG Urteil vom 30.6.1970 - 7/2 RU 35/68 - SozR Nr 12 zu § 151 SGG - Juris RdNr 16; BAG Urteil vom 25.2.2015 - 5 AZR 849/13 - BAGE 151, 66 RdNr 19 mwN). Erforderlich, aber auch genügend ist das Vorliegen eines die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden Schriftzuges, der individuelle und entsprechend charakteristische Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren, selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist (BGH Beschlüsse vom 27.9.2005 - VIII ZB 105/04 - NJW 2005, 3775 und vom 16.7.2013 - VIII ZB 62/12 - NJW-RR 2013, 1395, 1396). Die Mängel dürfen jedoch nicht so weit gehen, dass der "Schriftzug" nicht mehr als solcher angesprochen werden kann, weil seine Entstehung aus der ursprünglichen Schrift in Buchstaben nicht einmal andeutungsweise zu erkennen ist. Es muss ein Mindestmaß an Ähnlichkeit mit dieser Schrift in dem Sinn erhalten geblieben sein, dass ein Dritter, der den Namen des Unterzeichnenden kennt, diesen Namen aus dem Schriftbild noch herauslesen kann, der Unterzeichnende also erkennbar bleibt (BSG SozR Nr 12 zu § 151 SGG - Juris RdNr 16 und Urteil vom 4.6.1975 - 11 RA 189/74 - SozR 1500 § 151 Nr 3). Allein aus den hakenförmigen Linienführungen unterhalb der Beschwerdeschrift vom 11.2.2016 und der Beschwerdebegründungsschrift vom 11.4.2016, die keine individuell-charakteristische Merkmale aufweisen, keine Buchstaben erkennen lassen und damit die (fälschende) Nachahmung geradezu erleichtern, können neutrale Dritte den Namen von Rechtsanwalt "G." selbst dann nicht herauslesen, wenn sie den Namen kennen. Dass der beigeordnete Rechtsanwalt W. oder sonstige Kanzleiangehörige aus der Linienführung sofort auf den Unterzeichner schließen (können), genügt insofern nicht. Dass die hakenförmige Linienführung weder seinen Namen wiedergibt noch die Absicht erkennen lässt, eine volle Unterschrift zu leisten, räumt Rechtsanwalt G. mit seiner Unterschrift auf der eidesstattlichen Versicherung vom 15.7.2016 unausgesprochen selbst ein. Denn die dortige Signatur enthält die deutlich lesbaren Buchstaben "G.", ein stilisiertes "" sowie im Schlussschwung ein angedeutetes "" und erfüllt damit - anders als die Linienführungen unterhalb der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsschrift - die og Anforderungen an eine Unterschrift. Ob es sich bei der hakenförmigen Linienführung, die Rechtsanwalt G. unter der eidesstattlichen Versicherung rechts neben der Unterschrift noch einmal wiederholt, überhaupt schon um eine Paraphe handelt, kann offenbleiben, weil die bloße Paraphierung bestimmender Schriftsätze die volle Unterschriftsleistung keinesfalls ersetzt (BSG SozR 1500 § 151 Nr 3; BSG SozR Nr 12 zu § 151 SGG; BAG Urteil vom 27.3.1996 - 5 AZR 576/94 - NJW 1996, 3164 f; BFH Urteil vom 16.3.1999 - X R 41/96 - BFHE 188, 528; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX, RdNr 142). Denn die Paraphierung deutet auf ein flüchtiges Abzeichnen, nicht aber auf die Übernahme der vollen Verantwortung für den Inhalt eines bestimmenden Schriftsatzes hin (BAG NJW 1996, 3164 f). Eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft von Rechtsanwalt G. und dessen Willen, die Schriftsätze vom 11.2. und 11.4.2016 in den Rechtsverkehr zu bringen, bietet schließlich auch nicht die Verwendung des Briefbogens seiner Kanzlei und deren Faxkennung in der Kopfzeile (vgl dazu BAGE 151, 66 RdNr 23).

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b) Die Beschwerde und ihre Begründung vom 15.7.2016 sind indes verfristet. Wie sich aus dem Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 6.1.2016 an den beigeordneten Rechtsanwalt ergibt, war die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs 2 SGG nachzuholen und die Beschwerdebegründung innerhalb der Zwei-Monats-Frist entsprechend § 160a Abs 2 S 1 SGG - mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit um höchstens einen Monat (§ 160a Abs 2 S 2 SGG entsprechend) - jeweils nach Zustellung des Senatsbeschlusses vom 4.1.2016 einzureichen. Da der Senatsbeschluss der Klägerin am 13.1.2016 wirksam zugestellt worden ist, begannen beide Fristen am 14.1.2016 (§ 64 Abs 1 SGG) und liefen am Montag, den 15.2.2016 (§ 64 Abs 2 S 1 und Abs 3 SGG) bzw - nach antragsgemäßer Verlängerung - am 11.4.2016 ab, so dass die Beschwerde und ihre Begründung am 15.7.2016 verspätetet beim BSG eingingen.

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c) Auf ihren Antrag ist der Klägerin jedoch gemäß § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in die versäumten Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde zu gewähren. Denn sie war ohne Verschulden verhindert, diese gesetzlichen Verfahrensfristen einzuhalten, und sie hat den Wiedereinsetzungsantrag nach Hinweis des Senats vom 28.6.2016 binnen eines Monats am 15.7.2016 gestellt sowie die versäumten Rechtshandlungen (Beschwerdeeinlegung und -begründung) nachgeholt (§ 67 Abs 1, Abs 2 S 1 und 3 SGG). Schuldlos handelt, wer diejenige Sorgfalt beachtet, die einem gewissenhaften Prozessführenden, der seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnimmt, nach den Gesamtumständen des konkreten Falles zuzumuten ist (Senatsbeschluss vom 24.10.2007 - B 5a R 340/07 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 7 RdNr 14 und BSG Beschluss vom 11.12.2008 - B 6 KA 34/08 B - Juris RdNr 7). Weder der Klägerin selbst noch ihren Prozessbevollmächtigten, deren Verschulden sie sich gemäß § 73 Abs 6 S 6 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO zurechnen lassen müsste (Senatsurteil vom 30.1.2002 - B 5 RJ 10/01 R - SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 67 RdNr 3e), ist wegen der Versäumung der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsfrist ein Schuldvorwurf zu machen. Zwar hat sich ein Rechtsanwalt über den Stand der Rechtsprechung zu unterrichten (BGH Beschlüsse vom 11.4.2013 - VII ZB 43/12 - NJW 2013, 1966 f; vom 28.9.1998 - II ZB 19/98 - NJW 1999, 60 und vom 20.12.1978 - IV ZB 115/78 - NJW 1979, 877). Rechtsanwalt G. mussten daher auch die höchstrichterlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze bekannt sein. Auf der anderen Seite haben die Verfahrensbeteiligten und ihre Bevollmächtigten ein (Grund-)Recht auf faire Verfahrensgestaltung, das sich verfassungsrechtlich aus Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG und aus Art 19 Abs 4 GG (BVerfG Beschlüsse vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111; vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250, 275; vom 26.4.1988 - 1 BvR 669/87 ua - NJW 1988, 2787; vom 14.10.2003 - 1 BvR 901/03 - NVwZ 2004, 334 sowie Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00 - NJW 2001, 1343 und Kammerbeschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 15.4.2004 - 1 BvR 622/98 - NJW 2004, 2149, 2150; Senatsbeschlüsse vom 9.10.2012 - B 5 R 196/12 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 10 RdNr 8 und B 5 R 168/12 B - SozR 4-1500 § 73a Nr 9 RdNr 7) sowie einfachrechtlich aus Art 6 Abs 1 S 1 EMRK (BSG Beschluss vom 17.12.2010 - B 2 U 278/10 B - Juris RdNr 4) herleitet. Danach darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten (BVerfG Beschluss vom 14.5.1985 - 1 BvR 370/84 - BVerfGE 69, 381, 387), darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfG Beschlüsse vom 22.5.1979 - 1 BvR 1077/77 - BVerfGE 51, 188, 192; vom 9.2.1982 - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1, 6 und vom 14.4.1987 - 1 BvR 162/84 - BVerfGE 75, 183, 190) und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 38, 105, 111 ff; BVerfG Beschlüsse vom 10.6.1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f und vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - BVerfGE 46, 202, 210). Deshalb dürfen aus Formvorschriften ohne Vorwarnung keine nachteiligen Folgen für den Bürger abgeleitet werden, falls derselbe Spruchkörper die von ihm bereits (stillschweigend) gebilligte Form einer Unterschrift nicht mehr hinnehmen möchte (BVerfG Beschluss vom 26.4.1988 - 1 BvR 669/87, 1 BvR 686/87, 1 BvR 687/87 - BVerfGE 78, 123, 126; BSG Urteil vom 5.12.2001 - B 7 AL 2/01 R - Juris RdNr 20). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass Rechtsanwalt G. die Anträge auf Akteneinsicht vom 19.1.2016 (vgl Bl 29 BSG-Akte; die Abschrift dieses Schriftsatzes ist in der Unterschriftszeile mit dem Stempelaufdruck "gez. G." versehen) und auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist vom 10.3.2016 ebenso unterzeichnet hat wie die hier in Rede stehenden Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsschriften und ihm daraufhin Akteneinsicht und Fristverlängerung gewährt worden ist, ohne dass die Unterschrift beanstandet worden wäre. Schon deshalb durfte Rechtsanwalt G. darauf vertrauen, dass seine Linienführung den in der Rechtsprechung anerkannten Anforderungen entsprach (zum verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz vgl BVerfG Beschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom 24.11.1997 - 1 BvR 1023/96 - NJW 1988, 1853). Folglich kommt die Verwerfung der Beschwerde als unzulässig unter dem Gesichtspunkt der fairen Verfahrensgestaltung nicht in Betracht (vgl BVerfGE 78. 123, 126 f; BGH Beschlüsse vom 21.6.1990 - I ZB 6/90 - NJW-RR 1991, 511 und vom 28.9.1998, aaO).

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d) Im Übrigen genügt die Beschwerdebegründung den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der ausdrücklich gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Klägerin behauptet, das LSG habe ihre Berufung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen, obwohl es nach Zugang ihrer diesbezüglichen Einverständniserklärung vom 1.8.2015 am 13.8.2015 noch das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. aus dem Schwerbehindertenverfahren S 16 SB 4976/13 beigezogen und die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme vom 21.8.2015 vorgelegt habe. In dieser Situation sei es ermessensfehlerhaft gewesen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Vertiefte Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), waren wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens ausnahmsweise entbehrlich. Stattdessen genügt es, wenn dem Beschwerdevortrag - wie hier - noch hinreichend deutlich zu entnehmen ist, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (BSG Urteil vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 sowie Beschlüsse vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - und vom 21.6.2011 - B 1 KR 144/10 B - Juris RdNr 5; vgl auch Keller, aaO, § 62 RdNr 11c).

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2. Die Beschwerde ist auch begründet. Das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil im Zeitpunkt der Entscheidung keine wirksame Einverständniserklärung vorlag und deshalb nicht ohne mündliche Verhandlung entschieden werden durfte. Infolgedessen braucht auf die Sachaufklärungsrüge (§ 103, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 403 ZPO), auf die geltend gemachte Verletzung gegen das "Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes" (Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG; Art 19 Abs 4 GG; Art 6 Abs 1 S 1 EMRK) und die angeblich unter Verstoß gegen das Prinzip der Rechtschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) unterbliebene Bescheidung eines Prozesskostenhilfegesuchs nicht weiter eingegangen zu werden.

17

Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Als Prozesshandlung muss die Einverständniserklärung klar, eindeutig und vorbehaltlos sein (Senatsbeschluss vom 3.6.2009 - B 5 R 306/07 B - Juris RdNr 10; BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 4). Die Zustimmung der Klägerin zu einer "Entscheidung nur nach Aktenlage" war jedoch mehrdeutig, weil sie - wortgetreu - auch als Antrag gemäß § 126 SGG aufgefasst werden konnte, nach Aktenlage zu entscheiden. Diese Mehrdeutigkeit war dem LSG auch bewusst, wie der Richterbrief vom 5.8.2015 belegt, wonach das Gericht die Erklärung der Klägerin "als Zustimmung zu einer Entscheidung des Rechtsstreits im schriftlichen Verfahren, also ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung" werte. Indem sich die Klägerin mit Schriftsatz vom 7.8.2015 für den Richterbrief vom 5.8.2015 bedankte, beseitigte sie weder die Mehrdeutigkeit ihrer ursprünglichen Erklärung noch stimmte sie einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung iS von § 124 Abs 2 SGG klar und vor allem eindeutig zu. Folglich lag von vornherein keine Einverständniserklärung vor.

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Aber selbst wenn man mit dem LSG und den Beteiligten vom Vorliegen einer Einverständniserklärung ausginge (vgl dazu auch Keller, aaO, § 124 RdNr 3c: "Die Erklärung ist eindeutig, wenn zB 'Einverständnis mit einer Entscheidung nach Lage der Akten' erklärt wird"), wäre sie im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 22.9.2015 jedenfalls nicht mehr wirksam gewesen. Eine Einverständniserklärung iS des § 124 Abs 2 SGG verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich ändert (BSG Beschlüsse vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - Juris RdNr 14 und vom 17.12.2015 - B 2 U 132/15 B - Juris RdNr 8). Das ist zB der Fall, wenn Zeugen vernommen (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2), Beteiligte angehört (BSG Urteil vom 15.12.1994 - 4 RA 34/94 - Juris RdNr 18), Auskünfte eingeholt (BSG Beschluss vom 31.5.1978 - 12 BK 20/77 - SozR 1500 § 124 Nr 3) oder Akten beigezogen werden (BVerwG Urteil vom 24.10.1968 - III C 83.67 - NJW 1969, 252). Dasselbe wird für den Fall angenommen, dass ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuen Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird (vgl dazu und zum Ganzen: BSG Urteil vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8). Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen (BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - Juris RdNr 14 und vom 11.4.2013 - B 2 U 359/12 B - Juris RdNr 10). Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (BSG Beschluss vom 7.4.2011, aaO).

19

Vergleicht man die jeweiligen Verhältnisse in den Zeitpunkten der Einverständniserklärung am 1.8.2015 und der Berufungsentscheidung am 22.9.2015, so hat sich die Tatsachengrundlage bereits dadurch wesentlich geändert, dass das LSG die Gerichtsakte aus dem Schwerbehindertenverfahren S 16 SB 4076/13 angefordert und das dortige Gerichtsgutachten des niedergelassenen Neurologen und Psychiaters Dr. B. beigezogen hatte. Schon dies hätte eine neue Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG erfordert. Dasselbe gilt für die Vorlage der beratungsärztlichen Stellungnahme des Sozialmediziners Dr. S. vom 21.8.2015, die rechtlich als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen der Beklagten zu werten ist (BSG Urteil vom 6.4.1989 - 2 RU 55/88 - USK 8999). Derartiges Beteiligtenvorbringen hat das Gericht bei seiner freien Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) zu berücksichtigen (BSG Urteile vom 30.10.1963 - 2 RU 62/58 - SozR Nr 68 zu § 128 SGG; vom 8.12.1988 - 2/9b RU 66/87 - HV-Info 1989, 410 ff und vom 6.4.1989 - 2 RU 55/88 - USK 8999) und kann sogar alleinige Entscheidungsgrundlage sein (BSG Urteile vom 8.12.1988 sowie vom und 6.4.1989, aaO). Es führt deshalb ebenfalls zwingend zur Änderung der bisherigen Tatsachengrundlage. In dieser Situation braucht auf den aktenkundigen Umstand, dass die Stellungnahme des Dr. S. der Klägerin erst am 23.9.2015, dh einen Tag nach der Entscheidung des LSG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung übersandt worden ist, nicht weiter eingegangen zu werden.

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Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG (BSG Beschlüsse vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 12 und vom 11.4.2013 - B 2 U 359/12 B - Juris RdNr 12). Gerade die in Art 6 Abs 1 EMRK grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Es ist indes nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn sie in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gehabt hätte, zum Gutachten des Dr. B. und zur beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. S. Anträge und Ergänzungsfragen erstmals zu stellen bzw zu wiederholen oder sonstige Einwendungen zu erheben.

21

Soweit die Beklagte unter Hinweis auf die unterschiedlichen Unterschriften auf der Berufungsschrift und auf der Vollmacht vom 20.11.2015 die formgerechte Berufungseinlegung (§ 151 Abs 1 SGG) in Frage stellt, sind entsprechende Zweifel unberechtigt. Denn bereits im Prozesskostenhilfeverfahren ist auf Nachfrage des Senats klargestellt worden, dass die Berufungsschrift von der Schwester der Klägerin, Frau A. Ö., befugterweise (§ 73 Abs 2 S 2 Nr 2 SGG) unterschrieben worden ist und die Klägerin sie dazu bevollmächtigt hatte.

22

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

23

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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