Urteil vom Bundesverwaltungsgericht (10. Senat) - 10 C 11/14

Tatbestand

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Der Kläger wurde bei der Kommunalwahl am 7. Juni 2009 in den Rat der beklagten Stadt gewählt. Mit Beschluss vom 22. September 2011 schloss der Rat ihn aus. Der Kläger hat den Ausschließungsbescheid angefochten; nach Ablauf der Wahlperiode begehrt er noch die gerichtliche Feststellung, dass dieser Ausschluss rechtswidrig war.

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Mit Urteil vom 22. Dezember 2010 verurteilte das Landgericht Trier den Kläger wegen in Mittäterschaft begangener gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Das Landgericht sah es als erwiesen an, dass der Kläger auf die Nachricht hin, eine Gruppe politischer Gegner habe Wahlplakate seiner Partei abgerissen, mehrere Gleichgesinnte organisiert und sich auf die Suche nach den "Plakatabreißern" begeben habe. Ihm und einem Teil seiner Begleiter sei es gelungen, einen bei der Verfolgung gestrauchelten "Plakatabreißer" zu stellen. Dieser habe von den Begleitern des Klägers etwa fünf Faustschläge gegen den Kopf und fünf Tritte gegen den Rumpf erhalten. Der Kläger habe das Geschehen selbst zwar lediglich beobachtet, sei aber dessen Hauptinitiator gewesen; zudem habe die Gruppe einen gemeinsamen Tatplan verfolgt. Die Revision des Klägers gegen dieses Urteil verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 3. August 2011, seine Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

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§ 31 Abs. 1 der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung (GemO) sieht vor, dass ein Ratsmitglied durch Beschluss des Gemeinderates aus diesem ausgeschlossen werden kann, wenn es nach seiner Wahl durch Urteil eines deutschen Strafgerichts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt wird und durch die Straftat die für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit verwirkt hat. Gestützt hierauf schloss der Rat der Beklagten den Kläger - ohne dessen Mitwirkung - mit einstimmigem Beschluss vom 22. September 2011 aus dem Stadtrat aus. Die genannte Vorschrift schütze die Lauterkeit und Sauberkeit der Verwaltung. Die Tätigkeit als Ratsmitglied und damit als Vertreter der Bevölkerung setze ein Vertrauensverhältnis zwischen den Vertretenen und den Vertretern voraus. Dieses sei hier in ganz besonderem Maße gestört, nachdem der Kläger sich über das Recht und das staatliche Gewaltmonopol hinweggesetzt, sich selbst zum Richter einer Sachbeschädigung aufgeworfen und dabei in menschenverachtender Weise körperliche Gewalt gegen einen Wehrlosen eingesetzt habe. Damit habe sich der Kläger der ihm durch die Wahl entgegengebrachten öffentlichen Achtung als unwürdig erwiesen. Der Wähler könne dem Kläger erst bei der nächsten Kommunalwahl das Vertrauen verweigern. Während der Wahlperiode obliege es dem Stadtrat sicherzustellen, dass die politische Willensbildung im Rat nur durch integre Mitglieder erfolge.

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Seine hiergegen erhobene Klage hat der Kläger im Wesentlichen damit begründet, dass § 31 GemO verfassungswidrig sei. Durch das Grundgesetz und die Landesverfassung von Rheinland-Pfalz würden auch für Kommunalwahlen die Wahlrechtsgrundsätze garantiert. Besonders die Grundsätze der Allgemeinheit, der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl würden aber durch den Ausschluss aus dem Stadtrat verletzt, weil sich die Mehrheit des Rates eines politischen Gegners unter Berufung auf ein so unklares Merkmal wie die Unbescholtenheit entledigen könne.

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Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, § 31 Abs. 1 GemO lasse sich verfassungsrechtlich nicht beanstanden. Die Vorschrift habe keinen strafrechtlichen Charakter, weshalb die Gesetzgebungsbefugnis des Landes nicht durch das Strafgesetzbuch des Bundes verdrängt sei. Sie sei auch hinlänglich bestimmt gefasst. Schließlich verletze sie keinen der verfassungsrechtlich verbürgten Wahlrechtsgrundsätze. Zwar stelle der Ausschluss aus dem Gemeinderat einen Eingriff in die Allgemeinheit, die Gleichheit und die Unmittelbarkeit der Wahl dar; diese Grundsätze beschränkten sich nicht auf die Erlangung des Mandats, sondern umfassten auch das Recht des Gewählten, das Mandat während der gesamten Wahlperiode auszuüben. Der Eingriff sei aber gerechtfertigt, weil § 31 Abs. 1 GemO bei der gebotenen verfassungskonformen Auslegung dem Schutz von Rechtsgütern diene, die ihrerseits von der Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Wahlrechtsgrundsätze seien. Die Vorschrift diene dem Schutz des Ansehens der Gemeindevertretung. Dieses Schutzgut genieße zwar nicht generell und als solches, wohl aber dann wenigstens gleichen verfassungsrechtlichen Rang, wenn es dazu diene, die Funktionsfähigkeit des gewählten Organs zu sichern. Das sei hier der Fall, weil dem Stadtrat die Funktion zukomme, das Gemeindevolk zu repräsentieren, und weil seine Repräsentationsfähigkeit die Akzeptanz seiner Entscheidungen im Gemeindevolk und diese wiederum dessen Vertrauen in die Integrität des Rates voraussetze. Die gebotene Verhältnismäßigkeit sei dadurch herzustellen, dass der Ausschluss nur in Anknüpfung an eine schwerwiegende Straftat verhängt werden dürfe, sei es dass diese im Rahmen der Ratstätigkeit begangen worden sei oder doch in einem hinreichend engen sachlichen Zusammenhang mit ihr stehe - wie hier im Vorfeld einer Ratswahl -, sei es dass sie die charakterliche Eignung als Ratsmitglied ausschließe. Außerdem müsse die Straftat sich in besonderem Maß negativ auf das Ansehen des Gemeinderates auswirken. Die umschriebenen Voraussetzungen lägen hier vor; der Ausschluss sei auch in einem fehlerfreien Verfahren beschlossen worden.

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Mit seiner Revision wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen. Gegen das Berufungsurteil wendet er ein, der Ausschluss sei zur Erreichung des behaupteten Zieles, das Ansehen des Rates zu schützen, von vornherein ungeeignet, weil er dessen Ansehen eher beschädige. Einen Ausschluss auf Zeit als milderes Mittel habe der Gesetzgeber nicht erwogen. Das Verhältnis des § 31 GemO zu § 45 StGB sei unklar. Schon die strafrechtliche Vorschrift verletze den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Das gelte erst recht für die kommunalrechtliche Bestimmung, zumal die Wählbarkeit nur durch Richterspruch aberkannt werden dürfe.

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Bei der turnusmäßigen Kommunalwahl vom 25. Mai 2014 ist der Kläger nicht mehr in den Stadtrat der Beklagten gewählt worden. Er beantragt seitdem,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 8. Mai 2012 und das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. März 2013 zu ändern und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 22. September 2011 rechtswidrig war.

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Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

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Der Vertreter des Bundesinteresses hält den nach dem Ende der Wahlperiode gestellten Feststellungsantrag für unzulässig, äußert freilich verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 31 Abs. 1 GemO.

Entscheidungsgründe

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Die Revision hat Erfolg. Sie führt unter Abänderung der klagabweisenden Urteile des Verwaltungs- wie des Oberverwaltungsgerichts zu der Feststellung, dass der Ausschluss des Klägers aus dem Rat der Beklagten rechtswidrig war.

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1. Mit dem Ablauf der Wahlperiode, für die der Kläger in den Rat der Beklagten gewählt war, hat sich dessen ursprüngliches Begehren, den Ratsbeschluss über den Ausschluss aufzuheben, erledigt. Der Kläger verfolgt sein Begehren mit der Fortsetzungsfeststellungsklage weiter. Das ist zulässig. Namentlich verfügt er über das hierfür nötige Interesse (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).

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Allerdings behauptet der Kläger zu Unrecht eine Wiederholungsgefahr; auf dieselbe Verurteilung dürfte ein erneuter Ausschluss nach einer der Verurteilung erst nachfolgenden Kommunalwahl nicht gestützt werden. Auch ein Präjudizinteresse besteht nicht, denn mögliche Schadensersatzansprüche des Klägers sind nicht ersichtlich; sein Hinweis auf entgangene Sitzungsgelder ist schon deshalb verfehlt, weil diese Zahlungen nur einen sitzungsbedingten Nachteil ausgleichen sollen, zu dem es mangels Sitzungsteilnahme nicht gekommen ist. Ein objektives Rechtsklärungsinteresse ist ebenfalls nicht zu erkennen. Es setzt einen sich typischerweise kurzfristig - vor der Möglichkeit gerichtlicher Klärung - erledigenden Hoheitsakt voraus (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 29 ff., 32 m.w.N.). Daran fehlt es hier schon deshalb, weil immerhin zwei Instanzen noch vor Erledigung des Ausschließungsaktes über dessen Rechtmäßigkeit haben befinden können.

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Entgegen der Ansicht des Vertreters des Bundesinteresses hat der Kläger aber ein anzuerkennendes Rehabilitierungsinteresse in Bezug auf den hier umstrittenen Stadtratsbeschluss der Beklagten. Die vom Kläger in den Vorinstanzen erhobenen Einwände gegen die tatsächliche Richtigkeit des Strafurteils können allerdings kein solches Interesse begründen, weil das Strafurteil rechtskräftig und nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist. Jedoch hat der Stadtrat der Beklagten mit dem umstrittenen Ausschließungsbeschluss aufgrund eines eigenständigen Unwerturteils eine zusätzliche Rechtsfolge gesetzt, die eine über das Strafurteil hinausgehende Herabwürdigung des Klägers darstellt. Die angestrebte Feststellung, dass dieser Beschluss rechtswidrig war, kann zu der erwünschten Rehabilitierung führen, selbst wenn der Kläger den Beschluss nicht wegen des in ihm gelegenen Unwerturteils, sondern wegen der verhängten Rechtsfolge angreift. Ein Klageerfolg ist jedenfalls geeignet, den Ansehensverlust des Klägers in den Augen der Öffentlichkeit zumindest teilweise wieder auszugleichen.

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2. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

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a) Ohne Erfolg rügt der Kläger allerdings eine Verletzung von Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, dass § 31 Abs. 1 der Gemeindeordnung für Rheinland-Pfalz (GemO) i.d.F. der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (GVBl. S. 153, m.sp.Änd.) nicht deshalb mit Bundesrecht unvereinbar und nichtig ist, weil dem Landesgesetzgeber zu seinem Erlass die Kompetenz gefehlt hätte. Das wäre nur der Fall, wenn § 31 Abs. 1 GemO eine Strafnorm wäre; denn der Bund hat insoweit von seiner eigenen Gesetzgebungszuständigkeit für das Strafrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) durch den Erlass des Strafgesetzbuches und diverser strafrechtlicher Nebengesetze abschließend Gebrauch gemacht (allg. Meinung; vgl. nur Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 74 Rn. 14; Stettner, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2006, Art. 74 Rn. 23; Niedobitek, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand 2007, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 59). § 31 Abs. 1 GemO stellt jedoch keine Strafnorm dar. Gegenstand einer Strafnorm ist die Pönalisierung strafwürdigen Unrechts (BVerfG, Urteil vom 6. Juni 1967 - 2 BvR 375/60 u.a. - BVerfGE 22, 49 <79 ff.>; vgl. Urteil vom 10. Februar 2004 ‌- 2 BvR 834, 1588/02 - BVerfGE 109, 190 <211 ff.>). Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass § 31 Abs. 1 GemO keinen solchen Zweck verfolgt. Auch wenn sie an eine Kriminalstrafe anknüpft, so dient sie doch nicht ihrerseits einem Strafzweck, bezieht also ihre sachliche Rechtfertigung nicht aus der Anlasstat (BVerfG, Urteil vom 10. Februar 2004 - 2 BvR 834, 1588/02 - BVerfGE 109, 190 <215 ff.>).

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Damit verfängt auch der Hinweis des Klägers auf §§ 45 ff. StGB nicht. Richtig ist, dass diese Vorschriften den Verlust der Wählbarkeit vorsehen, was ebenfalls zum Mandatsverlust führt. Es handelt sich jedoch um eine spezifisch strafrechtliche Nebenfolge, die in der Rechtsprechung und Literatur deshalb ganz überwiegend als Nebenstrafe bezeichnet wird. Hierfür ist ausschlaggebend, dass sie nach Grund, Art und Höhe allein an den Unrechtsgehalt der abgeurteilten Tat anknüpft und demzufolge die Wählbarkeit (und die Amtsträgerfähigkeit) des Täters für bestimmte Zeit in jedweder Hinsicht, also für jedwedes Mandat (und für jedwedes Amt) ausschließt. Demgegenüber ist für § 31 Abs. 1 GemO nicht der Unrechts- oder Schuldgehalt der vom Strafgericht abgeurteilten Tat, sondern die Auswirkung der Verurteilung auf die künftige Verwaltungstätigkeit des Gemeinderates ausschlaggebend. Bezugspunkt dieser Beurteilung ist nicht der Täter, sondern der Gemeinderat selbst. Es ist auch nicht erkennbar, dass sich das Landesgesetz derart mit §§ 45 ff. StGB in Widerspruch setzt, dass den Normadressaten widersprüchliche Normbefehle erreichen (vgl. BVerfG, Urteil vom 7. Mai 1998 - 2 BvR 1991/95 u.a. - BVerfGE 98, 106 <118 ff.>).

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Stellt § 31 Abs. 1 GemO keine Strafnorm dar, so liegt auch der vom Kläger gerügte Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) nicht vor.

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b) Das Berufungsurteil beruht jedoch auf einer unzutreffenden Auslegung des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. Diese Bestimmung des Bundesverfassungsrechts schreibt die so genannten Wahlrechtsgrundsätze auch für Gemeinderatswahlen verbindlich vor (BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 1978 - 2 BvR 134/76 u.a. -‌ BVerfGE 47, 253 <276 f.>). Hiernach müssen Gemeinderatswahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein. Daraus erwachsen den Wahlbürgern subjektiv-öffentliche Rechte nicht nur für das aktive, sondern auch für das passive Wahlrecht (BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 1996 - 2 BvL 4/95 - BVerfGE 93, 373 <376> m.w.N.), das hier in Rede steht.

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aa) Ohne Erfolg rügt der Kläger allerdings, dass das Berufungsgericht in seinem Ausschluss aus dem Gemeinderat keine Verletzung des Grundsatzes der Freiheit der Wahl gesehen hat. Die Freiheit des Klägers, sich als Kandidat aufstellen und wählen zu lassen, ist nicht berührt. Um die Freiheit seiner Mandatsausübung geht es ebenfalls nicht; die Ausschließung aus dem Stadtrat betrifft nicht das "Wie" der Mandatsausübung, sondern das "Ob" der Mandatsinnehabung überhaupt.

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bb) Dass das Berufungsgericht die Grundsätze der Allgemeinheit und der Unmittelbarkeit nicht als verletzt erachtet hat, ist jedenfalls im Ergebnis richtig. Beide Grundsätze sind nicht berührt.

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(1) Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl soll den Ausschluss bestimmter Teile der Bevölkerung - auch Einzelner - vom aktiven und passiven Wahlrecht verhindern. Er dient damit der Gewährleistung des allgemeinen demokratischen Prinzips (Trute, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 19 m.w.N.). Die Allgemeinheit des passiven Wahlrechts wird durch gesetzliche Beschränkungen der Wählbarkeit berührt, etwa durch ein bestimmtes Mindestalter, durch eine Mindestaufenthaltsdauer in der Gemeinde oder durch Inkompatibilitätsregelungen (vgl. Art. 137 Abs. 1 GG), aber auch durch Beschränkungen der Wählbarkeit Einzelner, wozu § 45 StGB ermächtigt (vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 23. Oktober 1973 - 2 BvC 3/73 - BVerfGE 36, 139 <141 f.> und vom 21. September 1976 - 2 BvR 350/75 - BVerfGE 42, 312 <340 f.>; kritisch Meyer, in: Handbuch des Staatsrechts, Hrsg. Isensee/Kirchhof Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 4; Trute, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 24). Eine derartige Entziehung der Wählbarkeit steht hier jedoch nicht in Rede. Der Kläger darf unverändert bei politischen Wahlen - auch bei Kommunalwahlen der Beklagten - kandidieren und sich wählen lassen. Deshalb bedarf keiner Entscheidung, ob ihm darin beizupflichten wäre, dass die Aberkennung der Wählbarkeit nur durch Richterspruch erfolgen dürfte (vgl. in diesem Sinne die Venedig-Kommission der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Code of Good Practice in Electoral Matters, 2002, sowie allgemein zur Verpflichtungskraft von völkerrechtlichen Grundsätzen BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a. - BVerfGE 128, 326 m.w.N.).

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(2) Auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl greift nicht ein. Er gebietet, dass die Innehabung des Mandats unmittelbar, das heißt ohne Dazwischentreten (oder Mitwirken) eines dritten Willens auf die Wahlentscheidung des Wählers zurückzuführen sein muss. Der Grundsatz verbietet mit anderen Worten, dass das Mandat statt vom Wähler von einem Dritten erteilt wird (vgl. Trute, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 27 m.w.N.).

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Allerdings ist dem Berufungsgericht darin beizupflichten, dass die Geltung des Grundsatzes nicht zeitlich auf die Dauer des Wahlverfahrens beschränkt werden kann. Auch nach der ersten Zuteilung der Mandate und nach dem Beginn der Amtsperiode der Vertretungskörperschaft kann die Rückführbarkeit des Mandats allein auf die Entscheidung des Wählers noch in Frage gestellt werden. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gebietet etwa, dass nachträgliche Veränderungen der Sitzzuteilung im Zuge von Wahlprüfungsverfahren sich allein nach dem Wahlergebnis richten oder dass im Falle des späteren Rücktritts eines Gewählten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 1953 - 1 BvL 67/52 - BVerfGE 3, 45) das Nachrücken eines Ersatzbewerbers sich allein auf die Wählerentscheidung zurückführen lässt. Die Unmittelbarkeit der Wahl wird deshalb während der laufenden Amtsperiode der gewählten Vertretungskörperschaft berührt, wenn die Wirkung der Wählerentscheidung, das Mandat für die gesamte (restliche) Amtsperiode zu verleihen, von Dritten als solche bestritten wird, sei es dass ein Nachrücker dem ursprünglich Gewählten nachträglich wieder weichen soll (HessStGH, Urteil vom 7. Juli 1977 - P.St. 783 - NJW 1997, 2065), sei es dass die Partei, welche den Wahlbewerber aufgestellt hat, dessen vorzeitigen Mandatsverzicht verlangt (sog. Rotation).

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Dagegen wird der Grundsatz der Unmittelbarkeit durch den vorliegenden Ausschluss aus der Vertretungskörperschaft noch nicht berührt. Es ist verfehlt, jeden von Dritten verfügten Mandatsverlust als Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Wahl anzusehen. Der Grundsatz stellt schon nach seinem Wortlaut - "unmittelbar" - auf eine kausale Relation ab. Er ist nur betroffen, wenn das Gewähltsein als solches durch eine Willensentscheidung Dritter negiert wird.

26

Das bestätigt ein Blick auf den historischen Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Ursprünglich richtete er sich auf den Ausschluss der mittelbaren Wahl durch Wahlmänner; insofern ist der Grundsatz in Deutschland weitgehend obsolet, weil erfüllt. Eine neue Bedeutung erhält der Grundsatz durch die Gefahr einer Mediatisierung der Wahlentscheidung durch die politischen Parteien (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11. November 1953 - 1 BvL 67/52 - BVerfGE 3, 45 <50>, vom 3. Juli 1957 - 2 BvR 9/56 - BVerfGE 7, 63 <68 f.>, vom 9. Juli 1957 ‌- 2 BvL 30/56 - BVerfGE 7, 77 <84 f.> und vom 15. Februar 1978 - 2 BvR 134/76 u.a. - BVerfGE 47, 253 <279 f.>; vgl. auch Urteil vom 10. April 1997 ‌- 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 <350>). Beides betrifft zwar das Wahlverfahren, hierbei aber gerade diejenigen Vorschriften, welche das Mandat des Gewählten auf die Wahlentscheidung des Wählers zurückführen. Das schließt nicht aus, dass der Grundsatz künftig noch zusätzliche Bedeutung erlangt; auch dann aber steht der Kausalzusammenhang zwischen der Wahlentscheidung und dem Gewähltsein des Wahlbewerbers inmitten. Insofern sichert der Grundsatz die Verantwortlichkeit des Gewählten allein gegenüber den Wählern; er soll Legitimation und Auftrag seines Mandats allein von seinen Wählern erhalten und nicht auf Dritte zurückführen müssen oder dürfen.

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Dann aber stellt nicht jede Entscheidung Dritter über den Fortbestand des Mandats eine Beeinträchtigung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Wahl dar, sondern nur eine solche, welche den Erfolg des Wählervotums - das Gewähltsein - als solches negiert. Unbenommen ist demgegenüber eine Entscheidung, welche einen Mandatsverlust an wahlfremde Umstände knüpft. So wird durch einen Mandatsverlust als Folge des Verlusts der Wählbarkeit - etwa der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes in der Gemeinde - das Gewähltsein als solches nicht in Zweifel gezogen. Auch ein Mandatsverlust aus strafrechtlichen Gründen (§ 45 StGB) oder - wie hier - aus Gründen der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Rates stellt die Wahlentscheidung selbst nicht in Frage. Deshalb wird der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl durch § 31 Abs. 1 GemO nicht berührt. Die Vorschrift ermächtigt den Rat - und damit einen anderen als den Wähler - zwar, über den Fortbestand eines Mandats zu entscheiden. Jedoch zieht diese Entscheidung des Rates nicht das Gewähltsein des Mandatsträgers in Zweifel, sondern knüpft an wahlfremde Umstände an.

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cc) Das Berufungsurteil beruht jedoch auf einer unzutreffenden Handhabung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl.

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(1) Ebenso wie der Grundsatz der Allgemeinheit ist der Grundsatz der Gleichheit der Wahl eng mit dem Demokratieprinzip verbunden. Deshalb garantiert er die Gleichheit des Wahlrechts in formal-egalitärer Weise, so dass grundsätzlich die eine Stimme auf das Wahlergebnis rechtlich denselben Einfluss ausüben muss wie die andere (BVerfG, Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 84 <91>; stRspr). Auch dieser Grundsatz beherrscht nicht nur die Erlangung des Mandats und damit die erste Zusammensetzung des gewählten Organs, sondern ebenso den Fortbestand des Mandats und damit die Zusammensetzung des Organs während der gesamten Wahlperiode (BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 1996 - 2 BvL 4/95 - BVerfGE 93, 373 <377> m.w.N.).

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Dass § 31 Abs. 1 GemO den Gemeinderat zu einer Ungleichbehandlung bestimmter Gemeinderatsmitglieder ermächtigt, steht außer Zweifel. Der Betroffene wird gegenüber den übrigen Gewählten ungleich behandelt, weil er sein Mandat nicht länger ausüben darf. Anders als das Berufungsgericht meint, ist hierfür unerheblich, ob die Wahl selbst eine Persönlichkeitswahl ist oder doch ‌- durch die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens - jedenfalls Elemente einer Persönlichkeitswahl enthält. Selbst im Falle einer reinen Listenwahl ohne derartige Variationsmöglichkeiten beruht das Mandat eines jeden Ratsmitgliedes auf einem für sämtliche (Listen-)Bewerber grundsätzlich gleichen Wahlsystem (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 1953 - 1 BvL 67/52 - BVerfGE 3, 45 <50 f.>), dessen Ergebnis durch den späteren Ausschluss eines Gewählten verändert wird. Auf die Besonderheiten des rheinland-pfälzischen Kommunalwahlsystems kommt es daher nicht an.

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(2) Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG schließt eine Ungleichbehandlung der Gewählten zwar nicht schlechterdings aus, knüpft sie aber an zwingende Gründe des gemeinen Wohls, welche die Durchbrechung des demokratischen Prinzips der formalen Stimmengleichheit rechtfertigen (BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 1976 - 2 BvR 89/74 - BVerfGE 41, 399 <413> und vom 16. Januar 1996 - 2 BvL 4/95 - BVerfGE 93, 373 <377> m.w.N.). Das setzt voraus, dass die Gründe des gemeinen Wohls ihrerseits von verfassungsrechtlichem Rang sind und ein dem Wahlrechtsgrundsatz wenigstens entsprechendes Gewicht aufweisen (BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 <418>), sei es dass sie sich aus der Natur des Wahlvorgangs zwingend ergeben, sei es dass sie im Konfliktfalle einem anderen Wahlrechtsgrundsatz zur Geltung verhelfen sollen, sei es schließlich dass sie der Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele dienen (vgl. BVerfG, Urteile vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. - BVerfGE 82, 322 <338>, vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 <409> und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <106 f.>; jeweils m.w.N.).

32

Ausweislich Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG zielt die Wahl des Gemeinderates darauf, den Gemeinderat als Hauptvertretungsorgan des Gemeindevolkes zu bilden, dem neben dem Bürgermeister die Erfüllung der Verwaltungsaufgaben der Gemeinde obliegt. Die Wahl verfehlte diesen ihren Zweck, wenn das gewählte Vertretungsorgan seine Aufgaben nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen könnte. Es ist deshalb anerkannt, dass die Wahrung oder Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Rates einen Grund des gemeinen Wohls darstellen kann, der nach Rang und Gewicht eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit zu legitimieren vermag. Voraussetzung ist allerdings, dass eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit typischerweise vorliegt oder hinlänglich konkret zu erwarten ist und dass die Ungleichbehandlung eine Beseitigung dieser Störung mit hinreichender Sicherheit verspricht (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <114>).

33

Das Berufungsgericht hat angenommen, dass die durch § 31 Abs. 1 GemO ermöglichte Ungleichbehandlung gewählter Gemeinderatsmitglieder durch den Zweck der Wahrung oder Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Rates gerechtfertigt werden könne. Allerdings hat es insofern nicht auf die Fähigkeit des Rates abgestellt, seine Verwaltungsaufgaben zu erfüllen, sondern darauf, ob der Rat imstande ist, das Gemeindevolk "richtig" zu repräsentieren, sowie im Gegenzuge darauf, ob sich das Gemeindevolk durch den Rat angemessen repräsentiert sehe. Nur dann genieße der Rat das nötige Ansehen in der Bevölkerung, auf welches die Vorgängerregelung zu § 31 Abs. 1 GemO abgehoben habe (LT-Drs. II 2/343 S. 986) und welches allein die Akzeptanz des Rates und seiner Entscheidungen in der Bevölkerung gewährleisten könne (vgl. Barrot, LKRZ 2012, 320 <322>). Damit kann eine Abweichung von der strengen Mandatsgleichheit nicht gerechtfertigt werden. Zwar dient die Gemeindevertretung der Vertretung des Gemeindevolkes und ist es Aufgabe der Wahl und des sie ordnenden Wahlrechts, diese Vertretung zu bewerkstelligen. Jedoch gebietet der Gesichtspunkt der Repräsentationsfähigkeit des gewählten Organs in erster Linie eine Repräsentationsgenauigkeit und spricht damit gerade gegen eine Veränderung des Wahlergebnisses, weshalb das Bundesverfassungsgericht Benachteiligungen einzelner Abgeordneter bei der Ausübung ihres Mandats gerade für unzulässig erklärte (BVerfG, Urteile vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88, Wüppesahl - BVerfGE 80, 188 <219, 222> und vom 16. Juli 1991 - 2 BvE 1/91 - BVerfGE 84, 304 <321 f.>).

34

Andere Ungleichbehandlungen hat das Bundesverfassungsgericht nur in besonderen Ausnahmelagen - und begrenzt auf diese - zugelassen. So hat es eine parlamentarische Untersuchung des "Vorlebens" einzelner Abgeordneter zu Zwecken der Aufklärung der Öffentlichkeit nur für die historische und politische Sonderlage der deutschen Wiedervereinigung gebilligt (BVerfG, Beschluss vom 21. Mai 1996 - 2 BvE 1/95 - BVerfGE 94, 351 <367 ff.>; Urteil vom 20. Juli 1998 - 2 BvE 2/98 - BVerfGE 99, 19 <32>). Es ist nicht ersichtlich, dass die nicht nur in Sonderlagen situativ anwendbare, sondern generelle Vorschrift des § 31 Abs. 1 GemO durch diese Judikatur gestützt werden könnte. Daran vermag auch der Vortrag der Beklagten nichts zu ändern, ihr Stadtrat habe im vorliegenden Fall lediglich einen irrtumsbelasteten Wählerwillen korrigieren wollen ("Hätte der Wähler um die Strafverurteilung gewusst, hätte er den Kläger nicht gewählt."). Das vermag die gesetzliche Vorschrift als solche nicht zu rechtfertigen (und trifft im Übrigen auch tatsächlich nicht zu, weil jedenfalls die - dann später abgeurteilte - Straftat am Wahltag allgemein bekannt war).

35

3. Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1, § 144 Abs. 4 VwGO). Zwar lässt sich § 31 Abs. 1 GemO - enger als vom Berufungsgericht angenommen - verfassungskonform auslegen. Einer solchen Auslegung der irrevisiblen Norm durch das Revisionsgericht steht auch deren weitere berufungsgerichtliche Auslegung nicht entgegen, wenn diese ‌- wie hier - revisibles Recht verletzt (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1986 - 7 C 79.85 - BVerwGE 75, 67 <72> m.w.N.). Bei zutreffender verfassungskonformer Auslegung deckt § 31 Abs. 1 GemO aber nicht die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung. Das ergibt sich aus den revisionsrechtlich bindenden Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz (§ 137 Abs. 2 VwGO), ohne dass weitere Feststellungen erforderlich wären. Das Bundesverwaltungsgericht kann daher in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Dies führt zur Änderung der Urteile der Vorinstanzen und zu der vom Kläger begehrten Feststellung, dass sein Ausschluss aus dem Rat der Beklagten rechtswidrig war.

36

a) Allerdings ist § 31 Abs. 1 GemO gültiges Recht. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Vorschrift einer Auslegung zugänglich, die mit den Anforderungen des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl vereinbar ist. Wie erwähnt, setzt dies voraus, dass die Vorschrift dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Rates im Sinne seiner Fähigkeit, seine gesetzlichen Aufgaben wahrzunehmen, dient, dass eine solche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit in den vom Gesetz erfassten Fällen typischerweise vorliegen oder eintreten kann und dass die vom Gesetz vorgesehene Ungleichbehandlung eine Beseitigung dieser Störung mit hinreichender Sicherheit verspricht (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <114>). Das kann angenommen werden, wenn ein Ratsmitglied wegen einer Straftat verurteilt wurde, die in sachlichem Zusammenhang mit der Ratsarbeit steht und die die Arbeitsfähigkeit des Rates so nachhaltig stört, dass deren Sicherstellung oder Wiederherstellung den Ausschluss des Ratsmitgliedes erfordert.

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Richtig ist, dass sich eine solche Auslegung von der Vorstellung des historischen Gesetzgebers, wie sie das Berufungsgericht ermittelt hat, entfernt. Dem historischen Gesetzgeber ging es nicht um die Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Rates, sondern um die Sicherung seines Ansehens in der Bevölkerung. Damit allein ließe sich die Durchbrechung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit nicht rechtfertigen. Das zwingt indes nicht dazu, § 31 Abs. 1 GemO für verfassungswidrig zu erklären. Der Wortlaut der Vorschrift lässt zu, die Vorschrift zum Schutz der Arbeitsfähigkeit des Rates und damit zu einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck einzusetzen. Auch das Berufungsgericht hat ihren Schutzzweck abweichend von der Vorstellung des historischen Gesetzgebers definiert, auch wenn es insofern noch nicht weit genug gegangen ist. Ist eine gesetzliche Vorschrift hinsichtlich eines Teils ihres Anwendungsbereichs verfassungskonform und kann sie derartig einschränkend ausgelegt werden, verbietet es sich, sie auch insoweit und damit gänzlich als verfassungswidrig und nichtig anzusehen.

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§ 31 Abs. 1 GemO erlaubt den Ausschluss eines Ratsmitgliedes aus dem Rat, wenn das Ratsmitglied - erstens - nach der Wahl zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt wurde und es - zweitens - durch die Straftat die für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit verwirkt hat. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist, wer vorbestraft ist, nicht mehr unbescholten. Die zweite Voraussetzung für den Ausschluss erlangt demzufolge gegenüber der ersten nur dadurch selbstständige Bedeutung, dass Art und Maß der "Bescholtenheit" danach bestimmt werden muss, was "für ein Ratsmitglied erforderlich" ist. Dies erlaubt und gebietet es, die Möglichkeit des Ausschlusses aus dem Rat wegen einer Straftat in sachliche Beziehung zur Ratsarbeit sowie nach Art und Gewicht zugleich in Beziehung zu dem demokratischen Prinzip zu setzen, dessen Wahrung das Gebot der Wahlrechtsgleichheit in erster Linie dient und welches der Ausschluss relativiert.

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Daraus ergibt sich zum einen, dass die Straftat in sachlichem Zusammenhang mit der Ratsarbeit stehen muss. Dieser Zusammenhang besteht nicht nur bei einer Straftat in der Ratssitzung oder in sonstiger Ausübung des Mandats, sondern etwa auch bei einer Straftat im Zuge des Kommunalwahlkampfs wie im vorliegenden Falle oder eines sonstigen politischen Wahlkampfs. Insofern ist dem Berufungsgericht beizupflichten. Ihm kann lediglich darin nicht gefolgt werden, dass es auch Straftaten ohne jegliche politische Konnotation als mögliche Anknüpfungstaten ansieht, wenn diese nur hinlänglich schwer wiegen; solchen Taten fehlt der nötige sachliche Bezug zur Ratsarbeit.

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Aus dem Vorstehenden ergibt sich des Weiteren, dass die Straftat die Sorge begründen muss, von dem Ratsmitglied gehe auch künftig eine Gefährdung der Arbeitsfähigkeit des Rates aus. Im Kommunalrecht ist weithin anerkannt, dass der Zweck, die Funktionsfähigkeit der Ratstätigkeit zu schützen, den zeitweiligen Ausschluss eines Ratsmitgliedes aus der laufenden Sitzung oder zusätzlich für die folgende oder mehrere folgende Sitzungen in Anknüpfung an eine Störung der Sitzung erlaubt. Es ist möglich, dass das Verhalten eines Ratsmitgliedes im Rat oder im sachlichen Zusammenhang mit der Ratsarbeit die Funktionsfähigkeit des Rates derart gravierend beeinträchtigt, dass deren Schutz den Ausschluss dieses Mitgliedes für den verbleibenden Rest der Wahlperiode erforderlich macht. Das kommt namentlich in Betracht, wenn das Ratsmitglied organisierte Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung eingesetzt hat. Ein solches Verhalten stellt die freie demokratische Willensbildung im Rat in Frage. Die Willensbildung im Rat setzt voraus, dass alle Ratsmitglieder ihr Mandat frei von unzulässiger Einflussnahme, Druck und Einschüchterung wahrnehmen und ihre Überzeugung und ihre politischen Anliegen in der Ratsarbeit uneingeschränkt zum Ausdruck bringen können. Daran fehlt es, wenn sie infolge des Verhaltens eines Ratskollegen damit rechnen müssen, dass dieser auch künftig organisierte körperliche Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung einsetzt. Solche Handlungen führen typischerweise zur Einschüchterung und sind geeignet, das eigene Verhalten im Rat in einer Weise zu beeinflussen, die Konflikte mit diesem Ratskollegen zu vermeiden, zu mindern oder zu verdecken sucht. All diese Reaktionen beeinträchtigen die freie politische Auseinandersetzung im Rat und stellen damit die demokratische Grundlage der gemeindlichen Aufgabenerfüllung in Frage.

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b) Ob hiernach die gesetzlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 GemO in der gebotenen verfassungskonformen Auslegung vorlagen, ist nicht festgestellt. Der Rat der beklagten Stadt hat jedenfalls von dem durch die Vorschrift eröffneten Ermessen keinen dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Gebrauch gemacht, obwohl dies geboten gewesen wäre (§ 1 Abs. 1 LVwVfG i.V.m. § 40 VwVfG). Der Stadtrat der Beklagten hat angenommen, dass § 31 Abs. 1 GemO dem Schutz der Lauterkeit und Sauberkeit der Verwaltung und damit dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Gemeindevolk und dem Rat als seiner Vertretung diene; dieses Vertrauensverhältnis hat er als gestört erachtet, zu seiner Wiederherstellung hat er den Ausschluss des Klägers verfügt. Das entspricht zwar - wie gezeigt - der Vorstellung des historischen Gesetzgebers, wird indes den Anforderungen des Grundgesetzes nicht gerecht. Auf den Schutz seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit, auch auf das hierzu nötige Vertrauen in die allseitige Friedfertigkeit der Ratsmitglieder untereinander, hat der Rat den Ausschlussbeschluss hingegen nicht gestützt. Zudem hat er nicht geprüft, ob die Gefahr für seine Arbeitsfähigkeit noch gegenwärtig fortbestand und ob ihr mit dem Ausschluss des Klägers hinlänglich sicher begegnet werden konnte. Entgegen der Auffassung des Klägers fehlt es daran allerdings nicht schon, weil auch ein ausgeschlossenes Ratsmitglied versuchen könnte, gewaltsam gegen politische Gegner vorzugehen. Im Rat wäre die Gefahr entsprechender Störungen mit dem Ausschluss beseitigt. Gewaltsamen Störungen durch Nichtmitglieder wäre nicht mit kommunalrechtlichen, sondern mit polizei- und strafrechtlichen Maßnahmen zu begegnen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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