Beschluss vom Bundessozialgericht (6. Senat) - B 6 KA 1/17 B

Tenor

Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-sozialgerichts Rheinland-Pfalz 17. November 2016 werden zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 38 731,79 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Der Kläger zu 1., der als Facharzt für Allgemeinmedizin im Bezirk der ebenfalls klagenden Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, wendet sich gegen Honorarkürzungen wegen Unwirtschaftlichkeit in den Quartalen I/2007 bis IV/2011 sowie III/2012 und I/2013. Der beklagte Beschwerdeausschuss verringerte die von der Prüfungsstelle festgesetzte Kürzung von 56 654,56 Euro auf 38 731,79 Euro. Dabei erkannte er die Betreuung von Patienten in einem Heim für psychisch Behinderte und Kranke als Praxisbesonderheit an. Allerdings seien nicht alle Ansätze der beanstandeten Gebührenordnungspositionen (GOP) 01413 Einheitlicher Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen (EBM-Ä) (Besuch eines weiteren Kranken in derselben sozialen Gemeinschaft und/oder in beschützenden Wohnheimen bzw Einrichtungen) und 03311 EBM-Ä (Ganzkörperstatus) in voller Höhe begründet. Hinsichtlich der GOP 03311 EBM-Ä beließ es der Beklagte bei der bereits von der Prüfungsstelle anerkannten Überschreitung von 270 %. Die Leistungen der GOP 35100 EBM-Ä (differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) und 35110 EBM-Ä (verbale Intervention psychosomatischer Krankheitszustände) würden im Hinblick auf die Praxisbesonderheit nicht beanstandet. Für die GOP 01413 EBM-Ä setzte der Beklagte das offensichtliche Missverhältnis für alle Quartale auf 500 % fest. Die Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Besuche werde nicht immer als notwendig erachtet. Aufgrund der geringen Fallzahl des Klägers zu 1. und des hohen Anteils an Besuchsfällen könnten sich statistische Unwägbarkeiten ergeben. Bei einer Toleranz von 500 % werde dem Kläger zu 1. noch eine genügende Anzahl an Ansätzen der GOP belassen, um eine ausreichende medizinische Betreuung der Heimpatienten und der "mitbesuchten" Patienten im häuslichen Bereich sicherzustellen. Das SG hat den Bescheid vom 28.11.2013 aufgehoben und den Beklagen zur Neubescheidung verurteilt (Urteil vom 9.12.2015). Aus der Begründung des Beklagten sei nicht ersichtlich, dass er sich ausreichend mit den Erkrankungsbildern der Heimbewohner und der medizinischen Notwendigkeit vermehrter Mitbesuche auseinandergesetzt habe. Das LSG hat mit Urteil vom 17.11.2016 auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten sei hinreichend begründet. Eine weitergehende Prüfung hätte nur anhand der Einzelfälle stattfinden können; die Durchführung von Einzelfallprüfungen könne im Rahmen einer statistischen Vergleichsprüfung aber nicht verlangt werden.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG wenden sich die Kläger mit ihren Beschwerden, zu deren Begründung sie eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend machen.

3

II. Die Beschwerden der Kläger haben keinen Erfolg.

4

1. Die Beschwerdebegründungen genügen hinsichtlich der geltend gemachten Divergenz den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht. Für die Zulassung einer Revision wegen einer Rechtsprechungsabweichung ist Voraussetzung, dass entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG miteinander unvereinbar sind und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44). Für eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG reicht nicht aus, aus dem LSG-Urteil inhaltliche Schlussfolgerungen abzuleiten, die einem höchstrichterlich aufgestellten Rechtssatz widersprechen. Das LSG-Urteil einerseits und die höchstrichterliche Entscheidung andererseits müssen vielmehr jeweils abstrakte Rechtssätze enthalten, die einander widersprechen. Das muss in der Beschwerdebegründung aufgezeigt werden. Daran fehlt es hier.

5

Die Klägerin zu 2. trägt vor, das LSG stelle den Rechtssatz auf: "Eine weitere, über die ursprüngliche Prüfung, in der die Praxisbesonderheit festgestellt wurde, hinausgehende Prüfung der Wirtschaftlichkeit des als Praxisbesonderheit anerkannten Leistungskomplexes ist nicht erforderlich. Unwirtschaftlichkeit von Leistungen einer Praxisbesonderheit können unabhängig von einer weiteren Prüfung angenommen und ihnen kann im Rahmen der Festlegung des offensichtlichen Mißverhältnisses als Ergebnis der ursprünglichen Prüfung Rechnung getragen werden." Ein solcher Rechtssatz findet sich im Urteil des LSG nicht. Soweit die Klägerin zu 2. meint, die von ihr nach ihrem Verständnis der Urteilsgründe formulierte Aussage stehe im Widerspruch zu den Ausführungen des Senats im Urteil vom 18.5.1983 - 6 RKa 18/80 - (BSGE 55, 110, 114 f): "Das Prüfgremium hat bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit als solcher keinen Beurteilungsspielraum derart, dass eine sachgerechte Aufbereitung des Streit- bzw Verfahrensstoffes und konkrete Tatsachenermittlungen durch allgemeine Erwägungen ersetzt werden könnten", zeigt sie damit keine divergierenden Rechtssätze auf, sondern legt dar, dass aus ihrer Sicht die Entscheidung des LSG der Rechtsprechung des BSG nicht gerecht wird und die Tatsachen nicht hinreichend ermittelt und bewertet hat. Dieser Darlegung dienen auch die zahlreichen weiteren Zitate aus der Rechtsprechung des Senats. Auch soweit die Klägerin zu 2. vorträgt, ein statistischer Einzelleistungsvergleich sei hier unzulässig, weil die Praxisbesonderheit nur wenige Fälle betreffe, rügt sie allein die nach ihrer Auffassung unrichtige rechtliche Beurteilung. Das gilt auch für den Vortrag, der Beklagte habe sich nicht hinreichend zum Umfang der anerkannten Praxisbesonderheit verhalten. Die behauptete Unrichtigkeit des LSG-Urteils und der angefochtenen Verwaltungsentscheidung vermag eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht zu begründen.

6

Soweit der Kläger zu 1. vorträgt, das LSG stelle den Rechtssatz auf, dass die Begründung einer Wirtschaftlichkeitsprüfungsentscheidung der Prüfgremien aufgrund der Sachkunde der Adressaten keinen erhöhten Anforderungen unterliege, handelt es sich um ständige Rechtsprechung des Senats (vgl etwa BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 2 RdNr 11 mwN). Mit der vom LSG - indirekt durch Zitat der entsprechenden Kommentierung von Engelhard in Hauck/Noftz, bei dem die Rechtsprechung aufgeführt ist - in Bezug genommenen Rechtsprechung hat sich der Kläger zu 1. nicht auseinandergesetzt. Der Senat führt in der zitierten Entscheidung weiter aus, dass die Begründungen erkennen lassen müssen, wie das Behandlungsverhalten des Arztes bewertet wurde und auf welchen Erwägungen die getroffene Kürzungsmaßnahme beruht. Unter anderem hierauf bezieht sich die vom Kläger zu 1. zur Begründung der Divergenz zitierte Aussage: "Dabei beachtet der Kläger nicht hinreichend, dass die Prüfgremien erheblichen Begründungsanforderungen unterliegen (siehe hierzu BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 1 RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 2 RdNr 11), deren Beachtung von den Gerichten vollständig zu überprüfen ist. Die Begründungspflicht des § 35 Abs 1 SGB X dient als Korrektiv zu den weitgehenden Spielräumen und der nur eingeschränkt möglichen Überprüfung der Prüfbescheide durch die Gerichte (BSGE 69, 138, 142 = SozR 3-2500 § 106 Nr 6 S 25) und damit dem Interesse eines effektiven Rechtsschutzes." Eine Divergenz ist damit nicht aufgezeigt. Auch der Kläger zu 1. argumentiert vielmehr ausschließlich dahingehend, dass die Rechtsauffassung des LSG im konkreten Fall der Rechtsprechung des BSG widerspreche.

7

2. Soweit der Vortrag der Kläger dahin zu verstehen ist, dass eine grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG der Frage geltend gemacht wird, in welcher Weise der bei einer Praxisbesonderheit nicht anerkannte unwirtschaftliche Mehraufwand zu konkretisieren ist, sind die Beschwerden unbegründet. Der Senat hat entschieden, dass die Auswirkungen von Praxisbesonderheiten bestimmt werden müssen, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichung eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise treffen lässt (vgl BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 41 S 224). Wenn damit die Quantifizierung des auf Praxisbesonderheiten beruhenden Mehraufwandes gefordert wird, impliziert dies auch, dass zu prüfen ist, in welchem Umfang ein Mehraufwand tatsächlich auf die Praxisbesonderheit zurückzuführen ist (so auch Engelhard in Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2017, K § 106 RdNr 360; Hess in Kasseler Komm, Stand Dezember 2016, § 106a SGB V RdNr 44). Die Auswirkungen der Praxisbesonderheiten können im Wege der Schätzung ermittelt werden. Ob das Vorgehen des LSG diesen Vorgaben in vollem Umfang entspricht, ist für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht maßgeblich.

8

3. Ein Verfahrensmangel liegt ebenfalls nicht vor. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Hier hat die Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung den Hilfsantrag gestellt, Beweis zu erheben, dass mit einer Toleranzgrenze von 500 % noch nicht einmal der geringen Fallzahl des Klägers zu 1. Rechnung getragen ist. Das LSG hat auf die Ausführungen des Beklagten zu statistischen Unwägbarkeiten ua aufgrund der geringen Fallzahl des Klägers zu 1. verwiesen und die Begründung insgesamt für ausreichend gehalten. Soweit das LSG auf den Aspekt der geringen Fallzahl im Urteil nicht näher eingegangen ist, beruht das darauf, dass der Antrag der Klägerin zu 2. nicht auf die Durchführung von Ermittlungen zur Feststellung von Tatsachen zielt, sondern auf eine abweichende Bewertung der Toleranzgrenze. Es handelt sich nicht um einen Beweisantrag iS von §§ 373, 403 ZPO iVm § 118 SGG, sondern um eine rechtliche Wertung von Sachverhaltsgesichtspunkten, die das LSG aus Sicht der Klägerin zu 2. zu Unrecht nicht nachvollzogen hat. Eine mangelhafte Sachaufklärung ist damit nicht dargelegt.

9

Im Übrigen ist zu dem Verweis der Klägerin zu 2. auf die geringe Fallzahl des Klägers zu 1. zu beachten, dass in dessen Praxis im Schnitt der betroffenen Quartale ca 40 % des Durchschnitts der Fachgruppe erreicht wurden, in absoluten Zahlen zwischen 476 und 391. Damit ist der Bereich besonders kleiner Praxen, bei denen eine Vergleichsprüfung auf Schwierigkeiten stößt, nicht annähernd erreicht. Auch bei Praxen mit geringeren Fallzahlen als der Durchschnitt kann die Wirtschaftlichkeit des Ansatzes bestimmter Positionen des EBM-Ä anhand eines statistischen Fachgruppenvergleichs, bei dem die Abrechnungshäufigkeit je 100 Behandlungsfällen ermittelt wird, geprüft werden.

10

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Als erfolglose Rechtsmittelführer haben die Kläger die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).

11

5. Die Festsetzung des Streitwerts entspricht der Honorarkürzung in den streitbefangenen Quartalen (§ 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG).

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen