Urteil vom Bundesverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 A 5/17

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen eine auf § 58a AufenthG gestützte Abschiebungsanordnung.

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Der Kläger, ein 1980 geborener algerischer Staatsangehöriger, reiste erstmals 2003 in das Bundesgebiet ein und betrieb unter falscher Identität ein Asylverfahren. Nach erfolglosem Abschluss konnte er wegen fehlender Heimreisedokumente nicht abgeschoben werden. Anlässlich der Geburt eines Sohnes, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, offenbarte er der Ausländerbehörde seine wahre Identität und erhielt 2007 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG, die mehrfach verlängert wurde. Nach seiner Überstellung aus Frankreich im Oktober 2015 war sein Aufenthalt geduldet. Seit Mai 2016 ist der Kläger mit einer deutschen Staatsangehörigen nach islamischem Ritus verheiratet. Im Februar 2017 wurde eine gemeinsame Tochter geboren, die ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

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Der Kläger ist im Bundesgebiet mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, vor allem wegen Laden- und Taschendiebstahls. 2011 wurde er wegen Kindesentziehung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er seinen Sohn nicht wie vereinbart zur Kindesmutter gebracht und sich mit ihm von Dezember 2009 bis November 2010 in Algerien aufgehalten hatte. Ein weiteres Strafverfahren wegen Kindesentziehung, dem ein Aufenthalt des Klägers mit seinem Sohn in Algerien von September 2012 bis Dezember 2013 zugrunde lag, wurde eingestellt. Inzwischen steht das Sorgerecht für den Sohn allein der Kindesmutter zu, die dem Kläger jeglichen Kontakt verbietet. In Frankreich wurde der Kläger 2015 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und als Nebenfolge ein lebenslanges Einreiseverbot verhängt. Nach den Urteilsgründen bedrohte er am 13. Januar 2015 - eine Woche nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" in Paris - im Abschiebegewahrsam eine Amtsperson und eine Ärztin mit dem Tode. Zugleich rechtfertigte er den Anschlag auf das Satiremagazin, bezeichnete sich selbst als Terrorist und drohte mit einem eigenen Anschlag. Nach zehn Monaten Haft wurde er im Oktober 2015 nach Deutschland abgeschoben. In Spanien wurde er elfmal wegen "Raubstraftaten" festgenommen und gegen ihn 2013 ein fünfjähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgesprochen. In der Schweiz wurde gegen ihn 2015 nach einer Verurteilung wegen Diebstahls, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte ein dreijähriges Einreiseverbot verfügt.

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Mit Verfügung vom 16. März 2017 ordnete der Senator für Inneres der Freien Hansestadt Bremen - gestützt auf § 58a AufenthG - die Abschiebung des Klägers nach Algerien an (Ziffer 1 ). Gleichzeitig wurde ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet (Ziffer 2). Die Abschiebungsanordnung wurde mit der vom Kläger ausgehenden Gefahr eines terroristischen Anschlags begründet. Der Kläger bewege sich in einem radikal-islamistischen Umfeld und sympathisiere offen mit dem "Islamischen Staat" ("IS") und dessen Zielen. Sein Verhalten deute auf eine gewaltbereite Haltung und - seit seiner Rückkehr aus Frankreich - auf eine zunehmende Radikalisierung hin, durch die er in dem Willen bestärkt werden könnte, aufgrund seiner salafistischen Orientierung und seiner pro-jihadistischen Gesinnung Gewaltanwendung als legitimes Mittel zur Durchsetzung radikal-islamistischer Ziele einzusetzen. Die Beklagte stützte diese Einschätzung vor allem auf das der französischen Verurteilung zugrunde liegende Verhalten des Klägers, seine öffentlich geäußerte Akzeptanz für den "IS" und dessen Ziele sowie den Inhalt seiner "Posts" im sozialen Netzwerk Facebook. Angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr überwiege bei der Ermessensentscheidung auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass mit der Geburt der Tochter eine nach Art. 6 GG schützenswerte familiäre Beziehung entstanden sei, das Interesse an einer Ausreise das private Interesse am Verbleib. Die Verfügung wurde dem Kläger am 21. März 2017 ausgehändigt; am gleichen Tag wurde er zur Sicherung der Abschiebung in Haft genommen.

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Am 21. April 2017 hat der Kläger beim Bundesverwaltungsgericht Klage erhoben. Er hält § 58a AufenthG für verfassungswidrig. Unabhängig davon sei die Abschiebungsanordnung sowohl formell als auch materiell rechtswidrig. Die Beklagte habe - sowohl nach nationalem Recht als auch nach Unionsrecht - zu Unrecht von einer Anhörung abgesehen. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 58a AufenthG lägen nicht vor. Die Auslegung dieser Vorschrift durch den Senat führe zu einer unzulässigen Absenkung der Gefahrenschwelle. Zudem beruhe die Gefahrenprognose auf einer unrichtigen und unzureichenden Tatsachengrundlage. Er sei gegen den Terror des "IS" und die Tötung von Menschen. Die ihm in Frankreich vorgeworfenen Äußerungen habe er nicht gemacht. Er bestreite auch, sich in der Bahn mit Videos des "IS" gebrüstet zu haben. Auch sei er nicht Anführer einer Gruppe von Algeriern in der Rahmah-Moschee in Bremen, die sich von den anderen Gläubigen separiere und mit dem "IS" sympathisiere, und habe dort keinen Drohbrief abgelegt. Nach den Feststellungen des Bremer Verfassungsschutzes ergebe die Auswertung seines Facebook-Profils, dass er aufgrund der auch westlichen Inhalte nicht als jihadistischer Kämpfer anzusehen sei. Er bestreite, auf Facebook für den Krieg, die Verstümmelungen und das Abschlachten von Menschen geworben zu haben. Er verfolge seit Jahren, was vom "IS" verbreitet werde, weil er verstehen wolle, was Menschen dazu bringe, sich dieser Organisation anzuschließen. Er trauere um seinen in Syrien verstorbenen Bruder und seine dort verschollene Schwester und mache sich deshalb Vorwürfe. Nach einer schwierigen Zeit des Drogen- und Medikamentenmissbrauchs habe er 2015 endlich zu sich gefunden und eine Familie gegründet. Wäre er ein potentieller "IS"-Kämpfer, hätte er sich nicht für eine Lebenspartnerin entschieden, die aus einer "supermodernen" Familie stamme und als Einzige eine Kopfbedeckung trage. Er habe regelmäßig das Islamische Kulturzentrum Bremen e.V. (IKB) besucht, weil es für ihn gut erreichbar sei und dort nicht nur in türkischer Sprache gepredigt werde. Er bestreite nicht, eine extreme Auslegung des Islam zu glauben und zu praktizieren, sei aber nicht gewaltbereit. Gegenüber der Mutter seines Sohnes habe er keine Todesdrohung ausgesprochen. Auch habe er seinen Sohn nicht entführt; die Kindesmutter sei mit den Aufenthalten in Algerien einverstanden gewesen. Aufgrund eines beim Amtsgericht anhängigen Strafverfahrens hätte er nicht ohne dessen Zustimmung abgeschoben werden dürfen. Die Abwägung der betroffenen Interessen sei mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und die weitreichenden Folgen für ihn und seine Familie ermessensfehlerhaft und unverhältnismäßig. Außerdem bestehe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, da er befürchten müsse, wegen des vermeintlichen Terrorismusverdachts in Algerien gefoltert zu werden. Die vor seiner Abschiebung eingeholten Erklärungen algerischer Regierungsstellen stellten keine verlässliche Zusicherung zur Ausräumung eines Abschiebungsverbots dar. Dies zeige sich daran, dass er wenige Tage nach seiner Abschiebung in Algerien festgenommen und zunächst an einem unbekannten Ort festgehalten worden sei. Inzwischen befinde er sich in einem Gefängnis weiterhin in Haft. Sowohl zur Frage des Erfordernisses einer Anhörung nach Unionsrecht als auch zur Frage der Vereinbarkeit einer Abschiebung ohne vorherige Befristung mit der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG bedürfe es eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).

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Der Kläger beantragt,

die Abschiebungsanordnung in der Verfügung des Senators für Inneres der Freien Hansestadt Bremen vom 16. März 2017 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Sie verteidigt die angegriffene Verfügung. Einer Zusicherung habe es nicht bedurft, da aufgrund neuerer Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes islamistischen Gefährdern bei Abschiebung nach Algerien keine unmenschliche Behandlung drohe. Dessen ungeachtet sei mit einer solchen Behandlung hier jedenfalls aufgrund der vorgelegten Äußerungen algerischer Stellen nicht zu rechnen.

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Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich an dem Verfahren und teilt die Auffassung der Beklagten.

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Mit Beschluss vom 31. Mai 2017 - 1 VR 4.17 - hat der Senat einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit der Maßgabe abgelehnt, dass der Kläger erst nach Erlangung einer Zusicherung einer algerischen Regierungsstelle abgeschoben werden darf, wonach ihm in Algerien keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 3 EMRK). Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - nicht zur Entscheidung angenommen, hat aber in den Gründen gefordert, dass die einzuholende Zusicherung mit spezifischen Garantien verbunden sein müsse. Mit Beschluss vom 13. November 2017 - 1 VR 13.17 - hat der Senat der Beklagten zunächst im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, den Kläger auf der Grundlage der bis dahin eingegangenen Verbalnoten des algerischen Außenministeriums abzuschieben. Nach Vorlage eines Schreibens des Generaldirektors der beim algerischen Innenministerium angesiedelten "Direction Générale de la Sûreté Nationale" (DGSN), Generalmajor A. H., in dem dieser in seiner Funktion als Leiter der algerischen Polizei gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zugesagt hat, persönlich für die ordnungsgemäße Behandlung des Klägers Sorge zu tragen, hat der Senat mit Beschluss vom 3. Januar 2018 - 1 VR 16.17 - einen Antrag auf Erlass einer weiteren einstweiligen Anordnung abgelehnt. Daraufhin ist der Kläger am 10. Januar 2018 nach Algerien abgeschoben worden. Dort wurde er nach der Ankunft einer Befragung durch die Polizei unterzogen. Wenige Tage später wurde er an seinem Wohnsitz festgenommen und befindet sich seitdem in Haft.

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Der Senat hat eine Liste von Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in Algerien (Stand Februar 2018) erstellt und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht.

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Hinsichtlich des im angegriffenen Bescheid angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots wurde der Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. März 2018 - 1 A 2.18 - an das Verwaltungsgericht Bremen verwiesen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Senators für Inneres vom 16. März 2017 ist zulässig, aber unbegründet.

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1. Der Zulässigkeit der Klage steht die zwischenzeitliche Abschiebung des Klägers nicht entgegen. Hierdurch hat sich die Abschiebungsanordnung nicht erledigt, da von ihr weiterhin rechtliche Wirkungen ausgehen. Sie bildet unter anderem die Grundlage für die Rechtmäßigkeit der Abschiebung und darauf aufbauende Rechtsfolgen, etwa die Haftung des Klägers für die durch seine Abschiebung entstandenen Kosten nach §§ 66, 67 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 12).

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2. Die Klage ist aber unbegründet. Die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Beklagten vom 16. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Maßgeblich für die gerichtliche Beurteilung einer Abschiebungsanordnung ist in Fällen, in denen der Ausländer - wie hier - in Vollzug der gegen ihn ergangenen Entscheidung bereits abgeschoben worden ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Abschiebung. Mit dem Vollzug der Abschiebungsanordnung ist der mit dieser Maßnahme verfolgte Zweck eingetreten, und die Berücksichtigung nach der Abschiebung eintretender neuer Umstände - zu Gunsten wie zu Lasten des Betroffenen - widerspräche ihrem Charakter als Vollstreckungsmaßnahme. Nachträgliche Änderungen sind daher in einem Verfahren nach § 11 AufenthG zu berücksichtigen. Auch in Bezug auf die - inzidente - Prüfung von Abschiebungsverboten kommt es nur darauf an, ob diese im Zeitpunkt der Abschiebung vorlagen. Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der hinsichtlich der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung im Zielstaat einer Abschiebung auf den Zeitpunkt der Abschiebung abstellt und nachträglich bekannt werdende Tatsachen nur ergänzend heranzieht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 14 unter Hinweis auf EGMR, Urteil vom 14. März 2017 - Nr. 47287/15, Ilias u. Ahmed/Ungarn - Rn. 105 m.w.N.).

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Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen.

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2.1 Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 16; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 20 ff. und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - NVwZ 2017, 1530 Rn. 18). Der Hinweis des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung, dass ihn die Ausführungen des Senats und des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Norm nicht überzeugten, gibt keine Veranlassung für eine andere Beurteilung.

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2.2 Die Abschiebungsanordnung ist - wie bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren dargelegt - formell rechtmäßig. Der formellen Rechtmäßigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass der im Bundesgebiet zuletzt lediglich geduldete und damit kraft Gesetzes ausreisepflichtige Kläger vor Erlass der Abschiebungsanordnung möglicherweise nicht hinreichend angehört worden ist.

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a) Nach nationalem Verfahrensrecht war eine Anhörung entbehrlich. § 58a AufenthG schreibt eine Anhörung weder ausdrücklich vor noch verbietet er eine solche, so dass § 28 des Bremischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BremVwVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 2003 (Brem.GBl. S. 219) anzuwenden ist. Nach dieser Regelung ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Abs. 1). Nach § 28 Abs. 2 BremVwVfG kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist, etwa wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint (Nr. 1).

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Es kann offenbleiben, ob hier vor der Übergabe der Abschiebungsanordnung eine hinreichende Anhörung durch die für deren Erlass zuständige Behörde stattgefunden hat oder diese in der Folgezeit nachgeholt worden ist; denn jedenfalls durfte auf eine Anhörung nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 BremVwVfG verzichtet werden, weil eine sofortige Entscheidung im öffentlichen Interesse notwendig war. § 58a AufenthG zielt auf die Bewältigung von beachtlichen Gefahren für hochrangige Rechtsgüter. Bei der mit einer Anhörung verbundenen "Vorwarnung" bestünde regelmäßig die Gefahr, dass sich der Betroffene durch Untertauchen der Abschiebung entzieht oder sonst den mit der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung verfolgten Zweck vereitelt. Der Gesetzgeber selbst anerkennt dies in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG, nach dem ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen ist, wenn eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann; auch ist bei einer Abschiebungsanordnung eine freiwillige Ausreise nicht zu ermöglichen. Unabhängig davon war eine sofortige Entscheidung auch deshalb im öffentlichen Interesse notwendig, weil vom Kläger eine terroristische Gefahr ausgeht, die sich jederzeit aktualisieren kann (siehe näher unten). Die Anordnung von Abschiebungshaft ist erst möglich, wenn die Abschiebungsanordnung bereits ergangen ist (§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG). Besondere, atypische Umstände, die hier vor Erlass der Abschiebungsanordnung eine umfassende Anhörung ohne Gefährdung des Zwecks der Abschiebungsanordnung oder zumindest eine eingehendere Begründung der Ermessensentscheidung für den Verzicht auf eine Anhörung erfordert hätten, liegen nicht vor, zumal der Kläger in der Vergangenheit ein nicht unerhebliches Maß an Mobilität hat erkennen lassen (BVerwG, Beschlüsse vom 31. Mai 2017 - 1 VR 4.17 - juris Rn. 13 und vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 17).

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Entgegen der Auffassung des Klägers hat die Beklagte das ihr nach § 28 Abs. 2 BremVwVfG zustehende Absehensermessen fehlerfrei betätigt. Dem steht nicht entgegen, dass sie im angegriffenen Bescheid § 28 Abs. 2 Nr. 5 BremVwVfG zitiert. Dieser im Gesetz ausdrücklich aufgeführte Fall einer nicht gebotenen Anhörung ("insbesondere wenn") ist hier nicht einschlägig, weil eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG keine Maßnahme allein der Verwaltungsvollstreckung im Sinne dieser Regelung ist (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 16). Der weiteren Begründung ist indes zu entnehmen, dass die Beklagte mit Blick auf die vom Kläger ausgehende Gefahr von einer Anhörung abgesehen hat. Damit ist sie der Sache nach vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 28 Abs. 2 Nr. 1 BremVwVfG ausgegangen und hat von dem ihr für diesen Fall eingeräumten Absehensermessen Gebrauch gemacht. Dass sie diese Tatbestandsalternative einer kraft Gesetzes nicht gebotenen Anhörung in ihrer Verfügung nicht ausdrücklich erwähnt hat, ist für die Ermessensausübung unschädlich.

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b) Das Vorgehen der Behörde ist auch mit den Vorgaben des Unionsrechts, wie sie vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) zu beachten sind, vereinbar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 18 ff.). Es kann daher offenbleiben, ob diese Richtlinie auf Rückkehrverfahren, die - wie hier - nicht zu migrationsbedingten Zwecken, sondern zum Schutz der öffentlichen Sicherheit bei einer terroristischen Gefahr durchgeführt werden, überhaupt Anwendung findet (vgl. zu der Problematik BVerwG, Beschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 6).

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Die Richtlinie 2008/115/EG enthält selbst nicht ausdrücklich ein Anhörungsgebot vor Erlass einer Rückkehrentscheidung. Dieses gilt aber als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. näher EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13 [ECLI:EU:C:2014:2336], Mukarubega - Rn. 40 - 45; BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 19). Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen. Die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, soll der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sind Grundrechte wie das Recht auf Beachtung der Verteidigungsrechte aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Boudjlida - Rn. 43). Dabei ist auch das Ziel der Richtlinie, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in ihr Herkunftsland, zu berücksichtigen (ebenda, Rn. 45).

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Weitergehende Anforderungen ergeben sich entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung und der von ihm in diesem Zusammenhang angeregten EuGH-Vorlage (Schriftsatz vom 27. März 2018, Frage I.) auch nicht aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC). Soweit er sich auf das Recht auf eine gute Verwaltung nach Art. 41 GRC beruft, das nach Art. 41 Abs. 2 Spiegelstrich 1 GRC insbesondere das Recht jeder Person umfasst, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass sich aus dem Wortlaut des Art. 41 GRC eindeutig ergibt, dass sich dieser nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13 - Rn. 44 m.w.N.). Ein schrankenloser Anspruch auf Anhörung vor Erlass einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme durch eine nationale Ausländerbehörde ergibt sich auch nicht aus Art. 47 GRC (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) und Art. 48 GRC (Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte), ohne dass sich in diesem Zusammenhang eine dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegende entscheidungserhebliche Zweifelsfrage des Unionsrechts stellt.

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Damit bedurfte es hier auch unionsrechtlich nicht zwingend einer Anhörung des Klägers durch die Beklagte vor Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung. Mit der grundsätzlichen Entbehrlichkeit einer Anhörung vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG wird u.a. bezweckt zu verhindern, dass sich die vorausgesetzte besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder terroristische Gefahr (die hier auch tatsächlich besteht, s.u.) in der Zwischenzeit realisiert (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 21). Dies wäre bei Durchführung einer vorherigen Anhörung durch die zuständige Behörde - wie oben ausgeführt - nicht hinreichend sicher gewährleistet. Dessen ungeachtet traf die Aufenthaltsbeendigung den Kläger nicht völlig überraschend. Denn sein Aufenthalt im Bundesgebiet war seit seiner Abschiebung aus Frankreich im Oktober 2015 nur geduldet. Auch die Geburt der Tochter hat an diesem Status nichts geändert. Im Übrigen verbleibt jedem Betroffenen das Recht auf rechtliches Gehör im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden gerichtlichen Rechtsbehelfe.

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2.3 Die Verfügung ist - wie der Senat bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausgeführt hat - auch materiell rechtmäßig. Die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ist gegenüber der Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr. Eine solche Gefahr ging vom Kläger bei Abschiebung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose aus.

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a) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <120>). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 21).

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Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet haben. Diese sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt und gefährden die Sicherheitsinteressen auch anderer Staaten. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3) sowie dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern geeignet sind (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 22).

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Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr bei der ersten Alternative des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt. Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 23).

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Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbstständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 24).

33

Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehr-rechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen vom 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mithilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 25).

34

Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42). Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 26; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 45). Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerecht-fertigt und die Teilnahme am sogenannten "Jihad" als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - juris Rn. 18).

35

Für diese "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen. Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 27).

36

Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 28).

37

Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt ihr Handeln nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 29; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42).

38

b) In Anwendung dieser Grundsätze ging vom Kläger im (maßgeblichen) Zeitpunkt der Abschiebung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG aus, auch wenn den Sicherheitsbehörden kein konkreter Plan des Klägers zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden ist.

39

Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 31. Mai 2017 ausgeführt hat, gehörte der Kläger vor seiner Verhaftung der radikal-islamischen Szene in Deutschland an. Er räumt selbst ein, dass er mit seiner extremen islamischen Glaubensausrichtung, die sich am Salafismus bzw. Wahhabismus Saudi-Arabiens bzw. anderer radikal-sunnitischer Gruppierungen orientiert, am Rande der Gesellschaft stehe (Schriftsatz vom 18. April 2017). Im August 2016 wurde er vom Landeskriminalamt Bremen wegen seiner radikal-religiösen Einstellung und der familiären Vorgeschichte als "relevante Person Funktionstyp 'Akteur'" eingestuft (Polizeivermerk vom 9. September 2016 ). Nach den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden pflegte er als regelmäßiger Besucher des Islamischen Kulturzentrums Bremen e.V. (IKB) Kontakt mit Personen, die einer besonders radikalen Strömung des Salafismus angehören und aus deren Kreis schon mehrere Personen nach Syrien ausgereist sind, um sich dem bewaffneten Kampf auf Seiten des "IS" anzuschließen (Polizeivermerk vom 23. Februar 2017 S. 1 ; Personagramm Stand 10. März 2017 S. 7, 9 und 11 ). Ein jüngerer Bruder des Klägers (E. E. alias P. E.), der ebenfalls das IKB besuchte (Polizeivermerk vom 23. Juni 2016 S. 6 ), ist nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden 2015 nach Syrien gereist und hat sich Ende November 2015 im Irak als Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt (vgl. Ermittlungsakte/Abschnitt Bruder E.). Mit diesem Bruder stand der Kläger in engem Kontakt. Er hatte ihn in Deutschland in seine Wohnung aufgenommen (Polizeivermerk vom 23. Juni 2016 S. 8 ), ging mit ihm zum Gebet (Polizeivermerk vom 23. Juni 2016 S. 7 ) und erhielt von ihm vor dem Selbstmordattentat eine Abschiedsnachricht (polizeiliche Vernehmung D. V. vom 25. April 2016 ). Nach Angaben des Klägers soll auch eine Schwester - von Algerien aus - nach Syrien gereist sein und sich für den "Islamischen Staat" in die Luft gesprengt haben (Polizeivermerk vom 28. April 2016 ).

40

Auch der Kläger sympathisiert - entgegen seiner Einlassung im vorliegenden Verfahren - mit der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" und deren Märtyrerideologie. Am 14. September 2016 zeigte er in einem Zug der Bahn auf der Fahrt von B. nach O. einem Bekannten mit seinem Smartphone Videos von Exekutionen und Verstümmelungen und betonte dabei, stolz auf die Taten des "IS" zu sein. Der Einwand des Klägers, er könne sich an diesen Vorfall nicht erinnern, der ausgewerteten Bahnvideoaufzeichnung sei nur zu entnehmen, dass er zusammen mit einer anderen Person auf sein Handy schaue und sich amüsiere, übergeht die Angaben des unbeteiligten Augenzeugen V. P. D., der vom Kläger wegen seiner Äußerungen ein Foto machte (Ausländerakte Bl. 800), sich noch am gleichen Tag an die Polizei wandte und dort den Vorfall schilderte (vgl. Polizeivermerke vom 14. September 2016 und vom 4. November 2016 ). Soweit der Kläger geltend macht, ihm vorgeworfene Äußerungen seien zudem vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, vernachlässigt dies, dass es nicht um deren strafrechtliche Würdigung geht, stellt den Tatsachenkern der Vorgänge nicht in Abrede und steht einer Berücksichtigung des Vorfalls im Rahmen der zu treffenden Prognose, ob vom Kläger ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG ausgeht, auch sonst nicht entgegen.

41

Für eine beachtliche Radikalisierung des Klägers spricht auch sein auffälliges Verhalten in der von ihm regelmäßig besuchten Rahmah-Moschee in Bremen. Nach Angaben anderer Moscheebesucher war er Anführer einer Gruppe algerisch-stämmiger Männer, die mit ihren radikal-islamistischen Ansichten in der Moschee für Unruhe sorgten. Zwar konnte einem im Januar 2017 nach einem Streit wegen des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Berlin im Schuhschrank der Moschee aufgefundenen und möglicherweise von einem Mitglied dieser Gruppe verfassten arabischsprachigen Schreiben (Ermittlungsakte/Abschnitt Bedrohung Rahmah-Moschee Bl. 6) nach amtlicher Übersetzung und Auswertung durch einen Islamwissenschaftler (Ermittlungsakte/Abschnitt Bedrohung Rahmah-Moschee Bl. 70 und 82) weder die vom Anzeigeerstatter angenommene Todesdrohung und Ankündigung eines eigenen Sterbens für den "IS" (Ausländerakte Bl. 808) noch eine andere Sinnhaftigkeit entnommen werden. Den Aussagen der wegen dieses Schreibens bei der Polizei erschienenen und von dieser vernommenen Moscheebesucher ist aber zu entnehmen, dass sich die Gruppe um den Kläger in der Moschee von den anderen Muslimen abkapselte und diese als "Ungläubige" bezeichnete, sich offen zum "IS" bekannte und das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt für gerechtfertigt hielt, weil "Ungläubige" getötet worden seien (vgl. polizeiliche Zeugenvernehmungen D. U. vom 12. Januar 2017 , V. E-D. vom 12. Januar 2017 , V. F. vom 12. Januar 2017 und M. D. D. vom 23. Januar 2017 ). Zwei der Zeugen gaben zudem an, dass der Kläger in der Moschee stolz mit dem Attentat seines Bruders prahle (vgl. polizeiliche Zeugenvernehmung D. U. vom 12. Januar 2017 und V. F. vom 12. Januar 2017 ). Soweit der Zeuge E. D. meinte, der Kläger habe in der Moschee nie über seinen Bruder geredet, ergibt sich hieraus kein Widerspruch, zumal er - im Gegensatz zu den beiden anderen Zeugen - nicht aus Algerien, sondern aus Ghana stammt und bei seiner Vernehmung angegeben hat, dass er kein "algerisch" spreche (vgl. polizeiliche Zeugenvernehmung V. E.-D. vom 12. Januar 2017 ). Dass es sich bei einem der den Kläger belastenden Zeugen (D. U.) um den "Trauzeugen" des Klägers handelt, ändert nichts an der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner von anderen Zeugen bestätigten Angaben. Dass der Kläger den "Märtyrertod" seines Bruders guthieß, zeigt sich auch daran, dass er seinem kleinen Sohn eine Abschiedsnachricht des Bruders mit dem Hinweis vorspielte, dass der Onkel nach Syrien gegangen sei, um für den "Islamischen Staat" zu kämpfen und zu sterben (polizeiliche Vernehmung der früheren Lebensgefährtin D. V. vom 25. April 2016 ).

42

Die Auswertung des Facebookprofils des Klägers durch das Landesamt für Verfassungsschutz Bremen belegt ebenfalls nicht nur eine als solche nicht erhebliche, weil keine hinreichende Gefährlichkeit indizierende salafistische Orientierung (vgl. Auswertung vom 12. August 2016 ); auch sie offenbart vielmehr jihadistische Inhalte und eine (fortbestehende) Sympathie des Klägers für den "IS". Danach veröffentlichte der Kläger nicht nur 2014 u.a. die "IS-Hymne" (Screenshot-Zusammenstellung vom 10. März 2017 ), eine Nasheed-Sammlung des "IS" (Auswertung vom 13. Januar 2017 S. 3 ) und ein Propagandavideo des "IS" (Screenshot-Zusammenstellung vom 10. März 2017 ). Er rief noch im Juni 2016 zur Befreiung eines inhaftierten jihadistischen Predigers auf und postete im November 2016 ein - von ihm inzwischen wieder gelöschtes - Propagandavideo des "IS" (Screenshot-Zusammenstellung vom 10. März 2017 ). Soweit das Landesamt für Verfassungsschutz noch in seinen Auswertungen vom 25. April 2016 (Ermittlungsakte/Abschnitt Facebook 1) und vom 12. August 2016 (Ausländerakte Bl. 820) davon ausgegangen war, dass sich keine Indizien für eine jihadistische Gesinnung des Klägers ergäben, revidierte es diese Einschätzung aufgrund neuerer Erkenntnisse in seinen Stellungnahmen vom 13. Januar 2017 (Ermittlungsakte/Abschnitt Abschiebehaft) und 9. März 2017 (Ausländerakte Bl. 764). Danach ergab die Auswertung des Facebookprofils durch einen Islamwissenschaftler teilweise jihadistische Inhalte (Stellungnahme vom 13. Januar 2017, Ermittlungsakte/Abschnitt Abschiebehaft). Dafür spricht auch die Mitgliedschaft des Klägers in der arabischen Facebookgruppe "Die heutigen Murjiiten sind der Grund dafür, dass sich der Sieg hinauszögert", einer Gruppe mit klar pro-jihadistischer Haltung (Ausländerakte Bl. 764). Sympathisierte der Kläger noch 2016 offen mit dem "IS" und postete er jihadistische Inhalte, spricht dies für eine entsprechende Identifikation und ist hiervon ohne glaubhafte Distanzierung auch weiterhin auszugehen.

43

Angesichts der von den Sicherheitsbehörden gesammelten Erkenntnisse ist das generelle Bestreiten der gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe im gerichtlichen Verfahren als bloße Schutzbehauptung zu werten. Gleiches gilt für das pauschale Vorbringen des Klägers, er sei gegen den Terror des "IS", verfolge dessen Veröffentlichungen nur, weil er verstehen wolle, was Menschen dazu bringe, sich dem "IS" anzuschließen, trauere um seine Geschwister und habe nach dem Tod seines Bruders nur umso mehr erfahren wollen, um was es gehe. Dem widersprechen nicht zuletzt Art und Umfang der zum "IS" im Facebookprofil gespeicherten Inhalte. Diese Einlassung erklärt im Übrigen nicht die von den Sicherheitsbehörden dokumentierten Sympathiebekundungen für den "IS" und dessen Märtyrerideologie. Gegen die Glaubhaftigkeit seiner Einlassung spricht auch der Umstand, dass der Kläger bei einer polizeilichen Gefährderansprache am 23. Juni 2016 versuchte, die Beziehung zu seinem Bruder herunterzuspielen und nicht mehr preiszugeben, als den Behörden bereits bekannt war (Vermerk vom 23. Juni 2016 S. 7 f. ). Dass sich an der vom Kläger seit 2014 zum Ausdruck gebrachten Identifizierung mit dem "IS" und dessen Zielen inzwischen etwas geändert haben könnte, ist nicht zu erkennen. Eine rein verbale Distanzierung im gerichtlichen Verfahren ohne konkrete Anhaltspunkte für eine ernsthafte Änderung der inneren Einstellung genügt hierfür nicht.

44

Aus der Biographie des Klägers ergibt sich zudem nicht nur eine erhebliche Radikalisierung und Glorifizierung des "IS" und dessen Märtyrerideologie, sondern auch eine gewaltbereite Grundhaltung. Der Kläger fiel seit seiner ersten Einreise nach Deutschland im Jahr 2003 nicht nur im Bundesgebiet, sondern auch in Frankreich, Spanien und in der Schweiz immer wieder durch Straftaten auf, die sich auch gegen die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit und die Staatsgewalt richteten. In diesem Zusammenhang ist insbesondere seine Verurteilung durch das Strafgericht in Paris vom 15. Januar 2015 hervorzuheben. Nach den Urteilsgründen bedrohte der Kläger am 13. Januar 2015 - eine Woche nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" - eine französische Amtsperson im Abschiebegewahrsam mit dem Tode, indem er auf provozierende Art die Geräusche einer Maschinenpistole nachahmte. Außerdem drohte er einer Ärztin, die ihn untersuchen sollte, wegen ihres vermeintlich jüdischen Aussehens mit dem Tode:

"Du hast blaue Augen, du bist Jüdin, genau, du bist Jüdin, Hitler ist mit seiner Arbeit noch nicht fertig, ich werde dein Gesicht wiedererkennen, und ich werde kommen, um dich zu töten, du wirst sterben, du wirst sterben".

45

Zugleich rechtfertigte er den Anschlag auf das Satiremagazin, bezeichnete sich selbst als Terrorist und drohte mit einem eigenen Anschlag:

"Die Brüder Kouachi und Coulibaly hatten recht. Sie sind gütig. Ich bin ein Terrorist Allah Ahkbar".

"Ich unterstütze die Brüder Kouachi und Coulibaly dabei, die Polizei zu töten, sie sind nicht alleine. Es gibt viele von ihnen jetzt in Frankreich, das ist Algerien. Frankreich heute, das bin ich, ich werde eine Bombe auf die Champs-Elysées werfen".

46

Der Senat hatte schon im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch in Ansehung des Vorbringens des Klägers zu dem Verfahren keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die tatsächlichen Feststellungen dieses Urteils zu den Äußerungen, die der Verurteilung zugrunde liegen, zutreffend sind; insbesondere die Dauer der mündlichen Verhandlung, der Umfang der Beweisaufnahme und das Verhalten der Pflichtverteidigung stehen dieser Einschätzung nicht entgegen, zumal der Kläger nicht in Abrede gestellt hat, er habe nach dem Hinweis des Vorsitzenden, dass er nur mit seiner Zustimmung verurteilt werden könne, in Anwesenheit seines Rechtsanwalts erklärt, im Rahmen der Sitzung verurteilt werden zu wollen. In der Sache zeigen diese Äußerungen - ungeachtet des vom Kläger erhobenen Vorwurfs, die französische Justiz habe nach den Anschlägen von Paris überhastet und unangemessen vom Straftatbestand der Verherrlichung des Terrorismus Gebrauch gemacht - nicht nur eine innere Nähe des Klägers zum Terrorismus. Ihnen ist auch zu entnehmen, dass der Kläger aufgrund seiner radikal-islamistischen Einstellung nicht nur die westliche Lebensweise grundsätzlich ablehnt und ein nach islamistischen Vorgaben geprägtes Zusammenleben anstrebt, sondern auch bereit ist, zur Erreichung dieses Ziels einen Anschlag zu begehen. Soweit der Kläger die gegen ihn in Frankreich erhobenen Vorwürfe bestreitet, hat der Senat dies bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren als Schutzbehauptung gewertet, der schon in Frankreich im Strafverfahren nicht geglaubt worden ist. Der Hinweis auf die nach dem Anschlag vom 7. Januar 2015 angespannte Atmosphäre in Frankreich und/oder ein mögliches angeschlagenes subjektives Befinden des Klägers bzw. die geltend gemachten Übergriffe von Polizisten mag zudem gewisse verbale Entgleisungen allgemeiner Art oder sonstige Aggressionen erklären. Stoßrichtung und Inhalt seiner Äußerungen erklärt er aber gerade nicht und rechtfertigt auch nicht ihre Einordnung als bloßen Verbalradikalismus, der keine Anknüpfung an eine gefestigte innere Haltung hat oder dem erkennbar keine Taten folgen werden.

47

Dass das der französischen Verurteilung zugrunde liegende Verhalten Ausdruck einer zunehmenden Radikalisierung des Klägers ist und von seiner radikal-islamistischen Einstellung eine Bedrohung ausgeht, bestätigen auch Äußerungen im familiengerichtlichen Verfahren wegen der Gewährung eines Umgangsrechts mit seinem Sohn. Danach äußerte der Kläger gegenüber der Dolmetscherin, dass er alles tun werde, um für seinen Glauben zu kämpfen, und es hierfür auch legitim sei, eine Waffe in die Hand zu nehmen (vgl. Vermerk des Richters am Amtsgericht Dr. X. ). Vom Familienrichter bei der gerichtlichen Anhörung am 28. April 2016 auf seine Radikalisierung angesprochen, gab der Kläger keine Auskunft, sondern erwiderte lächelnd, er habe nur das Beste für seine Familie im Sinn (vgl. Polizeivermerk vom 28. April 2016 ). In die gleiche Richtung deutet auch seine Mitgliedschaft in einer arabischen Facebookgruppe mit klar pro-jihadistischer Haltung (vgl. Stellungnahme des Landesamts für Verfassungsschutz Bremen vom 9. März 2017 ).

48

Dem ist in der Gesamtschau nicht lediglich eine radikal-religiöse Einstellung zu entnehmen. Vielmehr sympathisiert der Kläger offen mit dem "IS" und dessen Märtyrerideologie. Dies ergibt sich aus den von der Beklagten vorgelegten Unterlagen, ohne dass es der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers (schriftsätzlich) angeregten ergänzenden Beiziehung der Akten des Bremer Landesamts für Verfassungsschutz, des Bundesamts für Verfassungsschutz und des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) bedarf. Die von der Beklagten vorgelegten Unterlagen der Sicherheitsbehörden sind hinreichend aussagekräftig für eine Bewertung des Gefährdungspotentials. Dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist nicht zu entnehmen, dass und welche weitergehenden entscheidungserheblichen Tatsachen sich aus den beizuziehenden Akten ergeben könnten. Soweit die Beklagte zur Begründung ihrer Verfügung einen in der Rahmah-Moschee aufgefundenen und angeblich vom Kläger stammenden "Drohbrief" herangezogen hat, hat der Senat schon im einstweiligen Rechtsschutzverfahren klargestellt, dass diesem Schriftstück nach amtlicher Übersetzung und Auswertung durch einen Islamwissenschaftler weder der vom damaligen Anzeigeerstatter zugeschriebene Inhalt noch eine andere Sinnhaftigkeit entnommen werden kann. Aus diesem Schriftstück hat der Senat daher keine - für den Kläger nachteiligen oder vorteilhaften - Schlussfolgerungen gezogen; folglich kommt es auch auf die Umstände seines Auffindens nicht an. Die vom Senat herangezogenen Veröffentlichungen im Facebookprofil des Klägers sind durch bei den Akten befindliche "Screenshots" belegt. Die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren beispielhaft angeführte Mitgliedschaft in einer arabischen Facebookgruppe mit klar pro-jihadistischer Haltung hat der Kläger innerhalb der ihm nach § 87b VwGO gesetzten Frist nicht substantiiert bestritten, sondern nur allgemein darauf hingewiesen, dass das Bremer Landesamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie das GTAZ mit der Sache befasst gewesen seien und Unterlagen beigetragen hätten, die aber zum Teil (z.B. die Mitgliedschaft in der Facebookgruppe) nur indirekt wiedergegeben würden. Auch insoweit hat der Kläger nicht dargelegt, dass und welche weitergehenden entscheidungserheblichen Tatsachen sich aus den beizuziehenden Akten ergeben könnten. Im Übrigen bestätigt die Mitgliedschaft in einer Gruppe mit klar pro-jihadistischer Haltung das aus einer Vielzahl weiterer Erkenntnisse gewonnene Gefährdungspotential des Klägers, ohne dass diesem Umstand zur Überzeugung des Senats bei der Gefahrenbewertung eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt.

49

Das Risiko eines terroristischen Anschlags durch den Kläger ist auch nicht durch dessen Zusammenleben mit seiner ihm seit Mai 2016 nach islamischem Ritus angetrauten Lebensgefährtin und die Geburt einer gemeinsamen Tochter im Februar 2017 entscheidungserheblich verringert. Dagegen spricht, dass keine Anhaltspunkte für eine glaubhafte Deradikalisierung des Klägers und Distanzierung vom "IS" und dessen Märtyrerideologie erkennbar sind. Der Kläger bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe pauschal und ohne erkennbare Änderung seiner inneren Einstellung. Selbst der Tod zweier Geschwister hat bei ihm keinerlei Sinneswandel herbeigeführt, sondern seine innere Einstellung eher bestärkt. Dies zeigt sich daran, dass er eine von seinem Bruder vor dessen Selbstmordattentat gesendete Abschiedsnachricht seinem - aus der Beziehung mit einer früheren Lebensgefährtin stammenden - kleinen Sohn vorgespielt hat und Dritten gegenüber bekundet hat, dass er auf seinen Bruder wegen des Selbstmordattentats "stolz" sei. In die gleiche Richtung deutet auch seine Äußerung gegenüber der Polizei, seine Schwester habe sich "als Märtyrerin für den IS geopfert" (Polizeivermerk vom 21. Februar 2017 ). Dies zeigt die tiefe, familiäre Bindungen überlagernde Verwurzelung des Klägers mit dem "IS" und dessen Märtyrerideologie. Die vom Kläger im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorgelegte eidesstattliche Versicherung seiner jetzigen Lebensgefährtin steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Soweit sie den Kläger, mit dem sie seit Mai 2016 bis zu dessen Inhaftierung zusammenlebte, als einen der westlichen Lebensweise zugewandten Muslim charakterisiert, der kein radikaler Islamist sei, sondern nur verstehen wolle, was Menschen dazu bringen könne, sich so zu radikalisieren, widerspricht diese Einschätzung nicht nur den von den Sicherheitsbehörden - auch für den Zeitraum des Zusammenlebens - ermittelten Tatsachen, sondern auch der vom Kläger selbst eingeräumten extremen islamischen Glaubensausrichtung (Schriftsatz vom 18. April 2017). Dass die Familie der Lebensgefährtin sich ausweislich dieser Versicherung als "übermodern" bezeichnet, was nicht zu einem radikalen "IS"-Kämpfer passe, wird in der Aussagekraft dadurch zumindest relativiert, dass die Lebensgefährtin des Klägers angibt, seit ca. zwei Jahren eine Kopfbedeckung zu tragen.

50

Dass sich an der vom Kläger ausgehenden Gefahr der Begehung einer terroristischen Gewalttat aus sonstigen Umständen bis zu seiner Abschiebung nach Algerien im Januar 2018 etwas geändert hat, ist nicht erkennbar. Die mehrmonatige Inhaftierung in Deutschland und der hierdurch unterbrochene Kontakt zu Angehörigen der radikal-islamistischen Szene reichen hierfür nicht. Vielmehr spricht alles dafür, dass vom Kläger im Zeitpunkt der Abschiebung angesichts seiner extremen Radikalisierung in Verbindung mit seiner gewaltbereiten Grundhaltung weiterhin ein beachtliches Risiko ausging, dass er bei einem Verbleib in Deutschland mit einer jihadistischen Gewalttat ein Fanal setzt, mit dem seine Verachtung der säkularen Welt europäischer Prägung zum Ausdruck kommt. Dieses Risiko kann sich ohne großen Vorbereitungsaufwand jederzeit realisieren. Dass es bislang noch nicht zu einer derartigen Tat gekommen ist und den Sicherheitsbehörden keine Hinweise für einen konkreten Anschlagsplan des Klägers vorliegen, mindert das Risiko nicht.

51

Der Senat hat bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren darauf hingewiesen, dass er zu dieser bewertenden Gesamtschau gelangen kann, ohne auf das vom Kläger angesprochene, vom Bundeskriminalamt entwickelte Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE (regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus - dazu Pressemitteilung des Bundeskriminalamts vom 2. Februar 2017) oder vergleichbare Instrumente zur Risiko- bzw. Gefährlichkeitseinschätzung (s. dazu Rettenberger, Die Einschätzung der Gefährlichkeit bei extremistischer Gewalt und Terrorismus, Kriminalistik 2016, 532) zurückgreifen zu müssen. Derartige Instrumente können bei Beachtung ihrer methodischen Anwendungsvoraussetzungen und unter Berücksichtigung der Grenzen ihrer Aussagekraft für eine erste Risikoeinschätzung nützlich und hilfreich sein und etwa die sicherheitsbehördliche Entscheidung über das Ob und den Umfang zu treffender Maßnahmen unterstützen; es handelt sich aber nicht um Instrumente, deren Einsatz notwendige Voraussetzung der gebotenen gerichtlichen Gesamtschau ist. Dies bestätigen die Angaben der Vertreter der Beklagten und des LKA Bremen in der mündlichen Verhandlung zur Funktion und Handhabung von RADAR-iTE. Danach handelt es sich hierbei lediglich um ein Instrument zur strukturierten Erhebung der für eine Gefährdungsprognose relevanten Tatsachen, das der Priorisierung der polizeilichen Arbeit dient, eine eigenständige Gefahrenbewertung durch die Polizeibehörden aber nicht ersetzt. Des Weiteren haben sie ausgeführt, dass dieses Instrument für die angegriffene Abschiebungsanordnung nicht relevant gewesen sei. Das LKA Bremen habe im Fall des Klägers erst nach Erlass der Abschiebungsanordnung eine Risikobewertung auf der Grundlage von RADAR-iTE durchgeführt. Diese habe ausschließlich der Qualitätssicherung des vom BKA zur Priorisierung der Intensität und der Reihenfolge polizeilicher Maßnahmen neu entwickelten Prognoseinstruments gedient, das anhand einer unabhängig von RADAR-iTE positiv bewerteten Gefahrenprognose habe validiert werden sollen. Dabei seien keine Tatsachen verwendet worden, die sich nicht bei den Gerichtsakten befänden. Im Ergebnis habe RADAR-iTE beim Kläger zu einem hohen Punktwert (16 Punkte) geführt, was einem hohen Risiko (höchste Kategorie) entspreche. Dieses Ergebnis sei der obersten Landesbehörde erst nach der Abschiebung des Klägers anlässlich der Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung bekannt geworden. Bei dieser Sachlage bestand kein Anlass, dem vom Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Beiziehung der einschlägigen Akten des LKA Bremen nachzugehen. Es ist weder ersichtlich noch geltend gemacht worden, inwiefern die Beiziehung dieser Akten geeignet sein könnte, zu einer für den Kläger günstigeren Gefährdungsprognose zu führen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42).

52

c) Die Abschiebungsanordnung steht - bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG - auch materiell im Einklang mit dem Unionsrecht. Eine Frist zur freiwilligen Ausreise musste dem Kläger schon wegen der von ihm ausgehenden Gefahr einer terroristischen Gewalttat nicht eingeräumt werden (Art. 7 Abs. 4 Richtlinie 2008/115/EG). Dem steht nicht die Rechtsprechung des EuGH entgegen, wonach nicht automatisch auf normativem Weg oder durch die Praxis davon abgesehen werden darf, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt (EuGH, Urteil vom 11. Juni 2015 - C-554/13 [ECLI:EU:C:2015:377] - Rn. 70). Denn in den Fällen des § 58a AufenthG liegt bereits in der einzelfallbezogenen Prüfung und Feststellung des Tatbestands die vom EuGH (ebenda Rn. 50 und 57) verlangte einzelfallbezogene Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, die so gravierend ist, dass von der Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise ganz abgesehen werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 35).

53

d) Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheids ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet hat. In diesem Zusammenhang bedarf keiner Entscheidung, ob und inwieweit die Regelung in § 11 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG, wonach bei jeder Abschiebung kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot eintritt, das von der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG nicht befristet werden darf, solange die oberste Landesbehörde nicht im Einzelfall eine Ausnahme zulässt, für die hier gegenständliche Fallkonstellation einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG an der Richtlinie 2008/115/EG zu messen und mit dieser ggf. zu vereinbaren ist. Dies hängt davon ab, ob die Richtlinie 2008/115/EG auch ein Einreiseverbot erfasst, das - wie hier - nicht im Zusammenhang mit einer Rückführung wegen Verletzung geltender Migrationsbestimmungen steht, sondern der Sache nach an eine Abschiebungsanordnung zum Schutze der öffentlichen Sicherheit wegen der von einem Drittstaatsangehörigen ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags anknüpft. Hierbei könnte es sich auch um ein neben der Rückführungsrichtlinie zulässiges nationales Einreiseverbot zu nicht migrationsbedingten Zwecken handeln (vgl. hierzu die Ausführungen des Senats im Verweisungsbeschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 6 m.w.N. und der neuerliche Hinweis in der Empfehlung 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames "Rückkehr-Handbuch" , das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist). Diese Frage ist vorliegend aber nicht entscheidungserheblich. Gleiches gilt für die - bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG - vom Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage, ob eine Abschiebung rechtswidrig ist, wenn zuvor nicht eine Befristung eines mit der Rückkehrentscheidung einher gehenden Einreiseverbots nach Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG erfolgt ist. Im vorliegenden Verfahren geht es weder um die Rechtmäßigkeit der hier von der Beklagten zusammen mit der Abschiebungsanordnung getroffenen Entscheidung zur Anordnung eines unbefristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots noch um die Rechtmäßigkeit der Abschiebung des Klägers. Streitgegenständlich ist - nach Abtrennung und Verweisung - nur (noch) die Abschiebungsanordnung, die nach nationalem Recht nicht mit einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden ist. Auch eine fehlerhafte behördliche Entscheidung zur Dauer des hier von der Beklagten zusammen mit der Abschiebungsanordnung angeordneten (unbefristeten) Einreise- und Aufenthaltsverbots würde nicht zur Unionsrechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen. Denn das Einreiseverbot soll zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet werden (vgl. Art. 11 Abs. 1a Richtlinie 2008/115/EG: "gehen ... einher"), stellt aber gleichwohl eine eigenständige Entscheidung dar, für die vorliegend eine andere Behörde zuständig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 3 f.) und die gesondert anfechtbar ist (vgl. Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17- InfAuslR 2018, 11 Rn. 36). Ausgehend davon lassen sich der Richtlinie Anhaltspunkte für einen "Rechtswidrigkeitszusammenhang" zwischen dem Einreiseverbot und seiner Befristung einerseits und der Rückkehrentscheidung andererseits nicht entnehmen. Damit bedarf es auch insoweit nicht des vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angeregten Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH (Schriftsatz vom 27. März 2018, Frage II.).

54

e) Der Erlass einer Abschiebungsanordnung durch die oberste Landesbehörde war im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung weder ermessensfehlerhaft noch unverhältnismäßig. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73 und 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 <402 f.> und Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 und 1 BvR 1140/09 - BVerfGE 141, 220 Rn. 96 und 132). Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 58a AufenthG vor, hat die oberste Landesbehörde zu prüfen, ob sie eine Abschiebungsanordnung erlässt oder ggf. anderweitige Maßnahmen durch die Ausländerbehörde - etwa der Erlass einer sofort vollziehbaren Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung - oder Maßnahmen auf der Grundlage des allgemeinen Polizeirechts ausreichen (Entschließungsermessen); ein Auswahlermessen kommt hingegen nur bei mehreren möglichen Zielstaaten in Betracht, was hier nicht der Fall ist (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 39).

55

Vorliegend hat die oberste Landesbehörde ihr Entschließungsermessen fehlerfrei dahingehend ausgeübt, dass andere im Aufenthaltsgesetz vorgesehene Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung oder sonstige gefahrenabwehrrechtliche Möglichkeiten nicht ausreichen, um der besonderen vom Kläger ausgehenden Gefahr wirksam zu begegnen. Dies ist unter den hier gegebenen Umständen und angesichts der an anderer Stelle festgestellten Bereitschaft des Klägers zur Begehung eines mit einfachsten Mitteln jederzeit realisierbaren Terroranschlags in Deutschland und der allenfalls begrenzten Wirksamkeit auch aufwändigerer Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen nicht zu beanstanden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 40).

56

Die Abschiebungsanordnung ist angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags auch nicht unverhältnismäßig. Die oberste Landesbehörde hat bei ihrer Entscheidung die privaten Interessen des Klägers berücksichtigt. Sie hat insbesondere gewürdigt, dass er sich - mit Unterbrechungen - seit 2003 im Bundesgebiet aufhielt und hier mit einer ihm nach islamischem Ritus angetrauten deutschen Staatsangehörigen und der gemeinsamen - Ende Februar 2017 geborenen - Tochter zusammenlebte. Dass sich die Beklagte dennoch für eine Aufenthaltsbeendigung entschieden hat, ist - wie der Senat bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausgeführt hat - angesichts der vom Kläger ausgehenden besonderen Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Aus den sich hieraus ergebenden verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben folgt kein uneingeschränkter Anspruch eines Ausländers auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Stehen seinem (weiteren) Aufenthalt - wie hier - öffentliche Belange entgegen, bedarf es einer Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, bei der die besonderen Umstände des Einzelfalls und die familiären Belange in angemessener Weise und mit dem ihnen zukommenden Gewicht zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. September 2013 - 10 B 14.13 - Buchholz 402.242 § 30 AufenthG Nr. 7 Rn. 4 f. m.w.N. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte).

57

Dem Kläger war im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung eine (Re-) Integration in die Lebensverhältnisse seines Heimatstaats möglich und zumutbar. Er ist - entgegen eigener Einschätzung - kein faktischer Inländer. Er ist in Algerien aufgewachsen und hat dort den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht. Er spricht die Sprache seines Heimatlandes und hat seine Bindungen dorthin nie abgebrochen, was sich schon daraus ergibt, dass er sich in den letzten Jahren - ausweislich der in zwei Strafverfahren wegen Kindesentführung erlangten und vom Kläger in diesem Punkt nicht bestrittenen Erkenntnisse - zweimal für einen längeren Zeitraum (Dezember 2009 bis November 2010 und September 2012 bis Dezember 2013) mit seinem Sohn in Algerien aufgehalten hat. In Deutschland verfügte er zuletzt über kein rechtlich gesichertes Aufenthaltsrecht. In Bezug auf seinen Sohn fehlt es an einer gelebten familiären Gemeinschaft. Die familiären Bindungen des Klägers an seine im Februar 2017 - kurz vor seiner Inhaftierung - geborene Tochter hat die Beklagte mit dem ihnen zukommenden Gewicht in ihre Erwägungen eingestellt. Dabei hat sie insbesondere die deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes und die möglichen Folgen einer Trennung der Familie für das Kindeswohl berücksichtigt. Dass sie den familiären Belangen dennoch nicht den Vorzug gegeben hat, führt angesichts der vom Kläger ausgehenden besonderen Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags auch mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung, zumal die Abschiebungsanordnung nicht zwingend zu einem lebenslangen Wiedereinreiseverbot führt. Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob das von der Beklagten zusammen mit der Abschiebungsanordnung angeordnete unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot - formell und materiell - rechtmäßig ist (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 m.w.N.) und ob der Kläger möglicherweise unabhängig davon nach seiner zwischenzeitlichen Abschiebung einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot unterliegt. Denn bei einer nachhaltigen Verhaltensänderung des Klägers besteht nach § 11 Abs. 4 und 5 AufenthG jedenfalls die Möglichkeit einer nachträglichen Aufhebung oder Verkürzung eines - aufgrund behördlicher Anordnung oder kraft Gesetzes - mit der Abschiebung entstandenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.

58

f) Ob das Amtsgericht Bremen der Abschiebung des Klägers zugestimmt hat, ist entgegen der Auffassung des Klägers für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung unerheblich. § 72 Abs. 4 AufenthG enthält nur ein gesetzliches Beteiligungserfordernis der Staatsanwaltschaft. Dieses dient zudem allein der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses und begründet kein subjektives Recht des Ausländers (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 11.15 - Buchholz 402.242 § 66 AufenthG Nr. 4 Rn. 24).

59

g) Die Abschiebungsanordnung ist schließlich auch nicht wegen eines Abschiebungsverbots (teil-)rechtswidrig, da im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung des Klägers nach Algerien im Januar 2018 kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG bestand. Nach der gesetzlichen Konstruktion des § 58a AufenthG führt das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat, nach (rechtzeitiger) Ankündigung aber in einen anderen (aufnahmebereiten oder -verpflichteten) Staat abgeschoben werden darf. Die zuständige Behörde hat beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der Abschiebung in den beabsichtigten Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder in Anknüpfung an den subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Wird im gerichtlichen Verfahren ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt, bleibt die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung im Übrigen hiervon unberührt (§ 58a Abs. 3 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung).

60

Für eine Verfolgung des Klägers wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG lagen bei Abschiebung keine Anhaltspunkte vor. Ein vom Kläger 2003 gestellter Asylantrag hatte keinen Erfolg und war offensichtlich nur mit dem Ziel gestellt worden, sich einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu verschaffen. Selbst eine Bestrafung wegen terroristischer Betätigung würde keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen. Dem Kläger drohte bei Abschiebung auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG und/oder eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Da er sich in den letzten Jahren mehrfach auch für längere Zeiträume unbehelligt in Algerien aufhielt und bei Abschiebung keine Anhaltspunkte für eine dort begangene Straftat oder ein sonstiges Fehlverhalten mit Bezug zu Algerien vorlagen, kommt als Anknüpfungspunkt für staatliche Maßnahmen vor allem der gegen ihn in Deutschland erhobene Terrorismusverdacht in Betracht, dem die algerischen Sicherheitsbehörden schon deshalb nachgehen dürften, weil zwei seiner Geschwister in Syrien bzw. im Irak für den "IS" Selbstmordattentate begangen haben sollen und sich die Ermittlungen der algerischen Strafverfolgungs- und Polizeibehörden nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (AA) bei mutmaßlichen oder tatsächlichen Anhängern terroristischer Gruppen regelmäßig auch auf das familiäre Umfeld erstrecken (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 17). Hieraus ergab sich für den Kläger indes bei Abschiebung weder die Gefahr der Todesstrafe (aa) noch die Gefahr der Folter oder einer anderen gegen Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung in Algerien (bb).

61

aa) Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2017 und seinem ergänzenden Ad-hoc-Bericht vom 25. Juli 2017 stellt das algerische Strafgesetzbuch zwar u.a. die Komplizenschaft mit den Anführern einer aufständischen Bewegung unter Todesstrafe (Lagebericht und Ad-hoc-Bericht des AA, jeweils S. 16). Diese wird allerdings seit 1993 nicht mehr vollstreckt (Lagebericht und Ad-hoc-Bericht des AA, jeweils S. 22). Dessen ungeachtet drohte dem Kläger bei Abschiebung nach algerischem Recht auch nicht die Verhängung der Todesstrafe. Die von ihm ausgehende Gefahr, auf der die Abschiebungsanordnung beruht, bezieht sich auf Deutschland und erreicht nach deutschem Recht schon nicht die Schwelle der Strafbarkeit. Hinsichtlich des algerischen Strafrechts ist nicht ansatzweise erkennbar, dass der Kläger bei Abschiebung einer algerischen aufständischen Bewegung angehörte oder konkret der Komplizenschaft verdächtigt wurde. Rechtsgrundlage für die Verfolgung fundamentalistisch motivierter Straftaten ist im Übrigen seit 1992 die Anti-Terrorismus-Verordnung vom 30. Oktober 1992 ("Décret législatif relatif à la lutte contre la subversion et le terrorisme"). Danach wird die Gründung einer terroristischen oder subversiven Vereinigung mit lebenslanger Freiheitsstrafe und die Mitgliedschaft mit zehn bis zwanzig Jahren Freiheitsentzug bestraft (Lagebericht des AA S. 16 und Ad-hoc-Bericht des AA S. 16 f.). Nach der dem Senat in einem anderen Verfahren erteilten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1. März 2017 wird nach Art. 87 bis 6. (Nouveau) des algerischen Strafgesetzbuches auch die Zugehörigkeit eines algerischen Staatsangehörigen zu einer terroristischen Vereinigung im Ausland mit zehn bis zwanzig Jahren Freiheitsstrafe bestraft, selbst wenn die Aktivitäten der Vereinigung nicht auf Algerien abzielen. Salafismus ist nach dieser Auskunft aber kein Straftatbestand, es sei denn, die Mitgliedschaft ist mit terroristischen oder kriminellen Aktivitäten verbunden. Eine Ergänzung des Strafgesetzbuches von 2016 definiert das Strafmaß für die Rekrutierung für eine terroristische Vereinigung mit fünf bis zehn Jahren Haft oder Geldstrafe (Auskunft des AA vom 1. März 2017). Für eine drohende Verurteilung des Klägers nach einem dieser Tatbestände fehlten bei Abschiebung jegliche Anhaltspunkte, zumal das algerische Außenministerium anlässlich seiner Zustimmung zur Rückführung des Klägers mit Verbalnote vom 30. Juli 2017 ausdrücklich bestätigte, dass der Kläger in Algerien auf justizieller Ebene unbekannt und gegen ihn kein Strafverfahren anhängig sei.

62

bb) Dem Kläger drohte bei Abschiebung auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Folter oder einer anderen gegen Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung in Algerien. Ob einem radikal-islamistischen Gefährder im Abschiebezielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht, hängt sowohl von der Menschenrechtslage in diesem Staat als auch von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, die das Risikopotential erhöhen oder verringern können.

63

Nach der vom Senat in einem anderen Verfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1. März 2017 ist bei einer Abschiebung nach Algerien nach der Ankunft generell mit einer Befragung durch die algerische Polizei zu rechnen. Da die Abschiebung hier wegen der Gefahr der Begehung einer terroristischen Tat in Deutschland erfolgte, der Kläger sich in den vergangenen Jahren mehrfach, auch für längere Zeit in Algerien aufhielt und zwei seiner Geschwister für den "IS" Selbstmordattentate begangen haben sollen, war im Zeitpunkt der Abschiebung nicht auszuschließen, dass er in diesem Zusammenhang zur Abklärung der von ihm ausgehenden Terrorismusgefahr - anders als der Kläger im Verfahren 1 A 2.17 - für einen längeren Zeitraum festgehalten würde. Auch für den Fall einer präventiven Inhaftierung wegen Terrorismusverdachts bestand zur Überzeugung des Senats unter den hier gegebenen Umständen für den Kläger bei Abschiebung aber keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung. Der Senat schließt dies aus dem in Algerien in den letzten Jahren eingeleiteten und - gegenüber den Erkenntnissen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - inzwischen weiter verfestigten Reformprozess in Verbindung mit einem Schreiben des Generaldirektors der beim algerischen Innenministerium angesiedelten "Direction Générale de la Sûreté Nationale" (DGSN), das im Zuge der vor der Abschiebung des Klägers zwischen Deutschland und Algerien stattgefundenen Verhandlungen übermittelt worden ist.

64

Der Beachtlichkeit dieses Schreibens bei der individuellen Risikoprognose für den Kläger steht nicht entgegen, dass es sich hierbei nicht um eine zwischen Ministerien und Botschaften ausgetauschte "Verbalnote", sondern "nur" um eine Erklärung eines algerischen Behördenleiters gegenüber einem deutschen Behördenleiter handelt, der Text der Erklärung des Leiters der algerischen Polizei vom Entwurf eines Schreibens des deutschen Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums abweicht und nicht ausdrücklich auf die vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - geforderten spezifischen Garantien in bestimmten Situationen eingeht. Welche Schlussfolgerungen bei der Risikobewertung aus einer derartigen Erklärung zu ziehen sind und ob und in welchem Umfang eine dem Abschiebezielstaat zuzurechnende Erklärung die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie Art. 3 EMRK verringert und mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu vereinbaren ist, lässt sich nicht abstrakt beantworten, sondern ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Dabei sind insbesondere die Verhältnisse im Abschiebezielstaat, der konkrete Inhalt der Erklärung und die Umstände ihrer Abgabe zu berücksichtigen. In Anwendung dieser Grundsätze ist das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 24. Juli 2017 auf der Grundlage der seinerzeitigen Erkenntnisse zur Menschenrechtslage in Algerien davon ausgegangen, dass es im Fall des Klägers nicht ausreichend wäre, wenn die vom Senat im Beschluss vom 31. Mai 2017 geforderte Zusicherung einer algerischen Regierungsstelle nur einen gänzlich allgemeinen Inhalt hätte. Vielmehr sei es von Verfassungs wegen erforderlich, sie mit spezifischen Garantien zu verbinden, die eine Überprüfung der (eventuellen) Haftbedingungen des Klägers im Falle seiner Inhaftierung und insbesondere den ungehinderten Zugang zu seinen Prozessbevollmächtigten erlaube; dies müsse sich auf eine Inhaftierung sowohl durch die Polizei als auch durch den Geheimdienst beziehen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 50). Diesen Anforderungen entspricht die Erklärung des Leiters der algerischen Generaldirektion für Nationale Sicherheit u.a. insoweit nicht, als sie im Falle einer Inhaftierung des Klägers keine ausdrückliche anwaltliche Überprüfungsmöglichkeit der Haftbedingungen beinhaltet. Das hat aber nicht zur Folge, dass das Schreiben bei der Risikoprognose nicht mitberücksichtigt werden darf. Dem steht die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG) nicht entgegen, weil sie nur für Sachentscheidungen gilt. Daran fehlt es hier, da das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Klägers nicht zur Entscheidung angenommen hat und sich die Ausführungen zu den verfassungsrechtlich gebotenen Garantien nur in der Begründung dieser Entscheidung finden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 1995 - 1 BvL 18/93 u.a. - BVerfGE 92, 91 <107>). Im Übrigen ist den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 24. Juli 2017 nicht zu entnehmen, dass mögliche Bedenken bei der gebotenen Gesamtschau nur durch die von ihm beschriebenen spezifischen Garantien ausgeräumt werden können. Dies gilt umso mehr als es im vorliegenden Hauptsacheverfahren einer aktualisierten Risikoprognose auf der Grundlage der bei Abschiebung vorliegenden Erkenntnisse bedarf.

65

Aufgrund der Erklärung des Leiters der algerischen Polizei in Verbindung mit dem in Algerien inzwischen fortgeführten Reformprozess zur Achtung der in internationalen Abkommen eingegangenen Verpflichtungen und im nationalen Recht garantierten Rechte und Grundfreiheiten und dem der Erklärung vorausgegangenen intensiven Austausch auf diplomatischer und politischer Ebene drohte dem Kläger zur Überzeugung des Senats im Zeitpunkt der Abschiebung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung im Falle einer Inhaftierung. Algerien ist zahlreichen internationalen Menschenrechtskonventionen beigetreten, u.a. dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Auch die algerische Verfassung verbietet Folter und unmenschliche Behandlung. Im algerischen Strafgesetz ist Folter seit 2004 ein Verbrechen (vgl. Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 20 f.). Die in Algerien eingeleitete Neustrukturierung der Sicherheitsdienste schreitet voran. Der algerische Sicherheitsdienst "DRS" ("Département du Renseignement et de la Sécurité"), dem in der Vergangenheit Folter gegenüber Terrorismusverdächtigen vorgeworfen wurde, ist Anfang 2016 aufgelöst worden; an seine Stelle ist die "DSS" ("Direction des services de sécurité") getreten, die unmittelbar dem Präsidenten berichtet (Amnesty International Report 2016/17 Algeria S. 63, Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 7, US Department of State - Algeria - Human Rights Report 2016 S. 4). Zwar verfügen die Sicherheitskräfte aufgrund der weiterhin gültigen Anti-Terrorismus-Verordnung von 1992 über umfangreiche Befugnisse. So haben sie danach die Möglichkeit, verdächtige Personen bis zu 12 Tagen festzuhalten (nach den allgemeinen Gesetzen ist diese Frist auf 48 Stunden begrenzt), ohne sie einem Richter oder Staatsanwalt vorführen zu müssen (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 17). Insgesamt betont die Regierung jedoch verstärkt die Beachtung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte (im Sinne der "nationalen Versöhnung" von Präsident Bouteflika), so wurde im Juli 2017 eine Menschenrechtsstelle bei der algerischen Polizei DGSN eingerichtet. Auch versichern algerische Behörden bei Abschiebungs- und Auslieferungsfragen stets mündlich, dass internationale rechtliche Standards eingehalten würden und ist hierzu bisher nichts Gegenteiliges bekannt geworden (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 20 f.). Für die Bewertung der Menschenrechtslage besonders aufschlussreich waren in der Vergangenheit die Bewertungen der "Staatlichen Konsultativkommission zu Menschenrechtsfragen", die in ihren Berichten heikle Menschenrechtsfragen aber häufig "umschiffte"; sie wurde inzwischen als ein Ergebnis der Verfassungsreform durch den "Nationalen Menschenrechtsrat" ersetzt, der seine Unabhängigkeit und Kompetenz allerdings noch unter Beweis stellen muss (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 9). Andererseits erlaubt die algerische Regierung den UN-Sonderberichterstattern zu Themen wie Folter und andere Misshandlungen, Antiterrormaßnahmen und Verschwindenlassen sowie internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Amnesty International weiterhin nicht die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen vor Ort (vgl. Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 9, Amnesty International Report 2016/2017 Algeria S. 63) und behaupten nichtstaatliche Organisationen und lokale Menschenrechtsaktivisten, dass es in Algerien zur Erlangung von Geständnissen "manchmal" weiterhin zu Übergriffen bis hin zur Folter komme und Straffreiheit ein Problem sei (US Department of State - Algeria - Human Rights Report 2016 S. 3). Dies zeigt, dass der Erfolg der Bemühungen in Algerien um eine Verbesserung der Menschenrechtslage schwer einschätzbar ist, weshalb einige Gerichte in der Europäischen Union in der Vergangenheit zu dem Ergebnis gekommen sind, dass Terrorismusverdächtige in Algerien (weiterhin) mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen müssen (vgl. die Zusammenstellung in der "Final Answer" des European Asylum Support Office vom 16. August 2017 zur Rückkehrgefährdung von Algeriern bei Terrorismusverdacht). Nach den Erkenntnissen des US Department of State sind in jüngster Vergangenheit aber offenbar nur zwei konkrete Vorfälle bekannt geworden, denen von Seiten des Staates nachgegangen wurde bzw. wird: Im Mai 2016 wurden zwei Polizeibeamte nach ihrer Verhaftung im Mai 2015 wegen Vergewaltigung einer Frau in der Haft zu sieben bzw. 15 Jahren Gefängnis verurteilt; in einem weiteren Verfahren wegen des Übergriffs von Polizeibeamten auf eine Frau in einer örtlichen Polizeiwache hat die Familie des Opfers beim örtlichen Gericht Beschwerde eingereicht (US Department of State - Algeria - Human Rights Report 2016 S. 3). Konkrete Schilderungen von weiteren Übergriffen im staatlichen Gewahrsam aus neuerer Zeit sind den vom Senat beigezogenen Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes gab es bis 2015 - vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus - ernstzunehmende Hinweise darauf, dass es im Gewahrsam von Polizei und Militärgeheimdienst nach wie vor zu Übergriffen bis hin zu Folter und beim Militärgeheimdienst auch zu - mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen möglicherweise gefahrträchtigeren - Fällen von geheimer Haft ohne Kontakt zur Außenwelt in nichtregulären Gefängnissen gekommen ist (Lagebericht des AA vom 13. Februar 2017 S. 20). Seitdem sind aber keine neuen Fälle (mehr) bekannt geworden (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 7 und 21), obwohl nationale Menschenrechtsgruppen - etwa die "Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l'Homme (LADDH)", die "Ligue Algérienne des Droits de l'Homme (LADH)" und das lokale Amnesty International-Büro - in Algerien operieren und ihre Ergebnisse publizieren können (Länderinformationsblatt Algerien des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl , Stand 17. Mai 2017 S. 12 f.), auch wenn sie sich immer noch nicht offiziell registrieren lassen konnten (Human Rights Watch, World Report 2018 Algeria S. 24). Auch Amnesty International berichtet inzwischen nicht mehr von menschenrechtswidrigen Praktiken in der Haft und - nach Auflösung des DRS - auch nicht mehr von der Inhaftierung terrorismusverdächtiger Personen in nicht dem Justizministerium unterstehenden - inoffiziellen - Haftanstalten (Amnesty International Report 2016/2017 Algeria und Amnesty International Report 2016 Algerien; anders noch Amnesty International Report 2015 Algerien). Die Regierung erlaubt dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und lokalen Menschenrechtsbeobachtern den Besuch regulärer Gefängnisse und Haftanstalten; insbesondere das IKRK hat inzwischen zahlreiche Gefängnisse und Haftanstalten besucht und dabei insbesondere vulnerable Gefangene in den Blick genommen (US Department of State - Algeria - Human Rights Report 2016 S. 4 f., Länderinformationsblatt Algerien des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl , Stand 17. Mai 2017 S. 18). Der IKRK-Delegierte hält engen Kontakt mit algerischen Ministerien und Behörden und beurteilt die Zusammenarbeit mit der Regierung als grundsätzlich positiv (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 22).

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Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Bemühungen um eine Verbesserung der Menschenrechtslage in Algerien die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung - auch bei Terrorismusbezug - inzwischen erheblich verringert haben. Dem steht nicht entgegen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch in einer Entscheidung vom 1. Februar 2018 (Nr. 9373/15, M.A./Frankreich) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Abschiebung eines in Frankreich wegen terroristischer Aktivitäten verurteilten algerischen Staatsangehörigen gegen Art. 3 EMRK verstieß. Denn diese Entscheidung bezieht sich auf eine im Februar 2015 vollzogene Abschiebung (Rn. 22) und die seinerzeitige Lage in Algerien vor Auflösung des "DRS" (Rn. 30 ff. und 54). Zudem berücksichtigt sie das besondere Profil des Beschwerdeführers, der nach eigenen Angaben schon in Algerien auf Seiten der Islamisten gegen den Staat gekämpft haben will und deshalb in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden sei (Rn. 5 und 17) und der in Frankreich wegen schwerer Straftaten - Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zwecks Vorbereitung terroristischer Handlungen zwischen 1999 und 2004 in Frankreich, Algerien, Marokko, Spanien, der Türkei, Georgien und Syrien - zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war, von der die algerischen Behörden Kenntnis hatten (Rn. 9, 55 und 58). Ungeachtet der Frage der Vergleichbarkeit mit dem persönlichen Profil des Klägers haben sich jedenfalls die Verhältnisse in Algerien seit Anfang 2015 bis zur Abschiebung des Klägers Anfang 2018 infolge der - vorstehend dargelegten - normativen Verstärkung des Menschenrechtsschutzes und der durchgeführten Reformen erheblich verbessert und stabilisiert.

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Zudem wurde im Fall des Klägers vor seiner Abschiebung unter Einbeziehung nicht nur des algerischen Außen-, sondern auch des Justiz- und des Innenministeriums - auf diplomatischer und politischer Ebene - intensiv erörtert, ob sichergestellt ist bzw. wie sichergestellt werden kann, dass dem Kläger in Algerien keine menschenrechtswidrige Behandlung droht. In diesem Zusammenhang hat Algerien nicht nur auf die allgemeine Rechtslage und die Kontrollfunktion seiner Gerichte verwiesen (vgl. Verbalnote vom 30. Juli 2017), sondern wurde auch ein Schreiben des Leiters der beim algerischen Innenministerium angesiedelten DGSN überreicht, in dem dieser nochmals bestätigte, dass der Kläger nach dem Strafregister keine restriktiven Maßnahmen zu erwarten habe, und jener in seiner Funktion als Leiter der algerischen Polizei gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zusagte, im Fall des Klägers "persönlich" für eine Wahrung seiner Rechte und Grundfreiheiten - insbesondere jener gemäß Art. 132 der algerischen Verfassung sowie im Rahmen des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte - Sorge zu tragen. Diese dem algerischen Staat zuzurechnende verbindliche Zusage erstreckte sich unter Berücksichtigung der vorangegangenen zwischenstaatlichen Verhandlungen, dem erkennbaren Interesse Algeriens an einer nachhaltigen Intensivierung der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Deutschland, den bislang positiven Erfahrungen im Auslieferungs- und Abschiebungsverkehr mit Algerien und angesichts des hohen Rangs des Erklärungsgebers nicht nur auf die (übliche) Befragung nach einer Abschiebung durch die algerische Polizei, sondern auch auf eine (nach dem Vorstehenden nicht auszuschließende) Festnahme des Klägers durch die Polizei oder den Geheimdienst. Soweit der Kläger in seinem letzten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darauf hingewiesen hat, dass Generalmajor H. auch schon zu Zeiten im Amt gewesen sei, in denen über Folter und andere unmenschliche Behandlung durch Polizei und Geheimdienste berichtet worden sei, nahm dies der Zusage im Zeitpunkt der Abschiebung nicht ihre Belastbarkeit, zumal die Neustrukturierung in Algerien unter dessen Verantwortung vorangetrieben worden ist.

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Die Berücksichtigung der Zusage steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts. Beide Gerichte anerkennen Zusicherungen unter bestimmten Voraussetzungen als ein geeignetes Instrument zur einzelfallbezogenen Ausräumung der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung im Abschiebezielstaat (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - Nr. 8139/09, Othmann/Vereinigtes Königreich - NVwZ 2013, 487 Rn. 193 - 204; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 47 f.). Soweit der EGMR in seinem Urteil vom 15. Mai 2012 (Nr. 33809/08, Labsi/Slowakei - Rn. 121 ff.) die dem damaligen Beschwerdeführer drohende Gefahr in Algerien in den Jahren 2008 bis 2012 dahin beurteilte, dass Art. 3 EMRK der vollzogenen Abschiebung entgegenstand und die Einhaltung der erteilten Zusicherungen aufgrund eines fehlenden Monitoring-Systems nicht überprüft werden konnte, haben sich die Verhältnisse in Algerien hinsichtlich der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung seitdem - wie vorstehend dargelegt - ersichtlich geändert. Auch wenn nach Einschätzung der U.K. Special Immigration Appeals Commission in ihrem Urteil vom 18. April 2016 (SC/39/2005 u.a. - Rn. 121) allein die Auflösung des Geheimdienstes "DRS" am Fortbestand der Foltergefahr noch nichts geändert hat, ist die Neustrukturierung der Sicherheitsdienste inzwischen weiter vorangeschritten und sind in der Zeit nach Auflösung des "DRS" keine Übergriffe gegen Personen in Gewahrsam oder Fälle irregulärer Haft (mehr) bekannt geworden (Ad-hoc-Bericht des AA vom 25. Juli 2017 S. 7 und 21). Zudem findet seit einiger Zeit vor allem über das IKRK in regulären Gefängnissen und Haftanstalten ein "Independent Monitoring" statt (US Department of State - Algeria - Human Rights Report 2016 S. 4 f.). Im Übrigen lag hier - anders als in dem vom EGMR im Februar 2018 entschiedenen Fall - eine verbindliche Zusage des Leiters der algerischen Polizei vor. Vor diesem Hintergrund bestand im Fall des Klägers bei Abschiebung kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. Er musste in Algerien zwar mit einer Befragung durch die Polizei und möglicherweise auch mit einer Inhaftierung wegen Terrorismusverdachts rechnen. Dabei drohte ihm unter den hier gegebenen Umständen aber schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.

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Nach der Abschiebung eingetretene oder bekannt gewordene Umstände stehen dieser Einschätzung nicht entgegen. Dabei kann dahinstehen, ob der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers zutrifft, dass dieser nach seiner Rückführung und einer allgemeinen Befragung durch die Polizei zwar zunächst freigelassen, wenige Tage später aber zu Hause (wohl) vom Militärgeheimdienst festgenommen, zunächst (zwischen dem 18. und dem 26. Januar 2018) an einem "unbekannten" Ort festgehalten wurde und ein Rechtsanwalt erst nach 24 Tagen Zugang zum Kläger erhalten habe. Nach übereinstimmendem Vortrag der Beteiligten befindet sich der Kläger jedenfalls inzwischen in einem regulären Gefängnis und hat Kontakt mit einem algerischen Anwalt. Ungeachtet des Umstands, dass die vom Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren geforderte Zusicherung nicht den Verzicht auf eine Inhaftierung, sondern nur das Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung aufgrund der seinerzeit vorliegenden Erkenntnisse betraf, lagen mit dem behaupteten vorübergehenden Festhalten an einem unbekannten Ort und dem behaupteten verzögerten Zugang eines Rechtsanwalts mit Blick auf Art. 3 EMRK zwar in der ersten Phase der Haft gefahrerhöhende Umstände vor. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat aber - auch auf Nachfrage - nicht geltend gemacht, dass der Kläger in dieser Zeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK erlitten hat. Zudem beruht die zwischenzeitliche Inhaftierung möglicherweise auf neuen, vom Kläger erst nach seiner Abschiebung geschaffenen Umständen. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht bestätigte nach einem Gespräch des Bundespolizeipräsidenten mit Generalmajor H. lediglich, dass sich der Kläger aufgrund "neuer Erkenntnisse" in Algerien wegen des Vorwurfs terroristischer Betätigung in Haft befinde. Nach Auskunft des Generalmajors stehen ihm die zugesicherten rechtsstaatlichen Garantien aber weiterhin zu. In diesem Zusammenhang wurden von Generalmajor H. explizit das Recht des Klägers auf Zugang zu einem mandatierten algerischen Anwalt, auf Besuche durch die Familie und die Einhaltung der in der EMRK verbrieften Menschenrechte genannt. Auch hierzu hatte der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung keine gegenteiligen Erkenntnisse, obwohl er über die Familie des Klägers mit diesem (mittelbar) im Kontakt steht. Soweit er bemängelt, dass ihm als (in Algerien nicht zugelassenem) ausländischem Anwalt kein Zugang zum Kläger ermöglicht werde, stellt dies für den Kläger weder eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung dar noch erhöht es - angesichts des inzwischen eröffneten Zugangs zu einem algerischen Anwalt - das Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung in der Haft. Da es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung primär auf den Zeitpunkt der Abschiebung ankommt, bedarf es unter den gegebenen Umständen auch keiner weiteren Klärung, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen der Kläger in Algerien festgehalten wurde und wird. Dies enthebt die Beklagte und die Bundesrepublik aber nicht von der Verpflichtung, beim Leiter der algerischen Polizei auch weiterhin in geeigneter Weise an die Einhaltung der abgegebenen Zusage zu erinnern.

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Das grundsätzliche Abstellen auf den Zeitpunkt der Abschiebung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR. Danach bedarf es angesichts der Bedeutung von Art. 3 EMRK und des irreversiblen Charakters eines Schadens, sollte es zur Verwirklichung des Risikos von Folter bzw. Misshandlung kommen, einer aufmerksamen Kontrolle durch die nationalen Behörden und einer unabhängigen und rigorosen Prüfung des unter Art. 3 EMRK erhobenen Vorbringens durch die nationalen Gerichte (EGMR, Urteil vom 22. September 2009 - Nr. 64780/09, H.R./Frankreich - NLMR 5/2011 S. 285 <287>). Dabei ist bei einer vollzogenen Abschiebung zu prüfen, ob im Zeitpunkt der Abschiebung ein beachtliches Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bestand. Dies ist in erster Linie auf der Grundlage der Tatsachen zu beurteilen, die dem abschiebenden Staat im Zeitpunkt der Abschiebung bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, auch wenn sich der EGMR die Berücksichtigung nachträglich bekannt werdender Informationen zur Bestätigung oder Widerlegung dieser Einschätzung vorbehält (EGMR, Urteil vom 14. März 2017 - Nr. 47287/15 - Rn. 105 m.w.N.). Auf dieser Rechtsprechung beruht auch das Urteil des EGMR vom 1. Februar 2018 (Nr. 9373/15 - Rn. 52). In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof hinsichtlich der Verhältnisse in Algerien ausschließlich Erkenntnisquellen herangezogen, die sich auf den Zeitpunkt der seinerzeitigen Abschiebung (Anfang 2015) bezogen (Rn. 30 ff. und 54), und hat im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bejaht, ohne der Frage nachzugehen, ob der im Zeitpunkt der Entscheidung fast drei Jahre in Algerien inhaftierte Beschwerdeführer dort tatsächlich eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung erlitten hat (vgl. Rn. 48 des Urteils und Rn. 39 des Sondervotums).

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

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