1. Der Bescheid des Beklagten zum 31.12.2006 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer vom 25. August 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. November 2010 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung von mehr als EUR 1.500,-, hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit zu leisten. Liegt der vollstreckbare Kostenerstattungsanspruch im Wert bis zu EUR 1.500,-, ist das Urteil hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vollstreckbar. In diesem Fall kann die Beklagte der Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
5. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
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| | Der in A wohnhafte Kläger (Kl) ist von Beruf freier Handelsvertreter. Er erwarb am 30. August 1994 in B ein Einzelhandelsgeschäft, das er aus wirtschaftlichen Gründen zum 31. Oktober 1995 wieder aufgab. Ein betriebliches (damals) Konkursverfahren wurde nicht eingeleitet, da es zunächst zu verschiedenen Einigungsversuchen mit den Gläubigern kam. |
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| | Der Kl reichte zu seiner Einzelhandelstätigkeit für die Jahre 1994 und 1995 keine Einkommensteuer-(ESt)-Erklärungen bei dem Betriebsstätten-Finanzamt B (nachfolgend: B-FA) ein. Dieses erließ daraufhin am 14. Oktober 1996 Gewinnfeststellungsbescheide (GFB) 1994 und 1995, in denen es gemäß § 162 Abgabenordnung -AO- die gewerblichen Einkünfte des Kl jeweils mit DM 35.000 schätzte, und zwar unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (VdN - § 164 AO). Nachdem der Kl seine Bilanz zum 31.12.1994 und seine Schlussbilanz zum 31.10.1995 nebst Gewinnfeststellungserklärungen nachgereicht hatte, erließ das B-FA am 28. Januar 2000 geänderte GFB, in denen es jeweils ein Verlust feststellte, und zwar für das Jahr 1995 i.H. von DM 188.999. |
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| | Im Jahr 1999 leitete der Kl über sein Vermögen das Verbraucherinsolvenzverfahren (Privatinsolvenz) ein, das mit Beschluss vom 24. September 1999 eröffnet wurde und in dem als Insolvenzgläubiger sowohl das B-FA als auch der Beklagte (Bekl) involviert waren. Mit Beschluss vom 20. Dezember 2006 erteilte das Amtsgericht (AG) C die Restschuldbefreiung. Eine Ausfertigung des Beschlusses ging dem Bekl nach Rechtskrafterlangung ausweislich seines Eingangsstempels am 28. Juli 2007 zu (Bl. 83 Feststellungsakte B-FA 1995). |
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| | In seiner am 29. Februar 2008 beim Bekl eingegangenen ESt-Erklärung 2006 machte der Kl bei seinen gewerblichen Einkünften nur Angaben zur Handelsvertretertätigkeit. |
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| | Der Bekl setzte mit Bescheid vom 07. Mai 2008 die ESt 2006 mit EUR 0 fest. Mit selben Datum erließ er gemäß § 10d EStG einen Bescheid zum 31.12.2006 über die gesonderte Feststellung des verbleidenden Verlustvortrags zur ESt (VFB 2006). Beide Steuerbescheide, die der Bekl weder mit einem VdN noch mit einem Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der gewerblichen Einkünfte des Kl (§ 165 AO) versehen hatte, wurden bestandskräftig. |
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| | Das Staatliche Rechnungsprüfungsamt D (RPA) ging lt. seinem dem Bekl am 25. Juli 2008 übergebenen Aktenvermerk (Bl. 80 f. Feststellungsakte B-FA 1995) von Folgendem aus (kursive Hervorhebung hinzugefügt): |
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| „…Nach dem dem FA vorliegenden Gläubigerverzeichnis betrugen die Rückstände des Stpfl. zum 31.12.1998 insgesamt 752.128 DM. Diese setzten sich wie folgt zusammen: |
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| Eigenkapitalhilfeprogramm (Existenzgr.) |
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| (Oktober 1995 bis Januar 1996) |
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| Diverse andere Verbindlichkeiten |
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| Somit dürfte der Stpfl. seinen Betrieb in B nach Aktenlage bis Januar 1996 ausgeübt haben. In welcher Höhe dem Stpfl. betriebliche Schulden erlassen wurden geht aus der Akte nicht hervor. Der Erlass der betrieblichen Schulden stellt jedoch einen Ertrag beim Stpfl. im Jahr der Betriebsaufgabe dar (rückwirkendes Ereignis, ggf. 1996), so dass der vortragsfähige Verlust in dieser Höhe verbraucht ist. … |
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| Wir bitten die Höhe der erlassenen Verbindlichkeiten, ggf. in Zusammenarbeit mit dem FA B, zu ermitteln und hiernach die Verluste der Jahre bis 1996 zu berichtigen. …“ |
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| | Mit Schreiben vom 25. Juli 2008 forderte der Bekl den Kl erstmals auf, Angaben über die Art und Höhe der von der Restschuldbefreiung betroffenen Verbindlichkeiten zu machen. Dieser reagierte nicht. Mit Schreiben vom 19. August 2008 versandte der Bekl den Aktenvermerk des RPA mit dem Hinweis an das B-FA, dass der Befreiungsgewinn (nachfolgend: BG) des Kl im Rahmen einer gesonderten Gewinnfeststellung ermittelt und dem Wohnsitz-FA zur Änderung der ESt und insbesondere für die weiteren Verlustvorträge mitgeteilt werden müsse (Bl. 79 Feststellungsakte B-FA 1995). Ferner übersandte er dem B-FA mit Schreiben vom 25. August 2008 eine Aufstellung des AG C zum Verbraucherinsolvenzverfahren des Kl mit einer Auflistung anerkannter Forderungen i.H. von EUR 214.993,87 (Bl. 98 f. Feststellungsakte B-FA 1995). |
|
| | Auf Veranlassung des Bekl erließ das B-FA am 05. November 2008 einen gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nochmals geänderten und mit einem VdN versehenen GFB 1995, in dem es die gewerblichen Einkünfte des Kl aus der Einzelhandelstätigkeit mit DM 224.950,64 feststellte und dabei erstmals die Restschuldbefreiung im Wege der Schätzung des BG mit DM 413.949,64 berücksichtigte. Hiergegen legte der Kl dem Grunde und der Höhe nach Einspruch ein; wegen der weiteren Einzelheiten hierzu wird auf das Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten (PBV) an das B-FA vom 27. Dezember 2008 (Bl. 4 Rechtsbehelfsakte B-FA) verwiesen. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens einigten sich die Beteiligten auf eine ggf. anzusetzende Höhe des BG von DM 168.339,06 (= EUR 86.070,-). |
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| | Mit Schreiben des Bundesministeriums für Finanzen (BMF) vom 22. Dezember 2009 IV C 6-S 2140/07/10001-01, 2009/0860000 (Bundessteuerblatt -BStBl- I 2010,18 - nachfolgend: BMF-Schreiben vom 22.12.2009) änderte die Finanzverwaltung (FV) ihre Rechtsauffassung dahingehend, dass der aufgrund einer Restschuldbefreiung entstandene BG nicht - wie bis dahin angenommen - ein rückwirkendes Ereignis i. S. von § 175 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 AO darstelle, sondern erst im Zeitpunkt der Erteilung der Restschuldbefreiung realisiert werde. |
|
| | Auf Anfrage des Bekl vom 29. Januar 2010, wann zu dem GFB 1995 vom 05. November 2008 mit einer dem BMF-Schreiben vom 22.12.2009 entsprechenden Gewinnfeststellung für 2006 gerechnet werden könne, erfolgte am 19. April 2010 der Hinweis des B-FA, dass nach der Betriebsaufgabe des Kl die Anknüpfungsmerkmale gemäß §§ 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. 18 Abs. 1 Nr. 1-3 AO nicht mehr erfüllt seien. |
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| | Mit Bescheid vom 06. Mai 2010 änderte das B-FA den GFB 1995 ein weiteres Mal und stellte den Verlust des Kl unter Aufhebung des VdN wieder (ohne BG) mit DM 188.999 fest. |
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| | Im Nachgang änderte der Bekl am 25. August 2010 jeweils gemäß § 174 Abs. 4 AO den ESt-Bescheid 2006 (weiter Nullfestsetzung) sowie den VFB 2006, in dem er den im Ausgangsbescheid festgestellten Verlust um den BG minderte. Der Kl legte gegen beide Bescheide Einspruch ein. Nachdem er den Einspruch gegen den ESt-Bescheid 2006 zurückgenommen hatte, wies der Bekl den Einspruch gegen den VFB 2006 mit der Begründung zurück, der BG müsse im Jahr der Restschuldbefreiung besteuert werden. Die Änderungsbefugnis hierzu ergäbe sich aus den §§ 173 Abs. 1 Nr. 1, 174 Abs. 4 AO. Im Zeitpunkt des Ergehens des Ausgangsbescheids für das Jahr 2006 sei zwar die Restschuldbefreiung aktenkundig gewesen, nicht aber, dass insoweit betriebliche Verbindlichkeiten betroffen gewesen seien und erst recht nicht deren Höhe. Auch wenn ihn ein Verstoß gegen seine Ermittlungspflicht treffen könne, sei der Kl bei der Abgabe der ESt-Erklärung 2006 verpflichtet gewesen, die ihm bekannte Höhe der weggefallenen betrieblichen Verbindlichkeiten mitzuteilen. Das vom Kl für die Nichtanwendbarkeit des § 174 Abs. 4 AO herangezogene Urteil des Finanzgerichts -FG- Münster vom 07. September 2006 5 K 1481/06 E (Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2007, 428) habe der Bundesfinanzhof -BFH- mit Urteil vom 11. Februar 2009 X R 56/06 (BFH/NV 2009, 1411) aufgehoben; auch wenn der BFH hierbei offen gelassen habe, ob er die Rechtsauffassung des FG Münster teile, wonach eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO nur möglich sei, wenn ausschließlich die richtige Anwendung materiellen Rechts betroffen sei, decke jedenfalls der Gesetzeswortlaut diese Auffassung nicht. |
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| | Er macht im Wesentlichen geltend, bei dem BG handele es sich um eine private, nicht steuerbare Vermögensmehrung. Ersatzweise liege ein steuerfreier Sanierungsgewinn nach § 3 Nr. 66 EStG a.F. vor. |
|
| | Ferner hätten die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO nicht vorgelegen, da nach dem Urteil des FG Münster vom 07. September 2006 5 K 1481/06 E (a.a.O.) der Irrtum ausschließlich das materielle Recht betreffen müsse. Es genüge daher nicht, dass ein Änderungsbescheid aufgehoben werde, weil keine Änderungsbefugnis vorgelegen habe. Bereits der Große Senat des BFH -GrS- habe mit Beschluss vom 10. November 1997 GrS 1/96 (BStBl II 1998, 83) entschieden, dass § 174 Abs. 4 AO nicht die Möglichkeit eröffne, vorab eine andere bestandskräftige Veranlagung aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit eines Steuerbescheids herzuleiten. Die Vorschrift gebe dem FA nicht das Recht, Fehler in der Weise zu beseitigen, dass es einen bestandskräftigen Bescheid wegen eines angeblichen materiellen Sachverhalts unter Anwendung „irgendeiner“ nicht einschlägigen Korrekturvorschrift ändere und nach der vom Steuerpflichtigen veranlassten Aufhebung dieses rechtswidrigen Bescheids einen anderen bestandskräftigen Bescheid mit § 174 Abs. 4 AO korrigiere, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Rechtswidrigkeit erst nachträglich herausgestellt habe. |
|
| | Der bestandskräftige GFB 1995 des B-FA vom 28. Januar 2000 habe nicht gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden dürfen, da der BG bei richtiger Rechtsanwendung schon immer im Jahr 2006 anzusetzen gewesen sei. Eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei nicht mehr zulässig gewesen, da insoweit mit Ablauf des 31. Dezember 2002 Feststellungsverjährung eingetreten und gemäß § 164 Abs. 4 Satz 1 AO der VdN entfallen sei. Zwar habe das B-FA den geänderten GFB 1995 vom 05. November 2008 nicht bewusst rechtswidrig ohne Änderungsbefugnis erlassen. Der Rechtsirrtum des Bekl könne aber nicht dazu führen, dass eine Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 AO eröffnet werde, die bei von vornherein richtiger Rechtsanwendung nicht zur Verfügung gestanden hätte. Dies stünde im Widerspruch zu den Grundsätzen der Bestandskraft und der Festsetzungsverjährung, zumal der Bekl von § 165 Abs. 1 Satz 1 AO hätte Gebrauch machen können. |
|
| | Bei der irrigen Beurteilung handele es sich außerdem nicht um den gleichen Sachverhalt. Dem aufgehobenen GFB 1995 habe die (rückwirkende) Verminderung eines Passivpostens in der Betriebsaufgabebilanz und damit die Erhöhung eines nach §§ 16, 34 Abs. 1 Einkommensteuergesetz -EStG- begünstigten Aufgabegewinns zugrunde gelegen, also ein punktueller und mit der Betriebsaufgabe im Jahr 1995 abgeschlossener Lebenssachverhalt. Dagegen handele es sich bei der Beantragung der Insolvenz im Jahr 1999, dem Durchlaufen der Wohlverhaltensphase und der anschließenden Restschuldbefreiung um einen völlig anderen Sachverhalt, da nachträgliche und nicht nach § 34 EStG begünstigte Einkünfte i.S. des § 24 EStG vorlägen. |
|
| | Die Änderung des VFB 2006 gehe zudem nicht auf seinen Rechtsbehelf oder Antrag zurück. Er habe zwar Einspruch eingelegt, der ihm aber aufgrund des tatsächlichen Geschehensablaufs vollumfänglich entzogen worden sei, da er sich nie gegen den Ansatz des BG im Jahr 1995 gewehrt habe. Der VFB 2006 habe nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden dürfen, da es hierfür an dem erforderlichen nachträglichen Bekanntwerden einer Tatsache fehle. Der Bekl selbst führe aus, dass die Restschuldbefreiung bereits bei der ESt-Veranlagung bzw. beim Erlass seines Ausgangsbescheids am 07. Mai 2008 aktenkundig gewesen sei. Nicht bekannt seien nur die ggf. steuerrelevant anzusetzenden Beträge gewesen. Die Tatsache der Restschuldbefreiung sei aber nicht wieder dadurch unbekannt geworden, dass er insoweit in der ESt-Erklärung 2006 (pflichtwidrig oder nicht) keine Angaben gemacht habe. Der Bekl habe im Rahmen der Veranlagungsarbeiten (pflichtwidrig oder nicht bzw. bewusst oder unbewusst) darauf verzichtet, die nach Aktenlage als fehlend erkennbaren Angaben nachzufordern, sondern habe erstmals mit Schreiben vom 25. Juli 2008 nachgefragt. Da zuvor keine neue Unterlagen oder Erkenntnisse zu den Akten gekommen worden seien, hätte der Bekl seine Fragen bereits zum Zeitpunkt der Zeichnung des Eingabewertbogens am 02. Mai 2008 stellen können. Erst mit dem Schreiben vom 25. Juli 2008 habe der Bekl den Hinweis nach § 174 Abs. 3 AO erteilt, dass der BG im Jahr 2006 nicht berücksichtigt worden sei, da dieser nach seiner Auffassung im Jahr 1995 zu erfassen sei. Damit stehe fest, dass der Bekl den maßgeblichen „Lebenssachverhalt“ zu keiner Zeit irrig beurteilt habe, sondern im Rahmen der Steuerfestsetzung für das Jahr 2006 nicht abschließend habe berücksichtigen wollen. Erst die geläuterte Rechtsansicht des BMF-Schreibens vom 22.12.2009 habe zur Erkenntnis geführt, dass der rechtskräftige VFB 2006 unrichtig den BG nicht berücksichtige. Nach seiner damaligen Rechtsauffassung hätte der Bekl selbst bei ursprünglicher Kenntnis der betrieblichen Verbindlichkeiten den BG nicht im VFB 2006 vom 07. Mai 2008 berücksichtigt, sondern es wäre nur der vom B-FA gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geänderte GFB 1995 früher ergangen. Der Bekl wolle seine Verletzung der Ermittlungspflichten durch die Behauptung einer der Schwere nach überwiegenden Verletzung seiner (des Kl) Mitwirkungspflicht wegen der Nichterklärung des BG im Jahr 2006 negieren. Für dieses Jahr habe jedoch bis zum Erlass des BMF-Schreibens vom 29.12.2009 keine Erklärungspflicht bestanden, zumal die Erklärung gegenüber dem B-FA noch innerhalb der Festsetzungsfrist erfolgt sei, so dass ggf. eine Heilung eingetreten sei. |
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| | Schließlich sei der Hinweis des Bekl, er (der Kl) habe damit rechnen müssen, dass der streitgegenständliche Sachverhalt „irgendwie in irgendeinem“ Bescheid münde, irrelevant, da es für die Steuerfestsetzung einer formell zulässigen Möglichkeit bedürfe. |
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| Der Kl beantragt, 1. den geänderten Bescheid zum 31.12.2006 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur ESt vom 25. August 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 23. November 2010 aufzuheben, 2. hilfsweise die Revision zuzulassen und 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären. |
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| Der Bekl beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen. |
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| | Er trägt ergänzend zu seiner Einspruchsentscheidung im Wesentlichen vor, es lägen keine zwei unterschiedlichen Sachverhalte vor. „Bestimmter Sachverhalt“ sei der Umstand der Restschuldbefreiung für die betrieblichen Verbindlichkeiten des Kl. Diesen habe zunächst das B-FA im Einklang mit der damaligen Rechtsauffassung nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO im geänderten GFB 1995 vom 05. November 2008 berücksichtigt. Im Einspruchsverfahren habe das B-FA dann infolge des BMF-Schreibens vom 22.12.2009 seinen materiellen Rechtsirrtum erkannt und diesen GFB 1995 wieder aufgehoben. Hiernach habe er (der Bekl) gemäß § 174 Abs. 4 AO den streitgegenständlichen VFB 2006 ändern dürfen. Die Vorschrift verlange nach dem BFH-Urteil vom 11. Mai 2010 IX R 25/09 (BStBl II 2010, 953) nur, dass die Änderung des vorangegangenen Bescheids (GFB 1995) durch den Rechtsbehelf des Steuerpflichtigen veranlasst worden sei, wobei nicht zwischen Fehlern formeller oder materieller Art unterschieden werde. |
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| | Der Änderung nach § 174 Abs. 4 AO stehe auch weder der Leitsatz des GrS-Beschlusses vom 10. November 1997 GrS 1/96 (a.a.O.) noch ein Vertrauenstatbestand des Kl entgegen. Zwar eröffne § 174 Abs. 4 AO nicht die Möglichkeit, vorab eine andere bestandskräftige Veranlagung aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Steuerbescheids zu eröffnen. Im Streitfall sei aber im Zeitpunkt der Änderung des bestandskräftigen GFB 1995 gerade nicht beabsichtigt gewesen, einen geänderten VFB 2006 zu erlassen. Zu diesem Zeitpunkt seien alle Beteiligten noch davon ausgegangen, dass der BG nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO im Jahr 1995 zu berücksichtigen sei. Wenn aber das B-FA im Rahmen des Einspruchs zur Erkenntnis gelange, dass der steuerliche Sachverhalt in einem anderen Jahr als bisher angenommen anzusetzen sei, könne der Steuerpflichtige nicht aus Vertrauensschutzgründen davon ausgehen, dass der Sachverhalt überhaupt nicht steuerlich berücksichtigt werde. Überdies hätte das FA, wenn es von Anfang an von der Nichtanwendbarkeit des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ausgegangen wäre, den ESt-Bescheid 2006 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern können. Insoweit teile er die Rechtsauffassung des Kl nur im Hinblick auf die fehlende Rechtserheblichkeit, auf die es indes vorliegend nicht ankommen könne. Denn die Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO schlössen sich aus, da die erste Norm Tatsachen betreffe, die erst nach der ursprünglichen Steuerfestsetzung entstanden seien, wohingegen die zweite Vorschrift Tatsachen erfasse, die bereits zuvor entstanden, dem FA aber bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht bekannt gewesen seien. Im Streitfall hätten die Steuererklärungen des Kl den Anschein der Vollständigkeit erweckt. Er (der Bekl) hätte daher allenfalls eine Teilschätzung zur Höhe der von der Restschuldbefreiung betroffenen betrieblichen Verbindlichkeiten vornehmen können. Dass er dieses nicht getan habe, stelle kein pflichtwidriges Unterlassen dar. Die Teilschätzung hätte sich zudem so dargestellt, dass der Wegfall aller Schulden als gewinnerhöhend angesehen worden wäre. Nicht ohne Grund habe das B-FA diese Vorgehensweise gewählt, bevor im Einspruchsverfahren die Höhe des BG unstreitig geworden sei. Die tatsächliche Höhe der von der Restschuldbefreiung betroffenen betrieblichen Verbindlichkeiten sei daher auch im Fall einer vorangegangenen Teilschätzung eine neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO, wobei im Fall der Bestandskraft der Teilschätzung die weitere Problematik bestanden hätte, ob gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO grobes Verschulden einer Änderung zugunsten des Kl entgegengestanden hätte. Dieser wäre somit bei der Vornahme der Teilschätzung keinesfalls besser, sondern allenfalls gleich oder sogar schlechter gestellt worden. |
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| | Zusammengefasst habe kein Vertrauensschutz des Kl bestanden, da dieser zu jeder Zeit mit einer Berücksichtigung des BG habe rechnen müssen. Er (der Bekl) habe daher die Änderung nach § 174 Abs. 4 AO nicht willkürlich erlangt. Vertrauensschutz könne nur bestehen, wenn formelle und materielle Bestandskraft eingetreten sei. Im Unterschied hierzu habe im Urteilsfall des FG Bremen vom 19. Februar 1982 I 43/80 (EFG 1982, 388) keine Korrekturvorschrift vorgelegen, so dass die Änderung willkürlich vorgenommen worden sei, um zur Anwendung des § 174 Abs. 4 AO zu kommen. |
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| | Schließlich weise er auf das BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06 (BStBl II 2008, 277) hin, nach dem vorliegend die Änderungsbefugnis des § 174 Abs. 4 AO selbst im Fall der Verneinung der Änderungsmöglichkeit nach § 173 AO gegeben sei. |
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| | Die Beteiligten haben auf die mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung -FGO-). |
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| | Die zulässige Klage ist begründet. |
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| | I. Der angegriffene VFB 2006 vom 25. August 2010 ist bereits formell rechtswidrig. Dem Bekl fehlte es für die mit diesem zu Lasten des Kl vorgenommene Umsetzung der geänderten Rechtsauffassung aus dem BMF-Schreiben vom 22.12.2009 (Ansatz des BG im Jahr der Restschuldbefreiung) an einer Änderungsbefugnis, insbesondere konnte er sich nicht auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO stützen. Es konnte daher dahingestellt bleiben, ob die in dem BMF-Schreiben statuierte Rechtsauffassung zutrifft (dieses ist unterstellt worden, da ansonsten der VFB 2006 auch materiell-rechtlich rechtswidrig wäre). |
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| | 1. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bestimmt Folgendes: Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden können. „Irrige Beurteilung“ eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist. Unter einem "bestimmten Sachverhalt" ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft; der Begriff ist nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat. Dem Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO liegt das Spannungsfeld zwischen den Rechtsgütern „gesetzmäßiger Steuerfestsetzung“ einerseits und „Rechtssicherheit" bzw. "Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen" andererseits zugrunde. Die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts und das Interesse an seiner übereinstimmenden steuerrechtlichen Beurteilung erlauben es, einer zutreffenden Besteuerung den Vorrang vor dem Schutz des Vertrauens auf die Bestandskraft der Steuerfestsetzung zu geben. Die Finanzbehörde soll die Möglichkeit erhalten, in bestimmten Fällen der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen, indem vermieden wird, dass Steuerfestsetzungen bestehen bleiben, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen. Derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (vgl. zu alledem: BFH-Urteile vom 14. November 2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690; vom 11. Mai 2010 IX R 25/09, BStBl II 2010, 953; vom 15. Januar 2009 III R 81/07, BFH/NV 2009, 1073, jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge setzt § 174 Abs. 4 AO voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dieses löst dann nachträglich die Rechtsfolge aus, dass ein (oder mehrere) anderer Bescheide erlassen oder geändert werden können, wobei eine spezielle Festsetzungsfrist von einem Jahr zur Anwendung kommt (vgl. zu den diesbezüglichen Details: § 174 Abs. 4 Sätze 3 und 4 AO).Die Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bezieht sich mithin ausschließlich auf die Befugnis zur Änderung des "Zweitbescheids" und nicht auf die Änderung des "Erstbescheids", für die eine andere Korrekturvorschrift erfüllt sein muss (vgl. Bilsdorfer, Steuer und Studium -SteuerStud- 1998, 323). § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gibt nicht die rechtliche Möglichkeit, eine bestandskräftige Veranlagung aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids herzuleiten (vgl. GrS mit Beschluss vom 10. November 1997 GrS 1/96, a.a.O., zur speziellen Problematik des sog. "formellen Bilanzzusammenhangs"). |
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| | 2. Nach den vorstehenden Rechtsgrundsätzen hat der Bekl den geänderten VFB 2006 vom 25. August 2010 zu Unrecht auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gestützt. Die FV hat sich zwar vorliegend nicht unzulässig eine Rechtsposition „erschleichen“ wollen (s.u. a). Nach Auffassung des Senats ist aber die Anwendbarkeit der Vorschrift über diesen „Missbrauchsfall“ hinaus einzuschränken, was im Streitfall zu ihrer Nichtanwendbarkeit führt (s.u. b). |
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| | a) "Bestimmter Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist die Betriebsaufgabe des Kl, seine spätere Restschuldbefreiung sowie die Frage der Höhe seines BG. Insoweit hat das B-FA den (erstmals um den geschätzten BG erhöhten) GFB 1995 vom 05. November 2008 (= „Erstbescheid“) nicht bewusst fehlerhaft erlassen, es hat sich diese Rechtsposition nicht „erschleichen“ wollen. Denn wie auch der Kl einräumt, befand sich das B-FA bei Erlass dieses Bescheids noch in dem Rechtsirrtum, die Restschuldbefreiung des Kl stelle ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar. Erst das BMF-Schreiben vom 22.12.2009 führte zum Erkennen des Irrtums und infolgedessen zu der vom B-FA mit dem GFB vom 06. Mai 2010 vorgenommenen weiteren Änderung des GFB 1995 (wieder ohne BG) sowie zu dem vom Bekl gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO erlassenen geänderten (um den BG geminderten) VFB 2006 vom 25. August 2010 (= "Zweitbescheid"). |
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| | Für den Senat steht allerdings außer Frage, dass § 174 Abs. 4 Satz 1 AO im Fall eines vorsätzlich rechtswidrig erlassenen "Erstbescheids" nicht zur Anwendung kommen darf. In diesem Fall ist das Tatbestandsmerkmal „irrt“ nicht erfüllt, da ein Irrtum nur vortäuscht wird; zudem ist das FA nach dem Grundsatz von Treu und Glauben an einer Änderung gehindert (vgl. von Wedelstädt in Beermann, AO/FGO-Kommentar, Loseblatt, Stand: 110. Lieferung, September 2014, § 174 AO Rz. 97; Koenig in Pahlke/Koenig, AO-Kommentar, 2. Auflage, 2009, § 174 Rz. 60; Leimkühler in Pump/Leibner, AO-Kommentar, Loseblatt, Stand: 78. Lieferung, März 2009, § 174 Rz. 67; Woerner/Grube, Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 6. Auflage, 1983, S. 109 f.; s.a. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02. April 2014 2 K 1972/12, EFG 2014, 1159 - Revision eingelegt: Az. BFH X R 31/14; FG Hamburg, Urteil vom 11. Februar 1993 VII 17/91, EFG 1993, 629; FG Baden Württemberg, Urteil vom 25. April 1986 IX 173/80, EFG 1986, 534; FG Bremen, Urteil vom 19. Februar 1982 I 43/80 K, EFG 1982, 388). |
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| | Dagegen hat der BFH in seinen Entscheidungen vom 10. Mai 2012 IV R 34/09 (BFH/NV 2012, 1644) und vom 21. Mai 2004 V B 30/03 (BFH/NV 2004, 1497) ausgeführt, ein vorsätzliches Handeln des FA stehe der Anwendung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nicht entgegen (s. dazu auch unten 3). Er hat dieses damit begründet, dass der Wortlaut der Norm eine solche Einschränkung nicht enthalte und auch der Sinn der Vorschrift dagegen spreche, da der Steuerpflichtige im Fall des Obsiegens an seiner Rechtsauffassung festgehalten werden solle. Demgegenüber hatte der BFH in seinem Beschluss vom 22. Dezember 1988 V B 148/87 (BFH/NV 1990, 341) noch - obiter dictum - ausgeführt, das Tatbestandsmerkmal "irrige Beurteilung" erkläre sich am ehesten mit einer vom Gesetzgeber gewollten Abgrenzung zur nicht irrigen Beurteilung, so dass § 174 Abs. 4 Satz 1 AO beim Erlass eines bewusst unrichtigen Bescheids nicht zur Anwendung kommen solle. Dieses Verständnis drängt sich auch dem erkennenden Senat auf, der im Streitfall diese Frage aber mangels vorsätzlich fehlerhaften Handels des B-FA offen lassen konnte. |
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| | b) Nach Auffassung des Senats muss die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO unter Berücksichtigung seines Telos, insbesondere aus Vertrauensschutzgründen, sogar über den vorstehend dargelegten „Missbrauchsfall“ hinaus eingeschränkt werden, was im Streitfall zur Nichtanwendbarkeit der Vorschrift führt. |
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| | Das FG Münster sowie die herrschende Meinung im Schrifttum gehen ebenfalls von einer eingeschränkten Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus und vertreten die Auffassung, dass die irrige Beurteilung des bestimmten Sachverhalts sich auf die richtige Anwendung des materiellen Rechts beschränken, mithin die materiell-rechtlich unzutreffende Würdigung die einzige Ursache der Fehlerhaftigkeit sein müsse (vgl. FG Münster mit Urteil vom 07. September 2006 5 K 1481/06 E, a.a.O.; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO-Kommentar, Loseblatt, Stand: 228. Lieferung, Juli 2014, § 174 AO Rz. 237 u. 240; Frotscher in AO-Praxiskommentar, Loseblatt, Stand: 160. Lieferung, September 2014, § 174 Rz. 148; Koenig, a.a.O., § 174 AO Rz. 64). Der BFH hat mit Urteil vom 11. Februar 2009 X R 56/08 (a.a.O.) das o.g. Urteil des FG Münster aufgehoben, hierbei aber die Frage der richtigen Auslegung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ausdrücklich offengelassen. Insoweit ist allerdings anzumerken, dass die Auffassung der FG Münster keine Stütze im Wortlaut des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO findet, der lediglich verlangt, dass aufgrund eines Irrtums ein rechtswidriger Steuerbescheid ergangen ist, was auch im Fall der fehlerhafter Annahme einer Änderungsbefugnis erfüllt ist. Hinzu kommt, dass ein materiell-rechtlicher Irrtum des FA häufig - wie im Streitfall - die fehlerhafte Annahme einer Korrekturbefugnis nach sich ziehen wird. Da das Entstehen dieses „Folgeirrtums“ oft vom bloßen Zufall abhängen wird, erscheint es kaum sachgerecht, hiervon die Frage der Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO abhängig zu machen. Auch der erkennende Senat brauchte aber diese Auslegungsfrage nicht abschließend zu klären. Im Streitfall führt nämlich die gebotene teleologische Auslegung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO schon ohne diese abschließende Klärung zur Verneinung der Änderungsbefugnis. Denn bereits die vom B-FA mit dem geänderten GFB 1995 vom 05. November 2008 vorgenommene erstmalige Berücksichtigung des BG war rechtswidrig (s.u. aa). Diese darf daher nicht dazu führen, dass die FV die im Zeitpunkt der Änderung ihrer Rechtsauffassung (Erlass des BMF-Schreibens vom 22.12.2009) insgesamt verlorengegangene Möglichkeit der Umsetzung derselben wiedererlangt (s.u. bb). Vielmehr hat die FV aus Vertrauensschutzgründen die Nachteile aus ihrem zu späten (unterstellt) Erkennen der gültigen Rechtslage zu tragen (s.u. cc). |
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| | aa) Die vom B-FA mit dem GFB 1995 vom 05. November 2008 (= "Erstbescheid") vorgenommene erstmalige Berücksichtigung des BG war rechtwidrig, da es an der Befugnis zur Änderung des bestandskräftigen Vorbescheids vom 28. Januar 2000 fehlte. Der § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO griff nicht ein, da die Restschuldbefreiung (unterstellt) kein rückwirkendes Ereignis darstellt, sondern im Befreiungsjahr zur Gewinnrealisierung führt. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (Restschuldbefreiung als "neue Tatsache") war nicht zulässig, da der Vorbescheid bereits bestandskräftig war, weil die (Regel-) Feststellungsfrist für das Jahr 1995 spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2002 abgelaufen (§§ 181 Abs. 1, 169 Abs. 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 Nr. 2, 170 Abs. 2 Satz 1 AO) und damit auch der VdN weggefallen war (§ 164 Abs. 4 AO). |
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| | bb) Im Zeitpunkt des Erlasses des BMF-Schreibens vom 22.12.2009 bestand für die FV insgesamt keine Möglichkeit mehr, den BG des Kl noch entsprechend anzusetzen. Denn der Bekl durfte diesen ebenfalls nicht mehr berücksichtigen, da bei Erlass des angegriffenen, den BG erstmals einbeziehenden VFB 2006 vom 25. August 2010 auch dessen Ausgangsbescheid vom 07. Mai 2008 bereits bestandskräftig war. |
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| | Der - weder mit einem VdN (§ 164 AO) noch mit einem entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk (§ 165 AO) versehene - Ausgangsbescheid vom 07. Mai 2008 durfte nicht nach § 174 Abs. 3 AO geändert werden. Diese Norm bestimmt: Ist ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden. Im Streitfall sind diese Voraussetzungen selbst dann nicht erfüllt, wenn zu Gunsten des Bekl unterstellt würde, dass er den BG nicht berücksichtigt hatte, weil er von dessen Erfassung durch das B-FA im GFB 1995 nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ausgegangen war. Hieran bestehen allerdings Zweifel. Denn wie der Eingangsstempel des Bekl auf der Ausfertigung des Beschlusses des AG C vom 20. Dezember 2006 belegt, hatte dieser zumindest seit dem 28. Juli 2007 Kenntnis von der Restschuldbefreiung des Kl. Dennoch griff er den Sachverhalt erst auf Hinweis des RPA im Juli 2008 auf. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Bekl diesen zuvor insgesamt für steuerlich nicht bedeutsam erachtet oder schlicht nicht entsprechend steuerlich gewürdigt hatte. Jedenfalls scheiterte eine Änderung des Ausgangsbescheids an § 174 Abs. 3 Satz 2 AO, nach dem die Änderung längstens bis zum Ablauf derjenigen Steuer zulässig war, bei der der Sachverhalt nach der zunächst geäußerten Auffassung hätte berücksichtigt werden sollen. Im Streitfall war dieses die Gewinnfeststellung 1995, für die die Feststellungsfrist bereits mit Ablauf des 31. Dezembers 2002 verstrichen war (vgl. oben aa). |
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| | Entgegen der Auffassung des Bekl war eine Änderung des Ausgangsbescheids vom 07. Mai 2008 auch nicht gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zulässig. Hierfür fehlte es an dem erforderlichen nachträglichen Bekanntwerden einer rechtserheblichen Tatsache, da der Bekl als Insolvenzgläubiger bereits bei Erlass seines Ausgangsbescheids Kenntnis von dem Insolvenzverfahren des Kl und zumindest seit dem 28. Juli 2007 auch Kenntnis von dessen Restschuldbefreiung hatte. Für den Senat steht daher außer Frage, dass der Bekl ferner wusste, dass von der Restschuldbefreiung im erheblichen Umfang betriebliche Verbindlichkeiten des Kl erfasst waren. Jede andere Annahme wäre lebensfremd. Dem Bekl war wegen der fehlenden Mitwirkung des Kl lediglich die genaue Höhe der betrieblichen Verbindlichkeiten nicht bekannt. Beides belegt der Aktenvermerk des RPA vom 25. Juli 2008, der auf der Grundlage der Aktenlage beim Bekl verfasst wurde und eindeutig betriebliche Verbindlichkeiten des Kl aufführt. Es sind ferner keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen oder erkennbar, dass sich die Aktenlage beim Bekl nach Erlass seines Ausgangsbescheids bis zur Fertigung dieses Aktenvermerks in relevanter Weise geändert hätte. Im Nachgang zum Hinweis des RPA hat der Bekl dann auch mit Schreiben vom 19. August 2008 das B-FA aufgefordert, die Erträge des Kl aus der Restschuldbefreiung zu ermitteln. Dies verdeutlicht, dass ihm die bereits bei Erlass des Ausgangsbescheids vorliegende Tatsachengrundlage Anlass zur (Teil-) Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO im Wege der Schätzung des BG hätte geben müssen (wenn damals das BMF-Schreiben vom 20.12.2009 existiert hätte). Ein Rechtsfolgeermessen des Bekl bestand insoweit nicht. § 162 Abs. 2 AO hebt die Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen als Hauptanwendungsfall der Schätzung hervor, da der pflichtwidrig handelnde Steuerpflichtige keinesfalls gegenüber dem seine steuerlichen Pflichten ordnungsgemäß Erfüllenden privilegiert werden darf. Die Schätzung des BG wäre daher „am oberen Rand“ vorzunehmen gewesen. Bezeichnender Weise ist das B-FA in seinem GFB vom 05. November 2008 genau in dieser Weise vorgegangen und hat den BG des Kl unter der Annahme geschätzt, dass der Restschuldbefreiung ausschließlich betriebliche Verbindlichkeiten zugrunde lagen, wobei es wegen der weiterhin fehlenden Mitwirkung des Kl auf der Grundlage der schon beim Bekl vorhandenen Tatsachenkenntnis handelte. Ein Schätzungsbescheid ist allerdings nach ständiger Rechtsprechung nur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO änderbar, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden, die Anknüpfungspunkt für eine abweichende Schätzung sein können. Hierbei sind die Schätzungsgrundlagen die Tatsachen. Denn die Schätzung selbst ist keine Tatsache, sondern ein Denkprozess. Da Schätzungen naturgemäß mit Unsicherheiten verbunden sind und in pauschaler Weise alle nach den Vorstellungen des Schätzenden möglichweise vorliegenden Tatsachen (bekannte wie unbekannte) abdecken sollen, ist eine Schätzungsgrundlage nur "neu" i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn sie nicht im bisherigen Schätzungsrahmen liegt, das FA also bei rechtzeitiger Kenntnis veranlasst hätte, die Schätzung nicht oder nicht in der gewählten Weise vorzunehmen (vgl. Frotscher, a.a.O., § 173 AO Rz. 69 ff.; von Wedelstädt, a.a.O., § 173 AO Rz. 15 ff.; Koenig, a.a.O., § 173 AO Rz. 26 ff.; von Groll, a.a.O., § 173 AO Rz. 73). Nichts anderes kann gelten, wenn - wie im Ausgangsbescheid des Bekl - eine (Teil-) Schätzung pflichtwidrig unterlassen wurde. Die Pflichtwidrigkeit ergibt sich daraus, dass die mit dem BMF-Schreiben vom 20.12.2009 gewandelte Rechtsauffassung der FV nichts an dem Umstand ändert, dass diese (unterstellte) Rechtslage bereits zuvor existent war. Im Streitfall sind nach Erlass des Ausgangsbescheides des Bekl jedoch keine neuen Tatsachen bekannt geworden, die bei rechtzeitiger Kenntnis zu einem außerhalb des Schätzungsrahmens liegenden Ergebnis geführt hätten. Der Kl hat lediglich noch die tatsächlich unter dem Schätzungsbetrag liegende Höhe des BG nachgewiesen, was zu einer Korrektur zu seinen Gunsten innerhalb des Schätzungsrahmens führte. Der Bekl hat dann auch im VFB 2006 vom 25. August 2008 den im Ausgangsbescheid festgestellten Verlust um exakt den BG gemindert, auf den sich der Kl im Einspruchsverfahren mit dem B-FA geeinigt hatte. |
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| | cc) Der Kl durfte auf die Bestandskraft des GFB 1995 des B-FA vom 28. Januar 2000 und des VFB 2006 des Bekl vom 07. Mai 2008 vertrauen, zumal der Bekl letzteren Bescheid mittels der § 164 f. AO hätte offen halten können. Insoweit kann nicht von Bedeutung sein, dass der Bekl bei Erlass seines Ausgangsbescheids vom 07. Mai 2008 noch keinen Anlass hatte, den BG den Kl zu berücksichtigen, sondern dieser erst mit dem BMF-Schreiben vom 22.12.2009 entstand. Denn mit diesem Schreiben hat die FV nur ihren (unterstellt) bestehenden Rechtsirrtum ausgeräumt und die auch bereits zuvor gültige Rechtslage erkannt. Das verfahrensrechtliche Risiko, dass sich aus dem späten bzw. für bestimmte Fälle - wie den Streitfall - zu späten Erkennen der Rechtslage ergibt, muss jedoch in die Risikosphäre des Irrenden fallenden. Es geht mithin zu Lasten der FV, dass diese ihre Rechtsauffassung erst zu einem Zeitpunkt geändert hat, als auf der Grundlage der gewandelten Auffassung der Ansatz des BG des Kl verfahrensrechtlich insgesamt nicht mehr zulässig war - vgl. oben aa) und bb). Zwar soll der Steuerpflichtige mittels des § 174 Abs. 4 AO im Fall des Obsiegens mit seinem Rechtstandpunkt im Rahmen desselben Sachverhalts an diesem festgehalten werden und die damit verbundenen Nachteile hinnehmen müssen. Nach Auffassung des Senats kann dieses aber nicht bedeuten, dass der Steuerpflichtige hinter die Rechtsposition zurückfallen kann, die er bereits vor seinem Rechtsbehelf bzw. Antrag inne hatte. Denn der § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bietet gerade nicht die Möglichkeit, eine bestandskräftige Veranlagung aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids herzuleiten (vgl. GrS des BFH mit Beschluss vom 10. November 1997 GrS 1/96, a.a.O.). Eine - wie im Streitfall - ohne Änderungsbefugnis vorgenommene Aufhebung des "Erstbescheids" darf dem FA deshalb keine weitergehenden Rechte geben, als es sie vor der Änderung hatte (vgl. FG Bremen mit Urteil vom 19. Februar 1982 I 43/80 K, a.a.O.). Dieses zuzulassen, würde das Regelwerk der Bestandskraft und der Korrekturbestände (§§ 172 ff. AO) untergraben. Es ergäbe sich die unter Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht hinnehmbare Folge, dass bestandskräftige Steuerbescheide mittels eines (vorsätzlich oder irrtümlich) fehlerhaften Änderungsbescheids wieder „änderungsfähig“ würden (vgl. ähnlich: FG Bremen mit Urteil vom 19. Februar 1982 I 43/80 K, a.a.O.; FG Baden-Württemberg mit Urteil vom 25. April 1986 IX 173/80, a.a.O.; FG Nürnberg mit Urteil vom 09. Mai 2006 I 43/2003, EFG 2007, 447 - aufgehoben mit BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06, BStBl II 2008, 487; s.a. Macher, Deutsches Steuerrecht -DStR- 1979, 548 ff.). Die Richtigkeit dieser Auffassung zeigt sich ferner daran, dass es im Hinblick auf den Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen keinen Unterschied macht, ob die ohne Befugnis vorgenommene Änderung des "Erstbescheids" vom FA bewusst im Sinne eines "Erschleichens" (vgl. oben a) oder - wie vorliegend - nur irrtümlich erfolgte. Entgegen der Auffassung des Bekl musste der Kl schließlich auch nicht jederzeit mit der Berücksichtigung des BG rechnen, da er - wie jeder Steuerpflichtige - darauf vertrauen durfte, dass dieser gesetzmäßig, d.h. verfahrensfehlerfrei im materiell-rechtlich zutreffenden Bescheid berücksichtigt wird. Aus den dargelegten Gründen kommt dem Vertrauensschutz des Kl Vorrang vor der materiellen Richtigkeit zu. |
|
| | Nicht zu entscheiden war im Streitfall die Frage, ob die Anwendung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO im Fall des Fehlens einer Änderungsbefugnis für den "Erstbescheid" bejaht werden kann, wenn die Finanzbehörden in der Gesamtbetrachtung durch die rechtswidrige Änderung gegenüber dem Steuerpflichtigen nicht - wie vorliegend - eine Rechts-position erlangen, sondern eine solche gerade aufgeben (vgl. dazu FG Baden-Württemberg mit Urteil vom 25. April 1986 IX 173/80, a.a.O.). |
|
| | 3. Der Senatsauffassung stehen nicht die BFH-Entscheidungen vom 10. Mai 2012 IV R 34/09 (a.a.O.) und vom 21. Mai 2004 V B 30/03 (a.a.O.) entgegen, in denen der BFH die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO selbst bei einem vom FA vorsätzlich falsch erlassenen Erstbescheid bejaht hat (vgl. oben 2.a). Denn diesen Fällen lag gerade nicht die - im Streitfall gegebene - Konstellation einer Änderung des "Erstbescheids" durch das FA ohne Korrekturbefugnis zugrunde. Der Senat verkennt ferner nicht, dass das BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06 (a.a.O.) vorliegend eine Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gebieten könnte, da der BFH in diesem ausführt, dass die Vorschrift selbst dann anwendbar sei, wenn das FA den "Erstbescheid" wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist bei seinem Erlass aufgehoben habe. Allerdings handelt es sich - soweit ersichtlich - um die einzige BFH-Entscheidung zur hier streitentscheidenden Problematik, der der Senat für den vorliegenden Einzelfall aus den dargelegten Gründen nicht zu folgen vermag, zumal der BFH seine Auffassung nicht näher begründen musste. |
|
| | II. Der unterlegene Bekl trägt gemäß § 135 Abs. 1 FGO die Kosten des Verfahrens. |
|
| | III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 151 Abs. 3 und §§ 155 FGO i.V.m. 708 Nr. 11 und 709 Zivilprozessordnung -ZPO-. Die Abwendungsbefugnis resultiert aus § 711 ZPO. Insoweit folgt der Senat zu der Frage, ob bei Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit die Sicherheitsleistung auch dem Fiskus obliegt, der Auffassung des FG Baden-Württemberg im Urteil vom 26. Februar 1991 4 K 23/90 (EFG 1991, 338), auf das wegen der Begründung im Einzelnen Bezug genommen wird. |
|
| | IV. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 FGO zugelassen. Die streitgegenständliche Frage, ob die „irrige Beurteilung“ i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO auf die richtige Anwendung des materiellen Rechts beschränkt sein muss oder die Anwendbarkeit der Vorschrift, insbesondere unter Berücksichtigung ihres Telos, sonstigen Einschränkungen unterliegt, erscheint höchstrichterlich nicht hinreichend geklärt. |
|
| | V. Dem Verfahren lag ein in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilender Sachverhalt zugrunde, so dass die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren notwendig war, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO). |
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| | |
| | Die zulässige Klage ist begründet. |
|
| | I. Der angegriffene VFB 2006 vom 25. August 2010 ist bereits formell rechtswidrig. Dem Bekl fehlte es für die mit diesem zu Lasten des Kl vorgenommene Umsetzung der geänderten Rechtsauffassung aus dem BMF-Schreiben vom 22.12.2009 (Ansatz des BG im Jahr der Restschuldbefreiung) an einer Änderungsbefugnis, insbesondere konnte er sich nicht auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO stützen. Es konnte daher dahingestellt bleiben, ob die in dem BMF-Schreiben statuierte Rechtsauffassung zutrifft (dieses ist unterstellt worden, da ansonsten der VFB 2006 auch materiell-rechtlich rechtswidrig wäre). |
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| | 1. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bestimmt Folgendes: Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden können. „Irrige Beurteilung“ eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist. Unter einem "bestimmten Sachverhalt" ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft; der Begriff ist nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat. Dem Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO liegt das Spannungsfeld zwischen den Rechtsgütern „gesetzmäßiger Steuerfestsetzung“ einerseits und „Rechtssicherheit" bzw. "Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen" andererseits zugrunde. Die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts und das Interesse an seiner übereinstimmenden steuerrechtlichen Beurteilung erlauben es, einer zutreffenden Besteuerung den Vorrang vor dem Schutz des Vertrauens auf die Bestandskraft der Steuerfestsetzung zu geben. Die Finanzbehörde soll die Möglichkeit erhalten, in bestimmten Fällen der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen, indem vermieden wird, dass Steuerfestsetzungen bestehen bleiben, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen. Derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (vgl. zu alledem: BFH-Urteile vom 14. November 2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690; vom 11. Mai 2010 IX R 25/09, BStBl II 2010, 953; vom 15. Januar 2009 III R 81/07, BFH/NV 2009, 1073, jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge setzt § 174 Abs. 4 AO voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dieses löst dann nachträglich die Rechtsfolge aus, dass ein (oder mehrere) anderer Bescheide erlassen oder geändert werden können, wobei eine spezielle Festsetzungsfrist von einem Jahr zur Anwendung kommt (vgl. zu den diesbezüglichen Details: § 174 Abs. 4 Sätze 3 und 4 AO).Die Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bezieht sich mithin ausschließlich auf die Befugnis zur Änderung des "Zweitbescheids" und nicht auf die Änderung des "Erstbescheids", für die eine andere Korrekturvorschrift erfüllt sein muss (vgl. Bilsdorfer, Steuer und Studium -SteuerStud- 1998, 323). § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gibt nicht die rechtliche Möglichkeit, eine bestandskräftige Veranlagung aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids herzuleiten (vgl. GrS mit Beschluss vom 10. November 1997 GrS 1/96, a.a.O., zur speziellen Problematik des sog. "formellen Bilanzzusammenhangs"). |
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| | 2. Nach den vorstehenden Rechtsgrundsätzen hat der Bekl den geänderten VFB 2006 vom 25. August 2010 zu Unrecht auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gestützt. Die FV hat sich zwar vorliegend nicht unzulässig eine Rechtsposition „erschleichen“ wollen (s.u. a). Nach Auffassung des Senats ist aber die Anwendbarkeit der Vorschrift über diesen „Missbrauchsfall“ hinaus einzuschränken, was im Streitfall zu ihrer Nichtanwendbarkeit führt (s.u. b). |
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| | a) "Bestimmter Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist die Betriebsaufgabe des Kl, seine spätere Restschuldbefreiung sowie die Frage der Höhe seines BG. Insoweit hat das B-FA den (erstmals um den geschätzten BG erhöhten) GFB 1995 vom 05. November 2008 (= „Erstbescheid“) nicht bewusst fehlerhaft erlassen, es hat sich diese Rechtsposition nicht „erschleichen“ wollen. Denn wie auch der Kl einräumt, befand sich das B-FA bei Erlass dieses Bescheids noch in dem Rechtsirrtum, die Restschuldbefreiung des Kl stelle ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar. Erst das BMF-Schreiben vom 22.12.2009 führte zum Erkennen des Irrtums und infolgedessen zu der vom B-FA mit dem GFB vom 06. Mai 2010 vorgenommenen weiteren Änderung des GFB 1995 (wieder ohne BG) sowie zu dem vom Bekl gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO erlassenen geänderten (um den BG geminderten) VFB 2006 vom 25. August 2010 (= "Zweitbescheid"). |
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| | Für den Senat steht allerdings außer Frage, dass § 174 Abs. 4 Satz 1 AO im Fall eines vorsätzlich rechtswidrig erlassenen "Erstbescheids" nicht zur Anwendung kommen darf. In diesem Fall ist das Tatbestandsmerkmal „irrt“ nicht erfüllt, da ein Irrtum nur vortäuscht wird; zudem ist das FA nach dem Grundsatz von Treu und Glauben an einer Änderung gehindert (vgl. von Wedelstädt in Beermann, AO/FGO-Kommentar, Loseblatt, Stand: 110. Lieferung, September 2014, § 174 AO Rz. 97; Koenig in Pahlke/Koenig, AO-Kommentar, 2. Auflage, 2009, § 174 Rz. 60; Leimkühler in Pump/Leibner, AO-Kommentar, Loseblatt, Stand: 78. Lieferung, März 2009, § 174 Rz. 67; Woerner/Grube, Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 6. Auflage, 1983, S. 109 f.; s.a. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02. April 2014 2 K 1972/12, EFG 2014, 1159 - Revision eingelegt: Az. BFH X R 31/14; FG Hamburg, Urteil vom 11. Februar 1993 VII 17/91, EFG 1993, 629; FG Baden Württemberg, Urteil vom 25. April 1986 IX 173/80, EFG 1986, 534; FG Bremen, Urteil vom 19. Februar 1982 I 43/80 K, EFG 1982, 388). |
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| | Dagegen hat der BFH in seinen Entscheidungen vom 10. Mai 2012 IV R 34/09 (BFH/NV 2012, 1644) und vom 21. Mai 2004 V B 30/03 (BFH/NV 2004, 1497) ausgeführt, ein vorsätzliches Handeln des FA stehe der Anwendung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nicht entgegen (s. dazu auch unten 3). Er hat dieses damit begründet, dass der Wortlaut der Norm eine solche Einschränkung nicht enthalte und auch der Sinn der Vorschrift dagegen spreche, da der Steuerpflichtige im Fall des Obsiegens an seiner Rechtsauffassung festgehalten werden solle. Demgegenüber hatte der BFH in seinem Beschluss vom 22. Dezember 1988 V B 148/87 (BFH/NV 1990, 341) noch - obiter dictum - ausgeführt, das Tatbestandsmerkmal "irrige Beurteilung" erkläre sich am ehesten mit einer vom Gesetzgeber gewollten Abgrenzung zur nicht irrigen Beurteilung, so dass § 174 Abs. 4 Satz 1 AO beim Erlass eines bewusst unrichtigen Bescheids nicht zur Anwendung kommen solle. Dieses Verständnis drängt sich auch dem erkennenden Senat auf, der im Streitfall diese Frage aber mangels vorsätzlich fehlerhaften Handels des B-FA offen lassen konnte. |
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| | b) Nach Auffassung des Senats muss die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO unter Berücksichtigung seines Telos, insbesondere aus Vertrauensschutzgründen, sogar über den vorstehend dargelegten „Missbrauchsfall“ hinaus eingeschränkt werden, was im Streitfall zur Nichtanwendbarkeit der Vorschrift führt. |
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| | Das FG Münster sowie die herrschende Meinung im Schrifttum gehen ebenfalls von einer eingeschränkten Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus und vertreten die Auffassung, dass die irrige Beurteilung des bestimmten Sachverhalts sich auf die richtige Anwendung des materiellen Rechts beschränken, mithin die materiell-rechtlich unzutreffende Würdigung die einzige Ursache der Fehlerhaftigkeit sein müsse (vgl. FG Münster mit Urteil vom 07. September 2006 5 K 1481/06 E, a.a.O.; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO-Kommentar, Loseblatt, Stand: 228. Lieferung, Juli 2014, § 174 AO Rz. 237 u. 240; Frotscher in AO-Praxiskommentar, Loseblatt, Stand: 160. Lieferung, September 2014, § 174 Rz. 148; Koenig, a.a.O., § 174 AO Rz. 64). Der BFH hat mit Urteil vom 11. Februar 2009 X R 56/08 (a.a.O.) das o.g. Urteil des FG Münster aufgehoben, hierbei aber die Frage der richtigen Auslegung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ausdrücklich offengelassen. Insoweit ist allerdings anzumerken, dass die Auffassung der FG Münster keine Stütze im Wortlaut des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO findet, der lediglich verlangt, dass aufgrund eines Irrtums ein rechtswidriger Steuerbescheid ergangen ist, was auch im Fall der fehlerhafter Annahme einer Änderungsbefugnis erfüllt ist. Hinzu kommt, dass ein materiell-rechtlicher Irrtum des FA häufig - wie im Streitfall - die fehlerhafte Annahme einer Korrekturbefugnis nach sich ziehen wird. Da das Entstehen dieses „Folgeirrtums“ oft vom bloßen Zufall abhängen wird, erscheint es kaum sachgerecht, hiervon die Frage der Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO abhängig zu machen. Auch der erkennende Senat brauchte aber diese Auslegungsfrage nicht abschließend zu klären. Im Streitfall führt nämlich die gebotene teleologische Auslegung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO schon ohne diese abschließende Klärung zur Verneinung der Änderungsbefugnis. Denn bereits die vom B-FA mit dem geänderten GFB 1995 vom 05. November 2008 vorgenommene erstmalige Berücksichtigung des BG war rechtswidrig (s.u. aa). Diese darf daher nicht dazu führen, dass die FV die im Zeitpunkt der Änderung ihrer Rechtsauffassung (Erlass des BMF-Schreibens vom 22.12.2009) insgesamt verlorengegangene Möglichkeit der Umsetzung derselben wiedererlangt (s.u. bb). Vielmehr hat die FV aus Vertrauensschutzgründen die Nachteile aus ihrem zu späten (unterstellt) Erkennen der gültigen Rechtslage zu tragen (s.u. cc). |
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| | aa) Die vom B-FA mit dem GFB 1995 vom 05. November 2008 (= "Erstbescheid") vorgenommene erstmalige Berücksichtigung des BG war rechtwidrig, da es an der Befugnis zur Änderung des bestandskräftigen Vorbescheids vom 28. Januar 2000 fehlte. Der § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO griff nicht ein, da die Restschuldbefreiung (unterstellt) kein rückwirkendes Ereignis darstellt, sondern im Befreiungsjahr zur Gewinnrealisierung führt. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (Restschuldbefreiung als "neue Tatsache") war nicht zulässig, da der Vorbescheid bereits bestandskräftig war, weil die (Regel-) Feststellungsfrist für das Jahr 1995 spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2002 abgelaufen (§§ 181 Abs. 1, 169 Abs. 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 Nr. 2, 170 Abs. 2 Satz 1 AO) und damit auch der VdN weggefallen war (§ 164 Abs. 4 AO). |
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| | bb) Im Zeitpunkt des Erlasses des BMF-Schreibens vom 22.12.2009 bestand für die FV insgesamt keine Möglichkeit mehr, den BG des Kl noch entsprechend anzusetzen. Denn der Bekl durfte diesen ebenfalls nicht mehr berücksichtigen, da bei Erlass des angegriffenen, den BG erstmals einbeziehenden VFB 2006 vom 25. August 2010 auch dessen Ausgangsbescheid vom 07. Mai 2008 bereits bestandskräftig war. |
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| | Der - weder mit einem VdN (§ 164 AO) noch mit einem entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk (§ 165 AO) versehene - Ausgangsbescheid vom 07. Mai 2008 durfte nicht nach § 174 Abs. 3 AO geändert werden. Diese Norm bestimmt: Ist ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden. Im Streitfall sind diese Voraussetzungen selbst dann nicht erfüllt, wenn zu Gunsten des Bekl unterstellt würde, dass er den BG nicht berücksichtigt hatte, weil er von dessen Erfassung durch das B-FA im GFB 1995 nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ausgegangen war. Hieran bestehen allerdings Zweifel. Denn wie der Eingangsstempel des Bekl auf der Ausfertigung des Beschlusses des AG C vom 20. Dezember 2006 belegt, hatte dieser zumindest seit dem 28. Juli 2007 Kenntnis von der Restschuldbefreiung des Kl. Dennoch griff er den Sachverhalt erst auf Hinweis des RPA im Juli 2008 auf. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Bekl diesen zuvor insgesamt für steuerlich nicht bedeutsam erachtet oder schlicht nicht entsprechend steuerlich gewürdigt hatte. Jedenfalls scheiterte eine Änderung des Ausgangsbescheids an § 174 Abs. 3 Satz 2 AO, nach dem die Änderung längstens bis zum Ablauf derjenigen Steuer zulässig war, bei der der Sachverhalt nach der zunächst geäußerten Auffassung hätte berücksichtigt werden sollen. Im Streitfall war dieses die Gewinnfeststellung 1995, für die die Feststellungsfrist bereits mit Ablauf des 31. Dezembers 2002 verstrichen war (vgl. oben aa). |
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| | Entgegen der Auffassung des Bekl war eine Änderung des Ausgangsbescheids vom 07. Mai 2008 auch nicht gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zulässig. Hierfür fehlte es an dem erforderlichen nachträglichen Bekanntwerden einer rechtserheblichen Tatsache, da der Bekl als Insolvenzgläubiger bereits bei Erlass seines Ausgangsbescheids Kenntnis von dem Insolvenzverfahren des Kl und zumindest seit dem 28. Juli 2007 auch Kenntnis von dessen Restschuldbefreiung hatte. Für den Senat steht daher außer Frage, dass der Bekl ferner wusste, dass von der Restschuldbefreiung im erheblichen Umfang betriebliche Verbindlichkeiten des Kl erfasst waren. Jede andere Annahme wäre lebensfremd. Dem Bekl war wegen der fehlenden Mitwirkung des Kl lediglich die genaue Höhe der betrieblichen Verbindlichkeiten nicht bekannt. Beides belegt der Aktenvermerk des RPA vom 25. Juli 2008, der auf der Grundlage der Aktenlage beim Bekl verfasst wurde und eindeutig betriebliche Verbindlichkeiten des Kl aufführt. Es sind ferner keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen oder erkennbar, dass sich die Aktenlage beim Bekl nach Erlass seines Ausgangsbescheids bis zur Fertigung dieses Aktenvermerks in relevanter Weise geändert hätte. Im Nachgang zum Hinweis des RPA hat der Bekl dann auch mit Schreiben vom 19. August 2008 das B-FA aufgefordert, die Erträge des Kl aus der Restschuldbefreiung zu ermitteln. Dies verdeutlicht, dass ihm die bereits bei Erlass des Ausgangsbescheids vorliegende Tatsachengrundlage Anlass zur (Teil-) Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO im Wege der Schätzung des BG hätte geben müssen (wenn damals das BMF-Schreiben vom 20.12.2009 existiert hätte). Ein Rechtsfolgeermessen des Bekl bestand insoweit nicht. § 162 Abs. 2 AO hebt die Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen als Hauptanwendungsfall der Schätzung hervor, da der pflichtwidrig handelnde Steuerpflichtige keinesfalls gegenüber dem seine steuerlichen Pflichten ordnungsgemäß Erfüllenden privilegiert werden darf. Die Schätzung des BG wäre daher „am oberen Rand“ vorzunehmen gewesen. Bezeichnender Weise ist das B-FA in seinem GFB vom 05. November 2008 genau in dieser Weise vorgegangen und hat den BG des Kl unter der Annahme geschätzt, dass der Restschuldbefreiung ausschließlich betriebliche Verbindlichkeiten zugrunde lagen, wobei es wegen der weiterhin fehlenden Mitwirkung des Kl auf der Grundlage der schon beim Bekl vorhandenen Tatsachenkenntnis handelte. Ein Schätzungsbescheid ist allerdings nach ständiger Rechtsprechung nur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO änderbar, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden, die Anknüpfungspunkt für eine abweichende Schätzung sein können. Hierbei sind die Schätzungsgrundlagen die Tatsachen. Denn die Schätzung selbst ist keine Tatsache, sondern ein Denkprozess. Da Schätzungen naturgemäß mit Unsicherheiten verbunden sind und in pauschaler Weise alle nach den Vorstellungen des Schätzenden möglichweise vorliegenden Tatsachen (bekannte wie unbekannte) abdecken sollen, ist eine Schätzungsgrundlage nur "neu" i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn sie nicht im bisherigen Schätzungsrahmen liegt, das FA also bei rechtzeitiger Kenntnis veranlasst hätte, die Schätzung nicht oder nicht in der gewählten Weise vorzunehmen (vgl. Frotscher, a.a.O., § 173 AO Rz. 69 ff.; von Wedelstädt, a.a.O., § 173 AO Rz. 15 ff.; Koenig, a.a.O., § 173 AO Rz. 26 ff.; von Groll, a.a.O., § 173 AO Rz. 73). Nichts anderes kann gelten, wenn - wie im Ausgangsbescheid des Bekl - eine (Teil-) Schätzung pflichtwidrig unterlassen wurde. Die Pflichtwidrigkeit ergibt sich daraus, dass die mit dem BMF-Schreiben vom 20.12.2009 gewandelte Rechtsauffassung der FV nichts an dem Umstand ändert, dass diese (unterstellte) Rechtslage bereits zuvor existent war. Im Streitfall sind nach Erlass des Ausgangsbescheides des Bekl jedoch keine neuen Tatsachen bekannt geworden, die bei rechtzeitiger Kenntnis zu einem außerhalb des Schätzungsrahmens liegenden Ergebnis geführt hätten. Der Kl hat lediglich noch die tatsächlich unter dem Schätzungsbetrag liegende Höhe des BG nachgewiesen, was zu einer Korrektur zu seinen Gunsten innerhalb des Schätzungsrahmens führte. Der Bekl hat dann auch im VFB 2006 vom 25. August 2008 den im Ausgangsbescheid festgestellten Verlust um exakt den BG gemindert, auf den sich der Kl im Einspruchsverfahren mit dem B-FA geeinigt hatte. |
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| | cc) Der Kl durfte auf die Bestandskraft des GFB 1995 des B-FA vom 28. Januar 2000 und des VFB 2006 des Bekl vom 07. Mai 2008 vertrauen, zumal der Bekl letzteren Bescheid mittels der § 164 f. AO hätte offen halten können. Insoweit kann nicht von Bedeutung sein, dass der Bekl bei Erlass seines Ausgangsbescheids vom 07. Mai 2008 noch keinen Anlass hatte, den BG den Kl zu berücksichtigen, sondern dieser erst mit dem BMF-Schreiben vom 22.12.2009 entstand. Denn mit diesem Schreiben hat die FV nur ihren (unterstellt) bestehenden Rechtsirrtum ausgeräumt und die auch bereits zuvor gültige Rechtslage erkannt. Das verfahrensrechtliche Risiko, dass sich aus dem späten bzw. für bestimmte Fälle - wie den Streitfall - zu späten Erkennen der Rechtslage ergibt, muss jedoch in die Risikosphäre des Irrenden fallenden. Es geht mithin zu Lasten der FV, dass diese ihre Rechtsauffassung erst zu einem Zeitpunkt geändert hat, als auf der Grundlage der gewandelten Auffassung der Ansatz des BG des Kl verfahrensrechtlich insgesamt nicht mehr zulässig war - vgl. oben aa) und bb). Zwar soll der Steuerpflichtige mittels des § 174 Abs. 4 AO im Fall des Obsiegens mit seinem Rechtstandpunkt im Rahmen desselben Sachverhalts an diesem festgehalten werden und die damit verbundenen Nachteile hinnehmen müssen. Nach Auffassung des Senats kann dieses aber nicht bedeuten, dass der Steuerpflichtige hinter die Rechtsposition zurückfallen kann, die er bereits vor seinem Rechtsbehelf bzw. Antrag inne hatte. Denn der § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bietet gerade nicht die Möglichkeit, eine bestandskräftige Veranlagung aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids herzuleiten (vgl. GrS des BFH mit Beschluss vom 10. November 1997 GrS 1/96, a.a.O.). Eine - wie im Streitfall - ohne Änderungsbefugnis vorgenommene Aufhebung des "Erstbescheids" darf dem FA deshalb keine weitergehenden Rechte geben, als es sie vor der Änderung hatte (vgl. FG Bremen mit Urteil vom 19. Februar 1982 I 43/80 K, a.a.O.). Dieses zuzulassen, würde das Regelwerk der Bestandskraft und der Korrekturbestände (§§ 172 ff. AO) untergraben. Es ergäbe sich die unter Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht hinnehmbare Folge, dass bestandskräftige Steuerbescheide mittels eines (vorsätzlich oder irrtümlich) fehlerhaften Änderungsbescheids wieder „änderungsfähig“ würden (vgl. ähnlich: FG Bremen mit Urteil vom 19. Februar 1982 I 43/80 K, a.a.O.; FG Baden-Württemberg mit Urteil vom 25. April 1986 IX 173/80, a.a.O.; FG Nürnberg mit Urteil vom 09. Mai 2006 I 43/2003, EFG 2007, 447 - aufgehoben mit BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06, BStBl II 2008, 487; s.a. Macher, Deutsches Steuerrecht -DStR- 1979, 548 ff.). Die Richtigkeit dieser Auffassung zeigt sich ferner daran, dass es im Hinblick auf den Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen keinen Unterschied macht, ob die ohne Befugnis vorgenommene Änderung des "Erstbescheids" vom FA bewusst im Sinne eines "Erschleichens" (vgl. oben a) oder - wie vorliegend - nur irrtümlich erfolgte. Entgegen der Auffassung des Bekl musste der Kl schließlich auch nicht jederzeit mit der Berücksichtigung des BG rechnen, da er - wie jeder Steuerpflichtige - darauf vertrauen durfte, dass dieser gesetzmäßig, d.h. verfahrensfehlerfrei im materiell-rechtlich zutreffenden Bescheid berücksichtigt wird. Aus den dargelegten Gründen kommt dem Vertrauensschutz des Kl Vorrang vor der materiellen Richtigkeit zu. |
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| | Nicht zu entscheiden war im Streitfall die Frage, ob die Anwendung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO im Fall des Fehlens einer Änderungsbefugnis für den "Erstbescheid" bejaht werden kann, wenn die Finanzbehörden in der Gesamtbetrachtung durch die rechtswidrige Änderung gegenüber dem Steuerpflichtigen nicht - wie vorliegend - eine Rechts-position erlangen, sondern eine solche gerade aufgeben (vgl. dazu FG Baden-Württemberg mit Urteil vom 25. April 1986 IX 173/80, a.a.O.). |
|
| | 3. Der Senatsauffassung stehen nicht die BFH-Entscheidungen vom 10. Mai 2012 IV R 34/09 (a.a.O.) und vom 21. Mai 2004 V B 30/03 (a.a.O.) entgegen, in denen der BFH die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO selbst bei einem vom FA vorsätzlich falsch erlassenen Erstbescheid bejaht hat (vgl. oben 2.a). Denn diesen Fällen lag gerade nicht die - im Streitfall gegebene - Konstellation einer Änderung des "Erstbescheids" durch das FA ohne Korrekturbefugnis zugrunde. Der Senat verkennt ferner nicht, dass das BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06 (a.a.O.) vorliegend eine Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gebieten könnte, da der BFH in diesem ausführt, dass die Vorschrift selbst dann anwendbar sei, wenn das FA den "Erstbescheid" wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist bei seinem Erlass aufgehoben habe. Allerdings handelt es sich - soweit ersichtlich - um die einzige BFH-Entscheidung zur hier streitentscheidenden Problematik, der der Senat für den vorliegenden Einzelfall aus den dargelegten Gründen nicht zu folgen vermag, zumal der BFH seine Auffassung nicht näher begründen musste. |
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| | II. Der unterlegene Bekl trägt gemäß § 135 Abs. 1 FGO die Kosten des Verfahrens. |
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| | III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 151 Abs. 3 und §§ 155 FGO i.V.m. 708 Nr. 11 und 709 Zivilprozessordnung -ZPO-. Die Abwendungsbefugnis resultiert aus § 711 ZPO. Insoweit folgt der Senat zu der Frage, ob bei Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit die Sicherheitsleistung auch dem Fiskus obliegt, der Auffassung des FG Baden-Württemberg im Urteil vom 26. Februar 1991 4 K 23/90 (EFG 1991, 338), auf das wegen der Begründung im Einzelnen Bezug genommen wird. |
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| | IV. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 FGO zugelassen. Die streitgegenständliche Frage, ob die „irrige Beurteilung“ i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO auf die richtige Anwendung des materiellen Rechts beschränkt sein muss oder die Anwendbarkeit der Vorschrift, insbesondere unter Berücksichtigung ihres Telos, sonstigen Einschränkungen unterliegt, erscheint höchstrichterlich nicht hinreichend geklärt. |
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| | V. Dem Verfahren lag ein in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilender Sachverhalt zugrunde, so dass die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren notwendig war, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO). |
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