Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (6. Senat) - 6 B 134/18

Gründe

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Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers kann keinen Erfolg haben. Aus der Beschwerdebegründung des Klägers ergibt sich nicht, dass ein Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht kann bei der Entscheidung über die Zulassung der Revision aufgrund des Darlegungserfordernisses nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nur diejenigen Gesichtspunkte berücksichtigen, auf die der Beschwerdeführer seinen Antrag, die Revision zuzulassen, gestützt hat.

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1. Der Kläger wendet sich gegen ein polizeiliches Aufenthaltsverbot. Er will festgestellt wissen, dass ihm die Beklagte rechtswidrig verboten hat, sich während der Fußballspielzeit 2016/17 sechs Stunden vor und nach den Heimspielen der ersten und zweiten Mannschaft des Fußballvereins Hannover 96 in drei näher bezeichneten Bereichen zwischen dem Hauptbahnhof Hannover und dem Bundesligastadion sowie in der Nähe zweier kleinerer Stadien aufzuhalten.

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Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht hat in dem Berufungsurteil im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsverbot nach § 17 Abs. 4 Satz 1 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - Nds. SOG - lägen vor. Die festgestellten Tatsachen rechtfertigten die Annahme, dass der Kläger in den vom Aufenthaltsverbot erfassten Bereichen eine Straftat begehen werde. Diese Gefahrenprognose sei darauf gestützt, dass der Kläger wiederholt in einem von fußballbezogener Gewalt geprägten Umfeld polizeilich in Erscheinung getreten sei. Insbesondere habe er einen Angriff auf vermeintliche Anhänger eines gegnerischen Fußballvereins in Stadionnähe zumindest durch seine Anwesenheit unterstützt. Er sei bei verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen anwesend gewesen. Während eines Heimspiels von Hannover 96 habe er im Stadion ein Banner mit der Aufschrift "ACAB" ("all cops are bastards") hochgehalten. Der Kläger spiele eine Führungsrolle in der gewaltaffinen Fußballszene.

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Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Gefahrenprognose unter anderem folgende Tatsachen als wahr unterstellt, die der Kläger durch unbedingte Beweisanträge unter Beweis gestellt hat: Der Kläger habe sich nicht an den gewalttätigen Auseinandersetzungen am 4. April 2015 vor dem Hauptbahnhof in Frankfurt am Main und am 21. November 2015 am S-Bahnhof Lürrip in Mönchengladbach beteiligt. Bei dem ersten Vorfall habe sich der Kläger unmittelbar vor Beginn der Auseinandersetzungen von den hannoveraner Fußballanhängern räumlich distanziert. Bei dem zweiten Vorfall habe er sich diesen Anhängern nicht angeschlossen, sondern das Gespräch mit den Fanbeauftragten und dem Einsatzleiter der Polizei gesucht, um zu vermitteln. Das Oberverwaltungsgericht hat die Anwesenheit des Klägers im Umfeld gewaltbereiter Fußballanhänger in beiden Fällen als weniger bedeutsame Indizien in die Gefahrenprognose eingestellt. So hat das Gericht auch das Hochhalten des Banners im Fußballstadion bewertet, auch wenn es die Aufschrift aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht als strafbare Beleidigung angesehen hat.

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2. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, das Oberverwaltungsgericht habe den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt, weil die Berücksichtigung des Verhaltens des Klägers in Frankfurt am Main und Mönchengladbach in Widerspruch zu den als wahr unterstellten Beweistatsachen stehe. Auch habe das Gericht dadurch Bundesrecht verletzt, dass es dem Kläger eine grundrechtlich geschützte Meinungsäußerung angelastet und das Aufenthaltsverbot als verhältnismäßig angesehen habe. Viele Heimspiele, insbesondere der zweiten Mannschaft von Hannover 96, hätten kein Gefahrenpotenzial aufgewiesen.

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3. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass dem Berufungsurteil ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO anhaftet. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts ist von dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (Überzeugungsgrundsatz) gedeckt; sie ist nicht in sich widersprüchlich.

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Der Überzeugungsgrundsatz enthält keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner Beweismittel, Erklärungen und Indizien. Die Tatsachengerichte müssen Bedeutung und Gewicht der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffes nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen. Ihnen ist ein Wertungsrahmen eröffnet, den sie nur dann überschreiten, wenn sie gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze und die Gesetze der Logik (Denkgesetze) nicht beachten oder ihre Würdigung des Prozessstoffes an einem gedanklichen Widerspruch leidet. Dementsprechend prüft das Bundesverwaltungsgericht die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts nur daraufhin nach, ob sie sich innerhalb des durch den Überzeugungsgrundsatz vorgegebenen Wertungsrahmens hält. Das Bundesverwaltungsgericht kann die tatrichterliche Würdigung nicht deshalb beanstanden, weil ihm die Gewichtung einzelner Umstände oder deren Gesamtwürdigung nicht überzeugend oder plausibel erscheint (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteile vom 3. Mai 2007 - 2 C 30.05 - NVwZ 2007, 1196 Rn. 16 und vom 16. Mai 2012 - 5 C 2.11 - BVerwGE 143, 119 Rn. 18; Beschluss vom 23. Januar 2018 - 6 B 67.17 [ECLI:DE:BVerwG:2018:230118B6B67.17.0] - NJW 2018, 1896 Rn. 9 f.).

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Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts leidet an einem Widerspruch, wenn das Gericht eine entscheidungserhebliche Tatsache nicht uneingeschränkt als nachgewiesen behandelt. Das Gericht darf seiner Entscheidung keinen Sachverhalt zugrunde legen, der von einer Tatsache abweicht, die es bei der Ablehnung eines Beweisantrags als wahr unterstellt hat (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 - 9 C 47.85 - BVerwGE 77, 150 <155>; Beschlüsse vom 3. Dezember 2012 - 2 B 32.12 - juris Rn. 12 und vom 17. September 2014 - 8 B 15.14 - juris Rn. 5). Daraus folgt, dass sich die Bindungswirkung einer Wahrunterstellung nicht auf andere Tatsachen erstreckt, die zusammen mit einer als wahr unterstellten Tatsache einen einheitlichen Lebenssachverhalt bilden. Auch entfaltet eine Wahrunterstellung keine Bindungswirkung für die Würdigung des betreffenden Lebenssachverhalts. Sie verbietet nicht, aus diesem Sachverhalt unter Beachtung des Überzeugungsgrundsatzes bestimmte Schlüsse zu ziehen, solange die als wahr unterstellten Tatsachen zugrunde gelegt werden. So liegt der Fall hier: Die Angriffe des Klägers richten sich gegen die Würdigung zweier Lebenssachverhalte durch das Oberverwaltungsgericht, soweit sie nicht von dessen Wahrunterstellungen erfasst werden.

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Aus der Beschwerdebegründung des Klägers geht nicht hervor, dass das Oberverwaltungsgericht die Wahrunterstellungen außer Acht gelassen hat. Das Gericht hat die als wahr unterstellten Tatsachen zu dem Verhalten des Klägers bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Frankfurt am Main und Mönchengladbach seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung inhaltlich unverändert zugrunde gelegt. Das festgestellte Verhalten des Klägers entspricht jeweils den von ihm unter Beweis gestellten Tatsachen. Das Oberverwaltungsgericht hat in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Beweisanträgen angenommen, dass sich der Kläger nicht an den gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt hat. In Frankfurt am Main habe er sich in deutlichem Abstand von mindestens 50 Metern von den Geschehnissen aufgehalten (Berufungsurteil S. 26/27). In Mönchengladbach habe er sich in keiner Weise an Gewalttätigkeiten beteiligt, sondern vielmehr das Gespräch mit den Fanbeauftragten und dem Einsatzleiter der Polizei gesucht, um zwischen den Parteien zu vermitteln (Berufungsurteil S. 24). Die Formulierungen des Oberverwaltungsgerichts entsprechen den Beweisthemen der Beweisanträge.

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Aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils geht unmissverständlich hervor, dass das Oberverwaltungsgericht dem Kläger im Rahmen der Gefahrenprognose nicht angelastet hat, an den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Frankfurt am Main und Mönchengladbach teilgenommen zu haben. Vielmehr hat es lediglich in die Gefahrenprognose eingestellt, dass sich der Kläger bei beiden Vorfällen im Umfeld von Anhängern von Hannover 96 bewegt hat, die in die Gewalttätigkeiten verwickelt waren. Diese tatsächlichen Feststellungen decken sich mit dem Vortrag des Klägers in den Beweisanträgen: Der Kläger hat angegeben, sich in Frankfurt am Main bis unmittelbar vor Beginn der Auseinandersetzungen ebenso wie die gewalttätig gewordenen Anhänger auf dem Bahnhofsvorplatz aufgehalten und sich zur Eingangstür des Bahnhofs begeben zu haben, als er gemerkt habe, dass es "gleich losgehen" werde. Sein Vortrag zu dem Vorfall in Mönchengladbach lässt erkennen, dass er zusammen mit Fußballanhängern von Hannover 96 Bahn gefahren ist, die am S-Bahnhof Lürrip ausgestiegen sind, um sich mit Anhängern des gegnerischen Vereins zu prügeln.

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4. Auch der weitere Beschwerdevortrag rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Insoweit hat der Kläger bereits keinen Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO benannt, sondern in der Art einer Revisionsbegründung die Verletzung von Bundesrecht gerügt. Sein Vortrag lässt auch nicht erkennen, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO haben kann. Hierfür muss ein Beschwerdeführer darlegen, dass der Ausgang des konkreten Rechtsstreits davon abhängt, wie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung beantwortet wird (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:270115B6B43.14.0] - NVwZ-RR 2015, 416 Rn. 8 und vom 23. Januar 2018 - 6 B 67.17 - NJW 2018, 1896 Rn. 5). Diesen Darlegungsanforderungen genügt die Beschwerdebegründung schon deshalb nicht, weil sie keine allgemeine Rechtsfrage aufwirft, sondern lediglich die Rechtsanwendung des Oberverwaltungsgerichts im vorliegenden Einzelfall beanstandet:

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Dies gilt zum einen für den Vortrag, das Oberverwaltungsgericht habe durch die Einbeziehung des Hochhaltens des Banners mit der Aufschrift "ACAB" das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Der Kläger verweist lediglich darauf, dass diese Aufschrift keine strafbare Beleidigung darstellt. Dagegen enthält die Beschwerdebegründung keine Ausführungen zu der hier bedeutsamen Frage, ob sich aus diesem Grundrecht ein Verbot ergeben kann, zulässige Meinungsäußerungen als Indiz nachteilig in eine ordnungsrechtliche Gefahrenprognose einzubeziehen. Derartige Ausführungen wären geboten gewesen, weil das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung darauf abzielt, das ungehinderte Äußern und Verbreiten von Meinungen zu gewährleisten. Auch dürfen Meinungen nicht gezielt diskriminiert werden (BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009 - 1 BvR 2150/08 [ECLI:DE:BVerfG:2009:rs20091104.1bvr215008] - BVerfGE 124, 300 <324>). Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob Meinungsäußerungen und die mit ihnen zum Ausdruck kommende individuelle Überzeugung als Indiz herangezogen werden können, um zusammen mit anderen Tatsachen das künftige Verhalten des Meinungsführers prognostizieren zu können.

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Soweit der Kläger eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgebots rügt, befasst sich die Beschwerdebegründung ausschließlich damit, ob das Aufenthaltsverbot angesichts der fallbezogenen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts in Bezug auf die räumliche Ausdehnung und die zeitliche Geltungsdauer überzogen ist. Dabei stellt der Kläger der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sowie der rechtlichen Bewertung des Oberverwaltungsgerichts seine eigene, ihm naturgemäß günstigere Würdigung entgegen. Ausführungen zum allgemeinen, über den Einzelfall hinausreichenden Bedeutungsgehalt des Verhältnismäßigkeitsgebots enthält die Beschwerdebegründung nicht.

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In Bezug auf das Vorbringen in der "Einleitung" der Beschwerdebegründung zum Nachschieben von Gründen im laufenden Gerichtsverfahren benennt der Kläger weder einen Revisionszulassungsgrund noch ist den Ausführungen ein solcher Grund zu entnehmen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

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