Urteil vom Bundesverwaltungsgericht (3. Senat) - 3 C 11/14
Tatbestand
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Die Klägerin, ein landwirtschaftlicher Familienbetrieb, wendet sich gegen die Aufhebung und Neufestsetzung der ihr zugewiesenen Zahlungsansprüche für die Betriebsprämie.
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Sie beantragte am 17. Mai 2005 die Festsetzung von Zahlungsansprüchen unter Zuweisung eines zusätzlichen betriebsindividuellen Betrags aus der nationalen Reserve wegen einer Investition für den (Um-)Bau eines Stalls, mit dem ihr zusätzliche Plätze für die Bullenmast zur Verfügung stünden. Auf dem zugehörigen Formblatt vermerkte sie, sie werde die Nachgenehmigung für den Stall beantragen. Nachfolgend legte sie eine behördliche Bescheinigung vor, die die Beantragung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für den Stall bestätigte. Weiter erklärte sie mit Schreiben vom 3. April 2006, die Genehmigung nicht bis zum 15. Mai 2006 vorlegen zu können, und bat daher um Fristverlängerung.
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Hierauf setzte die Beklagte mit Bescheid vom 7. April 2006 Zahlungsansprüche fest und wies der Klägerin wegen der Investition einen zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag in Höhe von 17 546,76 € zu. Dabei berücksichtigte sie allerdings weniger Stallplätze, als von der Klägerin begehrt.
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Die Klägerin erhob deshalb Verpflichtungsklage und begehrte einen weiteren zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag. Das Verwaltungsgericht gab der Klage teilweise statt. Auf die Berufung der Beklagten wies das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Klage mit rechtskräftigem Urteil vom 18. Januar 2011 insgesamt ab (10 LB 70/09). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Klägerin habe bereits dem Grunde nach keinen Anspruch auf einen zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag, weil die erforderlichen Nachweise, insbesondere die Genehmigung für den Stall, nicht bis zum 15. Mai 2006 erbracht worden seien. Sie habe auch nicht nachgewiesen, nicht vertreten zu müssen, dass die im Oktober 2006 aufschiebend bedingt erteilte Genehmigung nicht fristgerecht vorgelegt worden und diese noch immer nicht wirksam geworden sei.
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Parallel zu diesem Verfahren hat die Beklagte bereits mit Schreiben vom 8. November 2006 die Klägerin zu der Absicht angehört, den Bescheid vom 7. April 2006 zu ändern und die Zuweisung eines zusätzlichen betriebsindividuellen Betrags vollständig abzulehnen. Sie hat dies jedoch erst nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens weiterverfolgt und die Klägerin mit Schreiben vom 27. Dezember 2011 erneut angehört. Mit Bescheid vom 27. Februar 2012 hat die Beklagte sodann den Festsetzungsbescheid vom 7. April 2006 aufgehoben und die Zahlungsansprüche neu festgesetzt. Dabei hat sie die Zuweisung eines zusätzlichen betriebsindividuellen Betrags abgelehnt.
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Die hiergegen erhobene Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. In seinem Berufungsurteil vom 17. Juni 2014 hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, die Beklagte habe auf der Grundlage von § 10 Abs. 1 Satz 1 des Marktorganisationsgesetzes zu Recht den Festsetzungsbescheid vom 7. April 2006 aufgehoben und die Zahlungsansprüche neu festgesetzt. Wie es bereits in seinem Urteil vom 18. Januar 2011 ausgeführt habe, seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines zusätzlichen betriebsindividuellen Betrags schon dem Grunde nach nicht gegeben. Der Rechtswidrigkeit des der Klägerin ursprünglich gewährten zusätzlichen betriebsindividuellen Betrags stehe auch Art. 137 der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 nicht entgegen. Die Voraussetzungen dieser Regelung, nach der vor dem 1. Januar 2009 zugewiesene Zahlungsansprüche ab dem 1. Januar 2010 als rechtmäßig und ordnungsgemäß gälten, seien zwar dem Wortlaut nach gegeben (Art. 137 Abs. 1 VO
Nr. 73/2009). Auch sei ihre Anwendbarkeit nicht wegen eines sachlich fehlerhaften Antrags ausgeschlossen (Art. 137 Abs. 2 VO Nr. 73/2009). Die Reichweite der Vorschrift sei jedoch nach ihrem Sinn und Zweck zu beschränken. Nach dem sie betreffenden Erwägungsgrund habe den Mitgliedstaaten ermöglicht werden sollen, auf die Rückforderung bestimmter, besonders hoher irrtümlicher Zahlungen zu verzichten. In diesem Sinne sei der Anwendungsbereich der Vorschrift zu begrenzen, wobei der Irrtumsbegriff dem des offensichtlichen Irrtums entspreche. Hier beruhe die ursprüngliche Festsetzung jedoch nicht auf einem Irrtum der Beklagten, sondern auf den Antragsangaben der Klägerin. Aber auch die Klägerin habe sich nicht geirrt, denn sie habe nicht redlich gehandelt. Entgegen ihren Angaben bei der Antragstellung habe sie die Genehmigung des Stalls nicht fristgerecht nachgewiesen und auch nicht nachgewiesen, dass sie die Nichterteilung der Genehmigung nicht zu vertreten habe. Sie habe damit ihre Pflichten nicht erfüllt. Ziel sei jedoch, Antragsteller zu schützen, die ohne eigenes Verschulden oder gutgläubig rechtsgrundlos Zahlungen erhalten haben; Art. 137 Abs. 2 VO (EG) Nr. 73/2009 schließe die Rechtmäßigkeitsfiktion aus, wenn der Antragsteller für die Fehler bei der Berechnung verantwortlich sei. Die Klägerin sei nicht ohne eigenes Verschulden oder gutgläubig in den Genuss überhöhter Zahlungsansprüche gekommen und sei daher nicht schutzwürdig. Die Rechtssicherheit, die mit der Regelung bezweckt sei, bedeute in erster Linie Vertrauensschutz; auch das streite für eine einschränkende Auslegung. Die Klägerin könne sich auf Vertrauensschutz aber nicht berufen, weil sie bereits seit November 2006 von der Absicht gewusst habe, die Zahlungsansprüche neu festzusetzen. Daran habe sich in der Folgezeit nichts geändert. Daneben spreche das Ziel der Verwaltungsvereinfachung dafür, die Reichweite der Vorschrift zeitlich zu beschränken. Verwaltungsaufwand werde nicht vermieden sondern sinnlos, wenn die Sach- und Rechtslage vor dem 1. Januar 2010 überprüft und das Verfahren lediglich formal noch nicht beendet worden sei.
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Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision zugelassen, weil grundsätzlich klärungsbedürftig sei, ob Art. 137 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 in der geschehenen Weise einschränkend auszulegen sei.
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Die Klägerin führt zur Begründung ihrer Revision aus, die Vorschrift erfasse alle fehlerhaften Zuweisungen, auch wenn besonders hohe irrtümliche Zahlungen Anlass der Regelung gewesen seien. Mit seinen Ausführungen zum Irrtumsbegriff gehe das Oberverwaltungsgericht an der Formulierung der Verordnung vorbei. Der Ausschluss der Rechtmäßigkeitsfiktion des Art. 137 Abs. 1 werde in Art. 137 Abs. 2 VO (EG) Nr. 73/2009 geregelt und setze einen sachlich fehlerhaften Antrag voraus. Zutreffend habe das Oberverwaltungsgericht erkannt, dass diese Ausschlussregelung nicht eingreife. Ihr Antrag sei nicht sachlich fehlerhaft gewesen. Sie habe die Angaben gemacht, die ihr damals bekannt gewesen seien. Die Beklagte habe über den Antrag entschieden, obwohl ihr bewusst gewesen sei, dass die Genehmigung noch nachzureichen gewesen sei. Die Zuweisung sei damit nicht auf der Grundlage eines fehlerhaften Antrags erfolgt. Darüber hinaus sei für eine Einschränkung der Norm kein Raum. Komme es trotz sachlich richtiger Angaben zu einer fehlerhaften Zuweisung, so werde dies nach dem eindeutigen Willen des Verordnungsgebers von der Ausschlussregelung des Art. 137 Abs. 2 VO (EG) Nr. 73/2009 nicht erfasst. Für die Argumentation des Oberverwaltungsgerichts, die Umstände, die zur Gewährung des zusätzlichen betriebsindividuellen Betrags geführt hätten, seien der Sphäre der Klägerin zuzurechnen, gebe es keine Grundlage. Auch gingen die Ausführungen, die Klägerin könne sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen, am Charakter der Vorschrift vorbei, denn mit ihr wolle der Verordnungsgeber durch die Festlegung eines Stichtags Rechtssicherheit schaffen. Es treffe im Übrigen auch nicht zu, dass der Klägerin bereits im November 2006 offenbar geworden sei, dass die Zuweisung fehlerhaft sei.
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Die Beklagte tritt der Revision entgegen. Der Vertrauensschutz des Art. 137 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 sei nicht einschlägig, da es sich nicht um rechtskräftig zugewiesene Zahlungsansprüche handele. Im Übrigen mache sie sich das Berufungsurteil zu eigen.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angegriffene Urteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts gilt der Festsetzungsbescheid vom 7. April 2006 als rechtmäßig, weshalb die Urteile der Vorinstanzen zu ändern sind und der Bescheid vom 27. Februar 2012 aufzuheben ist.
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Zutreffend geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass Bescheide, mit denen Zahlungsansprüche nach der Betriebsprämienregelung rechtswidrig zugewiesen worden sind, zurückzunehmen sind (§ 10 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen
, hier in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Juni 2005 , zuletzt geändert durch Art. 24 des Gesetzes vom 9. Dezember 2010 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 73/2009 des Rates - im Folgenden: VO Nr. 1122/2009). Das wird von der Revision nicht in Zweifel gezogen.
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Ebenso wenig stellt die Revision in Frage, dass die Klägerin bereits dem Grunde nach keinen Anspruch auf den zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag aus der nationalen Reserve hatte, der ihr mit Bescheid vom 7. April 2006 zuerkannt und dem Wert der festgesetzten Zahlungsansprüche zu Grunde gelegt worden ist. Auf die sich daraus ergebende ursprüngliche Rechtswidrigkeit der Zahlungsansprüche kann sich die Beklagte jedoch nicht mehr berufen, weil diese gemäß Art. 137 der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe (ABl. L 30 S. 16) - im Folgenden: VO (EG) Nr. 73/2009 - seit dem 1. Januar 2010 als rechtmäßig und ordnungsgemäß gelten. Die Festsetzung der Zahlungsansprüche in dem Bescheid vom 7. April 2006 wird vom Anwendungsbereich des Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 erfasst, und die mit ihr verbundene Rechtmäßigkeitsfiktion ist auch nicht nach Absatz 2 dieser Vorschrift ausgeschlossen.
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1. Mit seiner teleologischen Reduktion des Anwendungsbereichs von Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 verkennt das Oberverwaltungsgericht die Reichweite der Bestimmung.
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Dem teleologischen Argument kommt in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs besondere Bedeutung zu (vgl. etwa EuGH, Urteile vom 19. Juli 2012 - C-112/11 [ECLI:EU:C:2012:487], ebookers.com Deutschland GmbH - Rn. 12 ff. und vom 21. Juli 2011 - C-150/10 [ECLI:EU:C:2011:507], Beneo Orafti SA - Rn. 41 ff.). Das gilt umso mehr, als unterschiedliche Sprachfassungen die Bedeutung des Wortlauts zurückdrängen können (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 2011 - C-536/09 [ECLI:EU:C:2011:398], Marija Omejc - Rn. 24 m.w.N.). Sinn und Zweck der jeweiligen Norm des Unionsrechts sind unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, ihrer Entstehungsgeschichte und ihres systematischen Zusammenhangs zu ermitteln, wobei für die Auslegung von Sekundärrechtsakten die dem verfügenden Teil vorangestellten Erwägungsgründe erhebliches Gewicht haben können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 21. Juli 2011 - C-150/10, Beneo Orafti SA - Rn. 42 und 45). Bedeutung und Tragweite einzelner Begriffe, die das Unionsrecht nicht definiert, sind entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2010 - C-61/09, Niedermair-Schiemann - Rn. 60 m.w.N.).
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Das Oberverwaltungsgericht meint, aus dem Erwägungsgrund Nr. 49 zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 folgern zu können, die Anwendung ihres Art. 137 sei auf Fälle eines offensichtlichen Irrtums im Sinne von Art. 21 VO (EG) Nr. 1122/2009 (vormals Art. 19 VO
Nr. 796/2004) zu begrenzen. Der erste Satz dieses Erwägungsgrundes enthält zwar die Wendung, bei der ursprünglichen Zuteilung der Zahlungsansprüche hätten "einige Irrtümer" zu besonders hohen Zahlungen geführt. Es besteht jedoch kein Anhaltspunkt dafür, dass dem auf diese Weise beschriebenen Anlass der Vorschrift der spezielle Begriff eines offensichtlichen Irrtums zu Grunde zu legen sein könnte.
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Der Irrtumsbegriff (en: error; fr: erreur), den der europäische Normgeber im Zusammenhang mit dem Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem gleichbedeutend mit dem Begriff des Fehlers verwendet, setzt nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch objektiv eine Fehlvorstellung des sich Irrenden voraus. Führt ein Irrtum zu einer überhöhten Zahlung, so beschreibt der Begriff deren Ursache. Ein "Irrtum der zuständigen Behörde" im Sinne von Art. 80 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1122/2009 liegt dementsprechend dann vor, wenn die Bewilligung einer Beihilfe von einer Fehlvorstellung geleitet und diese dem Verantwortungsbereich der Behörde zuzuordnen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 - 3 B 20.12 - Buchholz 451.505 Einzelne Stützungsregelungen Nr. 6 Rn. 10).
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Für das Vorliegen eines offensichtlichen Irrtums im Sinne von Art. 21 VO (EG) Nr. 1122/2009 (vormals Art. 19 VO
Nr. 796/2004) ist darüber hinaus in subjektiver Hinsicht Gutgläubigkeit erforderlich (BVerwG, Urteil vom 26. August 2009 - 3 C 15.08 - Buchholz 424.3 Förderungsmaßnahmen Nr. 10 Rn. 21). Er bezieht sich auf den Betriebsinhaber und ermöglicht, einen Beihilfeantrag zu berichtigen. Das ist vor allem dann von Bedeutung, wenn die Behörde eine Kontrolle angekündigt oder den Betriebsinhaber bereits über eine Unregelmäßigkeit unterrichtet hat; denn eine Unregelmäßigkeit führt zu Sanktionen, wenn er nicht belegen kann, dass ihn keine Schuld trifft (Art. 73 Abs. 1 und 2 VO Nr. 1122/2009, vormals Art. 68 Abs. 1 und 2 VO Nr. 796/2004). Der gegen eine Unregelmäßigkeit, dem Verdacht eines Betruges oder einer Unredlichkeit abzugrenzende offensichtliche Irrtum ist deshalb ausgeschlossen, wenn der Betriebsinhaber nicht gutgläubig war. Das ist - jedenfalls regelmäßig - bei grober Fahrlässigkeit der Fall (BVerwG, Beschluss vom 3. September 2012 - 3 B 9.12 - juris Rn. 15 f.).
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Eine der Berichtigung wegen eines offensichtlichen Irrtums vergleichbare Situation liegt Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 jedoch ersichtlich nicht zu Grunde. Mit der Feststellung einiger Irrtümer, die er zum Anlass seiner Regelung nimmt, hat der Unionsgesetzgeber eine allgemeine Aussage getroffen, ohne dabei speziell einen Irrtum des Betriebsinhabers und Gutgläubigkeit im Sinne eines offensichtlichen Irrtums vorauszusetzen.
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Hinzu kommt, dass der Regelung des Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 die Überlegung zu Grunde liegt, im Zuge der Überprüfung der Agrarreform 2003 ("Health Check") "in Anbetracht der Zeit, die seit der ersten Zuteilung der Zahlungsansprüche vergangen ist" und hieraus folgenden "unverhältnismäßigen rechtlichen und administrativen Zwängen für die Mitgliedstaaten" im Interesse der Rechtssicherheit einen Schlussstrich zu ziehen (Erwägungsgrund Nr. 49 Satz 3 und 4). Mit diesen Zielen tritt die vom Oberverwaltungsgericht angenommene teleologische Reduktion in Widerstreit. Denn wenn die Anwendbarkeit der Vorschrift einen offensichtlichen Irrtum im beschriebenen Sinne voraussetzt, so käme es im Falle eines Irrtums der Behörde auf deren Gutgläubigkeit an, die eine mitunter komplexe Einzelfallwürdigung voraussetzt und von dem betroffenen Betriebsinhaber nicht ohne Weiteres beurteilt werden kann. Die mit der Vorschrift intendierte Rechtssicherheit verlangt aber auch im Unionsrecht eine Regelung, die den Rechtsbetroffenen Klarheit verschafft (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 11. November 2010 - C-152/09 [ECLI:EU:C:2010:671], Grootes - Rn. 43).
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Das Oberverwaltungsgericht meint allerdings, das Interesse an Rechtssicherheit spreche für seine teleologische Reduktion, weil Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz bedeute. Es trifft zwar zu, dass im Falle rückwirkender belastender Gesetze das schutzwürdige Vertrauen der Rechtsbetroffenen zu würdigen ist und gegebenenfalls das Prinzip der Rechtssicherheit eine Rückwirkung verbietet; darum geht es in den in Bezug genommenen Entscheidungen. Es stellt das Prinzip aber auf den Kopf, mit ihm aus Gründen materieller Gerechtigkeit eine den Wortlaut einschränkende Auslegung einer Regelung zum Nachteil eines Rechtsbetroffenen zu rechtfertigen.
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Den in Erwägungsgrund Nr. 49 genannten Anlass und die in ihm umrissenen Ziele hat der Unionsgesetzgeber mit der sowohl nach Wortlaut als auch Systematik klaren Regelung des Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 umgesetzt. Jenseits der Stichtage, die die von der Regelung erfassten Zuweisungen begrenzen (Absatz 1), bestimmt die Ausschlussklausel des zweiten Absatzes, in welchen Fällen die Durchsetzung des materiellen Rechts gegenüber dem Ziel einer abschließenden Bereinigung Vorrang haben soll. Sie löst damit das Spannungsverhältnis zwischen materiellem Recht und Rechtssicherheit auf und konkretisiert dadurch zugleich die Reichweite des Vertrauensschutzes: Die Zahlungsansprüche sollen dann nicht als rechtmäßig gelten, wenn sie auf der Grundlage sachlich fehlerhafter Anträge zugewiesen wurden (erster Satzteil). Dieser Ausschluss gilt wiederum nicht, wenn der Fehler für den Betriebsinhaber nach vernünftiger Einschätzung nicht erkennbar war (Rückausnahme, zweiter Satzteil).
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In ganz ähnlicher Weise hat der Unionsgesetzgeber geregelt, wann von Sanktionen abzusehen ist: Ein Betriebsinhaber bleibt von Sanktionen frei, wenn er sachlich richtige Angaben vorgelegt hat oder auf andere Weise belegen kann, dass ihn keine Schuld trifft (Art. 73 Abs. 1 VO
Nr. 1122/2009, vormals Art. 68 Abs. 1 VO Nr. 796/2004). Im Unterschied dazu sieht Art. 80 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1122/2009 (vormals Art. 73 Abs. 4 VO Nr. 796/2004) vor, dass zu Unrecht gezahlte Beträge nur dann nicht zurückzuzahlen sind, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte. Die Verpflichtung zur Zurückzahlung reicht damit über die Fälle hinaus, in denen die Beihilfe auf einem eigenen - vermeidbaren oder unvermeidbaren - Fehler des Betriebsinhabers beruht, und erstreckt sich auch auf Fehler der Behörde, wenn diese billigerweise erkennbar waren.
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Angesichts dieses Befundes ist die vom Oberverwaltungsgericht vorgenommene teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs auf Fälle eines so genannten offensichtlichen Irrtums nicht tragfähig. Sie lässt sich mit den Zielen der Regelung nicht rechtfertigen und widerspricht dem nach Wortlaut und systematischem Zusammenhang klaren Ausschlusstatbestand des Art. 137 Abs. 2 VO (EG) Nr. 73/2009.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Oberverwaltungsgericht angeführten Entscheidung in der Rechtssache Vonk Noordegraaf (EuGH, Urteil vom 5. Juni 2014 - C-105/13 [ECLI:EU:C:2014:1126] - Rn. 54). Der Europäische Gerichtshof hat dort Art. 137 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 zugunsten eines Betriebsinhabers einschränkend ausgelegt und dabei davon gesprochen, dass die Vorschrift aus Gründen, die mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit zusammenhingen, gutgläubige Betriebsinhaber, die rechtsgrundlos Zahlungen erhalten haben, schützen wolle, hingegen nicht das Ziel habe, zukunftsbezogen Betriebsinhaber zu bestrafen. Der Gerichtshof hat sich in diesem Zusammenhang jedoch nicht mit der Reichweite des Schutzes der Vorschrift und dessen Ausschlussgrund befasst und musste das auch nicht, weshalb sich aus dieser allgemeinen Aussage keine weiterführenden Erkenntnisse ergeben. Nichts anderes gilt für sein Urteil vom 2. Juli 2015 (EuGH, Urteil vom 2. Juli 2015 - C-684/13 [ECLI:EU:C:2015:439], Demmer - Rn. 46). Es betraf unter anderem eine Frage der Auslegung der Rückausnahme des Art. 137 Abs. 2 Teilsatz 2 VO (EG) Nr. 73/2009, die - auf der Grundlage eines sachlich fehlerhaften Antrags - an die Erkennbarkeit des Fehlers anknüpft. In diesem Zusammenhang steht die allgemein gehaltene Aussage, Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 werde durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes begründet (EuGH, Urteil vom 2. Juli 2015 - C-684/13, Demmer - Rn. 78), was für die hier in Rede stehende Auslegung keine das Ergebnis infrage stellenden Rückschlüsse erlaubt. Entsprechendes gilt für die Aussage, auf Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 könne sich nicht berufen, wer vor dem Stichtag davon unterrichtet wurde, dass die Zahlungsansprüche zu Unrecht zugewiesen worden sind, zumal diese Aussage (uneingeschränkt) nur für den Fall gelten soll, dass es dem Betriebsinhaber um eine Berichtigung seiner Zahlungsansprüche gehe (EuGH, Urteil vom 2. Juli 2015 - C-684/13, Demmer - Tenor Nr. 2 und Rn. 78).
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Soweit das Oberverwaltungsgericht - ähnlich wie zuvor das Verwaltungsgericht - darüber hinaus der Auffassung ist, das Ziel der Verwaltungsvereinfachung spreche dafür, die Reichweite der Vorschrift zeitlich zu beschränken, löst es sich von dem Stichtagsprinzip, das in Art. 137 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 festgeschrieben ist. Dafür gibt es keine tragfähige Grundlage. Die mit der Regelung beabsichtigte Stärkung der Rechtssicherheit und das Prinzip der Rechtssicherheit als solches stehen einer Auslegung entgegen, die die Aufhebung von Zahlungsansprüchen noch nach dem Stichtag ermöglicht, weil sie bereits vor dem Stichtag - mehr oder weniger weitgehend - vorbereitet war. Nicht anders als bei der Rückforderung eines zu Unrecht gezahlten Betrags innerhalb von zwölf Monaten (Art. 80 Abs. 3 Unterabs. 2 VO
Nr. 1122/2009) muss der (Aufhebungs-)Bescheid übermittelt, dass heißt nach dem nationalen Verfahrensrecht vor dem Stichtag bekanntgegeben und damit wirksam geworden sein.
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Aus diesen Gründen kann den vom Oberverwaltungsgericht angenommenen Beschränkungen des Anwendungsbereichs des Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 nicht gefolgt werden. Das ist im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 267 Abs. 3 AEUV (exArt. 234 Abs. 3 EGV, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81 [ECLI:EU:C:1982:335], CILFIT - Rn. 16 ff.) eindeutig, so dass Anlass für die Einholung einer Vorabentscheidung nicht besteht. Ob jenseits dieser Beschränkungen sonst eine teleologische Reduktion der Vorschrift in Betracht kommt, bedarf keiner Vertiefung. Der ihr zugrunde gelegte Anlass einiger Irrtümer könnte zwar nahelegen, Art. 137 VO (EG) Nr. 73/2009 bei einem sachlich richtigen Antrag ausnahmsweise nicht anzuwenden, wenn die Behörde im Zusammenwirken mit dem Betriebsinhaber vorsätzlich zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union überhöhte Zahlungsansprüche zugewiesen haben sollte. Um ein solches Zusammenwirken geht es hier jedoch nicht.
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2. Das angegriffene Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).
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Zutreffend ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 137 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 gegeben sind. Die Zuweisung der Zahlungsansprüche erfolgte vor dem 1. Januar 2009 und ist nicht vor dem 1. Januar 2010 aufgehoben worden (§ 43 Abs. 1 und 2 VwVfG), so dass die Zahlungsansprüche vorbehaltlich des Ausschlusstatbestands des Art. 137 Abs. 2 VO (EG) Nr. 73/2009 als rechtmäßig und ordnungsgemäß gelten. Das wird von der Beklagten auch nur mit dem Argument in Abrede gestellt, die mit dem Bescheid vom 7. April 2006 festgesetzten Zahlungsansprüche seien nicht "rechtskräftig" zugewiesen. Sie verkennt damit jedoch, dass die Zahlungsansprüche nach nationalem Verfahrensrecht mit der Bekanntgabe des Festsetzungsbescheids vom 7. April 2006 wirksam zugewiesen wurden; ihr Bestand blieb von der auf einen höheren zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag gerichteten Verpflichtungsklage unberührt. Weitergehende Anforderungen bestehen nicht.
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Darüber hinaus hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass der Ausschlusstatbestand des Art. 137 Abs. 2 VO (EG) Nr. 73/2009 nicht gegeben sei. Das ist nicht zu beanstanden. Das Oberverwaltungsgericht hat hierzu allerdings keine weiteren Ausführungen gemacht und in anderem Zusammenhang - zur Frage eines offensichtlichen Irrtums der Klägerin - ausgeführt, diese habe entgegen ihren Angaben bei der Antragstellung die beantragte Genehmigung nicht bis zum 15. Mai 2006 nachgewiesen. Sollte damit ein sachlich fehlerhafter Antrag angesprochen sein, ist diese tatsächliche Feststellung jedoch aktenwidrig und daher nicht bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO). Die Klägerin hat in dem für den zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag auszufüllenden Formular handschriftlich vermerkt, sie werde eine Nach-Genehmigung des Stalls beantragen; zu einer fristgerechten Vorlage dieser Genehmigung hat sie sich nicht verhalten. Darüber hinaus hat sie unmittelbar vor Erlass des Festsetzungsbescheids der Beklagten schriftlich mitgeteilt, die Genehmigung gerade nicht bis zum 15. Mai 2006 vorlegen zu können, und um Fristverlängerung gebeten, was eine gegenteilige Antragsangabe korrigiert hätte, wäre sie gegeben (Art. 73 Abs. 2 VO
Nr. 1122/2009). Folglich ergeben sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts keine Umstände, wonach der Ausschlusstatbestand erfüllt sein könnte. Auch die Beklagte macht hierzu nichts weiter geltend.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
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Referenzen
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 144 1x
- VwGO § 137 2x
- 10 LB 70/09 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 43 Wirksamkeit des Verwaltungsaktes 1x