Urteil vom Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt (3. Senat) - 3 K 1526/11

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten sich über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Erlasses von Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 gem. § 227 der Abgabenordnung (AO).

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Die Klägerin wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 1. Juni 1990 gegründet. Gegenstand des Unternehmens ist ausweislich der Eintragungen im Handelsregister die Entwicklung, Herstellung, der Vertrieb von Förderanlagen und Baugruppen aller Art im Bereich Umwelttechnik. Die Klägerin vertreibt weltweit verschiedene Recyclingmaschinen.

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Die Maschinen werden in der Regel über Zwischenhändler verkauft. Die Leistungsbeziehungen zwischen der Klägerin, der Händler und der Endkunden sind häufig im Rahmen eines Reihengeschäftes gestaltet.

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Der Beklagte führte bei der Klägerin in der Zeit vom 6. Oktober 2009 bis Ende 2010 eine steuerliche Betriebsprüfung für die bereits unter dem Vorbehalt der Nachprüfung veranlagten Jahre 2004 bis 2007 durch. Der Zwischenbericht der Betriebsprüfung datiert auf den 1. April 2010. Die Betriebsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass der Klägerin in den Streitjahren 2004 bis 2007 bei bestimmten Reihengeschäften mit ausländischen Händlern die ruhende Lieferung zuzuordnen sei und daher keine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 Umsatzsteuergesetz (UStG) oder nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG in Anspruch genommen werden könne. Die bisher von der Klägerin als steuerfrei behandelten Lieferungen seien daher umsatzsteuerpflichtig.

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In Auswertung des Betriebsprüfungsberichtes erließ der Beklagte am 26. April 2010 gemäß § 164 Abs. 2 AO geänderte Bescheide über Umsatzsteuer für 2004 bis 2007, in denen er die Steuer entsprechend heraufsetzte. Gleichzeitig erließ der Beklagte mit den Umsatzsteuerbescheiden verbundene Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007.

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In den Bescheiden vom 26. April 2010 berechnete der Beklagte die Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007 wie folgt:

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2004: 

 590.350,00 €

vom 01.04.2006 bis 29.04.2010 =

48 Monate x 0,5 v.H. =

141.684,00 €

2005: 

 620.850,00 €

vom 01.04.2007 bis 29.04.2010 =

36 Monate x 0,5 v.H. =

111.753,00 €

2006: 

 891.600,00 €

vom 01.04.2008 bis 29.04.2010 =

24 Monate x 0,5 v.H. =

106.992,00 €

2007: 

1.084.250,00 €

vom 01.04.2009 bis 29.04.2010 =

12 Monate x 0,5 v.H. =

65.055,00 €

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Mit Schreiben vom 28. Mai 2010 legte die Klägerin sowohl gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2004 bis 2007 vom 26. April 2010 als auch gegen die Bescheide über die Festsetzung von Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 vom 26. April 2010 Einspruch ein.

9

Zur Begründung führte sie mit Schreiben vom 16. Juni 2010 aus, dass sie die Feststellungen der Betriebsprüfung umgehend in berichtigten Rechnungen an die ausländischen Händler umgesetzt habe. Die betreffenden Rechnungen im Prüfungszeitraum seien pro Jahr korrigiert worden. Die jeweilige Korrekturmeldung (Gutschrift) enthalte eine Anlage mit detaillierten Rechnungsangaben der betreffenden Rechnungen und die neuen Rechnungen seien mit gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer erteilt worden. Die korrigierten Rechnungen seien in der Umsatzsteuervoranmeldung für April 2010 berücksichtigt worden. Die Leistungsempfänger (Händler) hätten bei dem Bundeszentralamt für Steuern Anträge auf Vergütung der deutschen Vorsteuer gestellt. In diesem Zusammenhang sei zudem die Abtretung des Vergütungsanspruches der Händler an das Finanzamt Z zwecks Verrechnung mit den Umsatzsteuernachzahlungen für die Jahre 2004 bis 2007 gestellt worden. Aus diesem Grund sei von dem Beklagten die technische Stundung hinsichtlich der betreffenden Umsatzsteuerzahlungen der Klägerin gewährt worden.

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Im Ergebnis seien die Zinsbescheide bereits deshalb rechtswidrig, weil die Festsetzung der Zinsen nicht mehr von dem Gesetzeszweck des § 233a AO gedeckt sei. Dieser Vorschrift liege der Gesetzeszweck zu Grunde, einen Liquiditätsvorteil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige durch eine spätere Festsetzung der Steuer erziele. Die Klägerin habe aber einen derartigen Liquiditätsvorteil nicht erzielt, denn sie habe in den ursprünglichen Rechnungen über die Maschinenlieferungen keinerlei Umsatzsteuer ausgewiesen und diese somit auch nicht als Teil des Kaufpreises vereinnahmt. Vielmehr habe sie selbst erst durch korrigierte Rechnungen gegenüber den Händlern die Umsatzsteuer als Teil des zivilrechtlichen Kaufpreises nachträglich vereinnahmt und auch an das Finanzamt entrichtet. Zwar genüge es nach dem Gesetzeszweck des § 233 Abs. 1 AO, dass der Steuerpflichtige keinen tatsächlichen, sondern nur einen möglichen Zinsvorteil durch die spätere Festsetzung innehabe. Die Klägerin habe aber auch keine solche abstrakte Möglichkeit gehabt, einen Liquiditätsvorteil zu erzielen. Denn die ursprünglichen Rechnungen enthielten ausschließlich den mit den Händlern vereinnahmten Nettokaufpreis für die jeweilige Maschine. Weiteres Geld habe die Klägerin nicht erhalten. Vor der Rechnungskorrektur habe für die Klägerin mithin keine Möglichkeit bestanden, weiteres Geld von den Händlern mit der Begründung einzufordern, diese hätten noch Umsatzsteuer als Teil des zivilrechtlichen Bruttokaufpreises zu zahlen. Die jeweiligen Händler hätten dies, wie jeder andere Unternehmer, davon abhängig gemacht, zuvor korrigierte Rechnungen zu erhalten, in denen die Umsatzsteuer ausgewiesen sei. Sowohl die Klägerin als auch die Händler seien übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Maschinenlieferungen umsatzsteuerfrei seien. Da im Ergebnis der Zweck des § 233a AO darin bestehe, Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, sei die Vorschrift im Wege der teleologischen Reduktion dahingehend auszulegen, dass Zinsen nur dann festzusetzen seien, wenn ein solcher Liquiditätsvorteil auf Seiten des Steuerpflichtigen bestanden habe oder möglich sei. Da beides im Falle der Klägerin nicht gegeben sei, seien die angefochtenen Zinsbescheide rechtswidrig. Dies ergebe sich auch bereits aus dem Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, der bei einer dem Gesetzeszweck widersprechenden Festsetzung von Zinsen verletzt sei.

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Bei der Verzinsung von Umsatzsteuer gemäß § 233a AO liege zudem ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der für den fraglichen Zeitraum maßgeblichen 6. EG-Richtlinie vor. Denn zum einen stellten die Zinsen auf die Umsatzsteuer eine gemäß diesen Vorschriften nicht zulässige Zusatzsteuer dar. Zum anderen verstoße die Verzinsung auch gegen die von der 6. EG-Richtlinie vorgegebene Belastungsneutralität auf Ebene des Unternehmers. Obwohl die Klägerin die Umsatzsteuer erst im Jahr 2010 in Rechnung gestellt und sogleich abgeführt habe und obwohl der Händler den Vorsteuerabzug bei früherer Rechnungsstellung auch zu einem früheren Zeitpunkt hätte vollumfänglich geltend machen können, würden Zinsen auf die Umsatzsteuer erhoben. Diesen Zinsen ständen keine auf die Vorsteuer entfallenden Zinsen in entsprechender Höhe gegenüber. Aufgrund des Anwendungsvorranges des EG-Rechtes als höherrangigem Recht sei daher vorliegend § 233a AO nicht anzuwenden. Denn bei einem Verstoß einer nationalen Vorschrift gegen EG-Recht bestehe, anders als bei der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift, keine alleinige Prüfung und Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr hätten die nationalen Behörden und Gerichte die EG-Rechtswidrigkeit der nationalen Vorschrift selbst durch Nichtanwendung der dem EG-Recht entgegenstehenden nationalen Vorschrift zu beseitigen.

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Hinzu komme, dass die Zinsfestsetzung in dem konkreten Einzelfall der Klägerin gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich sowohl aus der 6. EG-Richtlinie als auch aus den Artikeln 1 Abs. 3 sowie Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) ergebe, verstoße. Auch aus diesem Grund sei die Zinsfestsetzung ersatzlos aufzuheben. Denn die Festsetzung der Zinsen gegenüber der Klägerin genüge bereits deshalb nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil sie schon nicht geeignet sei, Ziel und Zweck der nationalen Vorschrift zu erreichen. Der Sinn und Zweck des § 233a AO bestehe darin, einen tatsächlichen oder möglichen Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen abzuschöpfen. Da ein derartiger Vorteil aber auf Seiten der Klägerin nicht bestanden habe, könne der Zweck der Vorschrift durch die Festsetzung von Zinsen nicht erreicht werden. Die Festsetzung sei aber auch deshalb nicht verhältnismäßig, da sie nicht angemessen sei. Denn die Anwendung der Nichterfüllung einer Verpflichtung, hier die unterstellt nicht rechtzeitige Erklärung und Abführung der Umsatzsteuer aus den Maschinenlieferungen, müsse in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes stehen. Dieses sei bei der Festsetzung der Zinsen gegenüber der Klägerin nicht beachtet worden. Es sei zu berücksichtigen, dass auf dem Gebiet der Umsatzsteuer der liefernde Unternehmer letztlich als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates tätig sei. Er schulde die Umsatzsteuer, obwohl diese als indirekte Steuer vom Endverbraucher zu tragen sei. Dem sei durch Verteilung des Risikos eines Steuerausfalls Rechnung zu tragen, wobei die Risikoverteilung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müsse. Der Umstand, dass der liefernde Unternehmer gutgläubig sei und dass er alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, seien daher gewichtige Kriterien im Rahmen der Feststellung, ob der leistende Unternehmer nachträglich von der Finanzverwaltung herangezogen werden könne.

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Vorliegend sei eine Bösgläubigkeit der Klägerin nicht anzunehmen. Dies ergebe sich daraus, dass die Rechtslage bezüglich der Umsatzsteuerpflichtigkeit der Maschinenlieferungen im Rahmen des Reihengeschäftes nicht eindeutig gewesen sei. Wie sich bereits aus dem Betriebsprüfungsbericht ergebe, erbringe die Klägerin verschiedenste Geschäfte über ausländische Händler, deren umsatzsteuerliche Beurteilung aufgrund diverser Besonderheiten, wie z.B. Ver- oder Bearbeitung der Ware, Zwischenlagerung der Ware, Einschaltung von Finanzierung, Leasinggesellschaften, gebrochene Lieferungen, schwierig sei. Oftmals werden Lieferungen an ausländische Händler erbracht, bei denen der Spediteur durch den jeweiligen Händler oder die Klägerin beauftragt werde. In einer Vielzahl von Fällen sei daher eine Ausfuhr bzw. eine innergemeinschaftliche Lieferung und somit eine Umsatzsteuerbefreiung für die Klägerin tatsächlich gegeben. Dagegen sei in einigen Fällen die Rechtslage hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Beurteilung aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung der Geschäftsvorfälle nicht eindeutig. In dem Reihengeschäft mit der C und der D sei die Klägerin zunächst davon ausgegangen, dass wie üblich der Händler, d.h. die C den Spediteur beauftrage. Aufgrund besserer Lieferbedingungen habe aber letztlich der Kunde, d.h. die D, den Spediteur beauftragt, ohne dass die Klägerin hierüber Kenntnis erlangt habe. Die Klägerin sei auch davon ausgegangen, dass die Beauftragung des Spediteurs und damit die Zuordnung der bewegten Lieferung in dieser Fallkonstellation nicht von ausschlaggebender Bedeutung sei, da die Ware zunächst im Hafen von Y zwischengelagert worden sei und damit eine gebrochene Lieferung vorliege. Wie aus dem Betriebsprüfungsbericht hervorgehe, sei in dem Reihengeschäft mit der C in einer Vielzahl von Fällen die Steuerbefreiung auch tatsächlich zu gewähren. Dieses gelte sowohl in der Leistungsbeziehung mit dem Endkunden E als auch mit der D, da die Klägerin selbst den Spediteur mit dem Transport der Ware beauftragt und die erforderlichen Buch und Belegnachweise erbracht habe. Ähnlich komplex sowohl hinsichtlich des Sachverhaltes als auch hinsichtlich der Rechtslage seien die betreffenden Reihengeschäfte mit der F und dem X Händler G, die von der Klägerin trotz der erforderlichen Sorgfalt nicht als Reihengeschäfte erkannt worden seien. In der Regel habe die Klägerin aber eine korrekte Beurteilung der Geschäftsvorfälle vorgenommen und zudem auch aufgrund der verschiedenen Fallvarianten Vorsorge getragen, die Vielzahl von Reihengeschäften durch abteilungsübergreifenden Abstimmungen und Rücksprachen umsatzsteuerlich korrekt darzustellen. Dass sich dennoch manche der rechtlichen Beurteilungen als unzutreffend herausgestellt hätten, sei damit unter dem Maßstab der im Geschäftsverkehr anzulegenden erforderlichen Sorgfalt aufgrund der dargelegten bestätigten Schwierigkeiten und der Komplexität der Sach- und Rechtslage nicht vorwerfbar. Zudem habe die Klägerin insbesondere dafür Sorge getragen, dass die für steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen bzw. für Ausfuhrlieferungen erforderlichen Buch und Belegnachweise in W vorgelegen hätten.

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Die Klägerin selbst habe auch zu keinem Zeitpunkt das Umsatzsteueraufkommen gefährdet, da sie für den streitbefangenen Zeitraum ausschließlich Rechnungen ohne Umsatzsteuerausweis ausgestellt habe. Dem Umstand, dass die Klägerin keinerlei Umsatzsteuer abgeführt habe, stehe somit gegenüber, dass die betreffenden Händler als Leistungsempfänger auch keinerlei Vorsteuer geltend machen konnten, da sie über keine entsprechenden Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis verfügt hätten. Es fehle daher für die Anwendung des § 233a AO nicht nur am Liquiditätsvorteil der Klägerin. Es liege vielmehr auch keinerlei Gefährdung des Steueraufkommens und kein Zinsschaden des Fiskus vor. Es werde auch darauf hingewiesen, dass in dem vom EuGH entschiedenen Fall der H (EuGH vom 21. Februar 2008 C-271/06) die Nichterhebung der Umsatzsteuer in Betracht gekommen sei, obwohl anders als im Falle der Klägerin, dem Fiskus ein finanzieller Nachteil wegen vollen Ausfalls der Umsatzsteuer entstanden sei. Demgemäß gebiete es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Falle der Klägerin erst recht, Zinsen nicht festzusetzen. Denn zum einen handele es sich nicht um die Umsatzsteuer selbst, sondern „nur“ um Nebenleistungen. Zum anderen sei die Umsatzsteuer gar nicht ausgefallen, sondern sei vollumfänglich entrichtet worden.

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Im Ergebnis ergebe sich aus dem Umstand, dass der Gesetzeszweck des § 233a AO durch die Zinsfestsetzung nicht erreicht werden könne, keinerlei Gefährdung des Steueraufkommens bestanden habe, der Fiskus keinen Zinsnachteil erlitten habe und zudem die Klägerin gutgläubig gewesen sei, dass die angefochtene Zinsfestsetzungen nicht verhältnismäßig und daher aufzuheben seien. Es sei darüber hinaus zu beachten, dass, wie der BFH mit Urteil vom 30. Juli 2008 (V R 7/03) entschieden habe, die Umsatzsteuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht versagt werden dürfe, wenn der liefernde Unternehmer bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes nicht habe erkennen können, dass die Voraussetzungen für die Umsatzsteuerfreiheit nicht vorliegen. Wenn dieses aber sogar für die Umsatzsteuer selbst gelte, dann müsse es erst recht für Zinsen gelten, die nur eine Nebenleistung zur Umsatzsteuer darstellen.

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Mit der Einspruchsbegründung vom 16. Juni 2010 beantragte die Klägerin ebenfalls „unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen hilfsweise den Erlass der streitbefangenen Zinsen aus Billigkeitsgründen gem. § 227 AO. Sie führte aus, dass aus den dargestellten Gründen ein vollständiger Erlass gerechtfertigt und das Ermessen der Behörde auf Null reduziert sei. Der Erlass sei sogleich mit dem Festsetzungsverfahren zu verbinden.

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Der Beklagte wies die Einsprüche gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2004 bis 2007 mit Einspruchsentscheidung vom 22. Juli 2010 als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Klägerin keine Klage erhoben.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011, einem Mittwoch, wies der Beklagte auch die Einsprüche gegen die Bescheide über die Festsetzung von Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 als unbegründet zurück. Er führte aus, dass eine Steuernachforderung gemäß § 233a Abs. 1 AO zu verzinsen sei. Die Verzinsung solle einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern trotz gleichen gesetzlichen Entstehungszeitpunktes, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und erhoben werden. Die Verzinsung sei gesetzlich vorgeschrieben und stehe nicht im Ermessen der Finanzbehörde. Sie soll mögliche Zinsvorteile des Schuldners bzw. Zinsnachteile des Gläubigers ausgleichen, ohne dass es auf eine konkrete Berechnung der tatsächlich eingetretenen Zinsvor- und Nachteile ankomme. Sinn und Zweck sei nicht nur die Abschöpfung von Liquiditätsvorteile auf Seiten des Steuerpflichtigen. Die Verzinsung solle auch Liquiditätsnachteile auf Seiten des Steuergläubigers ausgleichen. Dieses gelte auch für die Fälle, in denen dem Steuerpflichtigen tatsächlich keine Zinsvorteile erwachsen seien.

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Er führte in der Einspruchsentscheidung hinsichtlich der Zinsfestsetzung aus, dass auch eine abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO nicht erfolgen könne, auch wenn sie mit der Entscheidung über die Steuerfestsetzung gemäß § 163 S. 3 AO verbunden werden könne. Zwar finde die Vorschrift nach § 239 Abs. 1 S. 1 AO auch für Zinsen Anwendung, jedoch seien keine sachlichen Billigkeitsgründe gegeben, die eine abweichende Festsetzung rechtfertigen würden. So widerspreche die Zinsfestsetzung insbesondere nicht dem Gesetzeszweck des § 233a AO. Auch sei es zur Annahme eines Liquiditätsvorteils insbesondere nicht notwendig, dass die Klägerin tatsächlich Umsatzsteuer vereinnahmt habe, die sie dem Finanzamt hätte vorenthalten können. Entscheidend sei, dass die Steuer auf Lieferungen und sonstige Leistungen mit Ablauf des Voranmeldungszeitraumes entstanden sei, in dem die Lieferung oder Leistung ausgeführt wurde. Der Zinslauf habe damit gemäß § 233a Abs. 2 S. 1 AO 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist begonnen und habe erst mit Bekanntgabe der geänderten Steuerfestsetzung am 29 April 2010 geendet. Auch ein Verstoß gegen die sechste EG-Richtlinie liege nicht vor. Der vorliegende Sachverhalt sei insoweit nicht mit den von der Klägerin genannten Fällen vergleichbar. Auch dort sei noch zu prüfen, ob die dortige Klägerin, die H alles nur Erdenkliche getan habe, wenn letztlich auch erfolglos, um einen Umsatzsteuerbetrug auszuschließen. Dieses sei jedenfalls vorliegend nicht erkennbar, denn die Klägerin habe die zutreffende umsatzsteuerliche Einordnung der Reihengeschäfte erkennen können. Es sei zwar unbestritten, dass es sich bei Reihengeschäften um umsatzsteuerlich komplizierte Sachverhalte handele. Es sei aber keineswegs so, dass die Rechtslage unklar war oder sei. Nach Kenntnis des gesamten Sachverhaltes sei durchaus zu bestimmen, welche Lieferung im Reihengeschäft die ruhende und welche die bewegte und damit steuerfreie Lieferung sei. Die Ausführungen der Klägerin, dass die zuständigen Mitarbeiter im Vertrieb und in der Finanzbuchhaltung nicht davon ausgingen, dass die Beauftragung des Spediteurs durch den Kunden keine Auswirkung auf die umsatzsteuerliche Beurteilung haben könne, entschuldige die unrichtige Behandlung der Umsätze nicht. Gerade weil gemäß den Ausführungen der Klägerin regelmäßige Schulungen durchgeführt worden seien, hätten die Mitarbeiter bei der Beurteilung der veränderten Lieferkette sensibler sein müssen. Dem Betriebsprüfer sei es nach Kenntnis des gesamten Sachverhaltes ohne weiteres möglich gewesen, die betreffenden Geschäftsvorfälle zu erkennen und zu bewerten. Dieses wäre für die Klägerin gegebenenfalls unter Einschaltung eines Steuerberaters auch möglich gewesen. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, nach Kenntnis von der Beauftragung des Spediteurs durch den Kunden die Umsätze richtig zu beurteilen und dann die entsprechenden Umsatzsteuervoranmeldungen zu berichtigen und entsprechend berichtigte Ausgangsrechnungen auszustellen. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liege ebenfalls nicht vor. Ein solcher Verstoß werde ohnehin von der Klägerin lediglich behauptet. Insbesondere in den Besprechungen zur Abwicklung der entstandenen Umsatzsteuerzahllast am Ende der Betriebsprüfung sei keine Zusage erteilt worden, dass die Zinsen nicht erhoben oder erlassen werden würden. Die Begründung der Einspruchsentscheidung endete mit dem Satz, dass über den Antrag auf Erlass der streitbefangenen Zinsen nach § 227 AO in einem gesonderten Verfahren entschieden werde.

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Die hiergegen gerichtete Klage, die sich nicht auch gegen die Ablehnung der abweichenden Festsetzung aus Billigkeitsgründen gem. § 163 AO in der Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011 richtete, hat der Senat mit Urteil vom 2. November 2016 (3 K 1042/11) abgewiesen. Die Klägerin hatte in dem dortigen Klageverfahren in der Klagebegründung im Rahmen der Darstellung des Sachverhaltes ausgeführt, dass der Beklagte "in der Einspruchs- und Erlassentscheidung vom 3. August 2011" sowohl die Einsprüche gegen die Zinsfestsetzung als auch den Antrag auf Erlass der Zinsen zurückgewiesen habe. In der mündlichen Verhandlung am 2. November 2016 hat die Klägerin ausdrücklich klargestellt, dass sich die Klage ausschließlich gegen die Zinsfestsetzung richten solle. Die im Urteil zugelassene Revision wurde nicht eingelegt.

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Den von der Klägerin mit der Einspruchsbegründung am 16. Juni 2010 hilfsweise gestellten Erlassantrag gem. § 227 AO lehnte der Beklagte mit Bescheid vom  24. August 2011 ab. Er führte zur Begründung aus, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen gesetzlich vorgeschrieben sei und einen Ausgleich dafür schaffen solle, dass die Steuern trotz gleichen gesetzlichen Entstehungszeitpunktes, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und erhoben werden. Die Festsetzung liege nicht im Ermessen des Finanzamtes. § 163 AO behandele die Berücksichtigung von Billigkeitsmaßnahmen im Festsetzungsverfahren, während die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen im Erhebungsverfahren von § 227 AO geregelt werde. Hiernach komme ein Erlass der Zinsen dann in Betracht, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Eine Unbilligkeit könne in der Sache selbst oder in der Person des Steuerpflichtigen, insbesondere in dessen wirtschaftlicher Lage begründet sein. Ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen sei gerechtfertigt, wenn die Einziehung des Anspruches die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernsthaft gefährden würde. Derartiges lasse sich bei der Klägerin nicht erkennen. Ihr würden regelmäßig laufend angemeldete Umsatzsteuern erstattet werden, so auch letztmalig am 19. August 2011 für den Monat Juli 2011 i.H.v. x €. Eine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz sei nicht erkennbar.

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Es sei daher nur zu prüfen, ob sachliche Erlassgründe vorliegen würden. Dieses würde voraussetzen, dass die Einziehung der Zinsen im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den mit der Erhebung vom Gesetz beabsichtigten Zweck, nicht mehr zu rechtfertigen sei, weil ihre Erhebung den Wertungen des Gesetzes zuwiderlaufe. Durch einen Billigkeitserlass solle einem ungewollten Überhang gesetzlicher Tatbestände entgegengewirkt werden. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes bewusst in Kauf genommen habe, rechtfertigten hingegen keine sachliche Billigkeitsmaßnahme. Allein der Umstand, dass der Steuerpflichtige auf den Zeitpunkt der Steuerfestsetzung keinen Einfluss gehabt habe oder dass eine Verzögerung der Steuerfestsetzung vom Finanzamt zu vertreten sei, reiche nicht aus. Denn die Verzinsung sollen mögliche Zinsvorteile des Schuldners bzw. Zinsnachteile des Gläubigers ausgleichen, ohne dass es auf eine konkrete Berechnung der tatsächlich eingetretenen Vor- und Nachteile ankomme. Sinn und Zweck der Verzinsung sei nicht nur die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen auf Seiten des Steuerpflichtigen. Die Verzinsung solle auch Liquiditätsnachteile auf Seiten des Gläubigers ausgleichen. Damit sei die Zinsfestsetzung auch dann vorzunehmen, wenn das Finanzamt die späte Steuerfestsetzung und die damit zusammenhängende Zinsfestsetzung zu vertreten habe. Hierdurch scheide ein Erlass mit dem Argument der späten Steuerfestsetzung aus. Dieses gelte auch für den vorliegenden Fall, in dem der Klägerin kein Zinsvorteil erwachsen sei. Im Ergebnis seien die Argumente und Einwendungen in der Antragsbegründung vom 16. Juni 2010 nicht geeignet, einen Erlass nach § 227 AO zu begründen.

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Hiergegen, d.h. gegen den Bescheid über die Ablehnung des Erlassantrages vom 24. August 2011, legte die Klägerin mit Schreiben vom 8. September 2011 Einspruch ein. Sie führte aus, dass eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben sei, wonach nur der vollständige Erlass der Zinsen rechtmäßig sei. Der Gesetzeszweck der Verzinsung des § 233a AO bestehe in der Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen. Ein Erlass von Nachzahlungszinsen sei immer dann gerechtfertigt, wenn zweifelsfrei feststehe, dass der Steuerpflichtige durch die spätere Festsetzung keinen Vorteil erlangt hat, der durch die Festsetzung der Zinsen ausgeglichen werden könnte. Dieses sei vorliegend der Fall. Die Klägerin hätte keinerlei Zinsvorteil erlangt. In den ursprünglichen Rechnungen über die Maschinenlieferungen sei keine Umsatzsteuer ausgewiesen worden und diese daher auch nicht als Teil des Kaufpreises vereinnahmt worden. Die Umsatzsteuer sei erst durch die nachträglich erstellten korrigierten Rechnungen als Teil des zivilrechtlichen Kaufpreises nachträglich vereinnahmt worden und dann auch sofort an das Finanzamt entrichtet worden. Ein Zinsnachteil des Fiskus sei ebenfalls nicht gegeben, denn die Händler als Leistungsempfänger hätten in dem genannten Zeitraum keinerlei Vorsteuer geltend machen können, da sie nicht über entsprechende Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis verfügt hätten. Der Erlass sei auch deshalb gerechtfertigt, da der Klägerin nicht allein und vollständig das Risiko einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Maschinenlieferungen als umsatzsteuerfreie Lieferungen aufgebürdet werden dürfe. Dieses ergebe sich aus der Entscheidung des EuGH in der Sache "H" vom 21. Februar 2008 (C-271/06) und der Nachfolgeentscheidung des BFH vom 30. April 2009 (V R 15/07, BStBl. II 2009, 744). Zwar betreffen diese Entscheidungen den Erlass der Umsatzsteuer selbst. Wenn aber die entsprechenden Grundsätze bereits für die Umsatzsteuer selbst gelten, so gelten sie erst recht für die Zinsen als Nebenleistungen zur Umsatzsteuer.

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Die Einspruchsentscheidung, mit der der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen wurde, datiert auf den 8. Dezember 2011. Der Beklagte führte über die bereits in der Ablehnung des Erlasses getätigten Ausführungen hinaus aus, dass Sinn und Zweck der Verzinsung nicht nur die Abschöpfung von Liquiditätsvorteil auf Seiten des Steuerpflichtigen sei, sondern die Verzinsung auch Liquiditätsnachteile auf Seiten des Steuergläubigers ausgleichen solle. Entgegen der Argumentation der Klägerin ein Liquiditätsvorteil entstanden. Der Vorteil bestände in Höhe der jeweiligen Jahresumsatzsteuer, die auf die in den Jahren 2004 bis 2007 ausgeführten Umsätze entfielen. Zur Annahme eines Liquiditätsvorteils sei es auch nicht erforderlich, dass der Steuerpflichtige auch tatsächlich Umsatzsteuer vereinnahmt habe. Auch seien die Entstehungsvoraussetzungen für die Steuer des Leistenden und den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nicht deckungsgleich. Die Umsatzsteuer des Leistenden entstehe unabhängig von einer Rechnungserteilung. Der Anspruch auf Vorsteuerabzug hänge aber von der Ausgabe der Rechnung und weiteren Voraussetzungen ab. Die Verzinsung nachträglich festgesetzter Umsatzsteuer sei also nicht sachlich unbillig, wenn sich per Saldo ein Ausgleich der Steuerforderung mit den vom Leistungsempfänger abgezogenen Vorsteuerbeträgen ergebe. Der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes die unterschiedlichen Entstehungszeitpunkte von Umsatzsteuer und Vorsteuer bewusst in Kauf genommen. Vorliegend seien keine sachlichen Gründe für einen Billigkeitserlass gegeben, da die von der Klägerin geltend gemachten Umstände den der Verzinsungsregelung des § 233a AO zu Grunde liegenden Wertungen nicht widersprechen. Der Einspruch sei daher nach pflichtgemäßem Ermessen zurückzuweisen.

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Die hiergegen gerichtete Klage ist bei Gericht am 23. Dezember 2011 eingegangen.

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Zur Begründung ihrer Klage führt die Klägerin über ihren Vortrag im Einspruchsverfahren hinaus zunächst hinsichtlich des Sachverhaltes aus, dass der Beklagte in seiner Einspruchs- und Erlassentscheidung vom 3. August 2011 die Einsprüche gegen die Zinsfestsetzung sowie den Antrag auf Erlass der Zinsen zurückgewiesen habe.

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Die Abgrenzung zwischen umsatzsteuerpflichtigen lokalen und umsatzsteuerfreien innergemeinschaftlichen und Ausfuhrlieferungen sei schwierig gewesen und auch vom Betriebsprüfer mehrfach korrigiert worden. Wenn sich aber die umsatzsteuerliche Beurteilung insgesamt und nachweislich auch innerhalb einer Betriebsprüfung als schwierig darstelle und nicht ohne Aufwand treffen lasse, so sei dies in der komplexen Rechtslage begründet. Die streitigen Zinsen seien daher durch Umstände entstanden, die auch in der Risikosphäre des Fiskus liegen und, wie sowohl der EuGH und der BFH klargestellt hätten, von ihm mitzutragen seien. Mit diesen Grundsätzen der Risikoabwägung zwischen Lieferer und Staat im Steuerschuldverhältnis habe sich der Beklagte nicht einmal ansatzweise auseinandergesetzt, so dass bereits aus diesem Grund ein Ermessensfehlgebrauch vorliege. Die Abwälzung des Risikos einer unrichtigen Beurteilung sei insbesondere dann unverhältnismäßig, wenn der Gesetzeszweck der Abschöpfung eines Liquiditätsvorteils überhaupt nicht erreicht werden könne. Die festgesetzten Zinsen seien gemäß dem Gesetzeszweck des § 227 AO zu erlassen. Somit sei ein Erlass zu gewähren, wenn wie vorliegend kein Liquiditätsvorteil gegeben sei. Der Erlass sei zwingend, da ansonsten der Gesetzeszweck des § 233a AO missachtet und dadurch gegen das Übermaßverbot verstoßen werden würde.

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Selbst für den Fall, dass eine Ermessensreduzierung auf Null hinsichtlich des Erlassantrages nicht vorliegen sollte, so wäre der Beklagte hilfsweise zu verpflichten, erneut unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Antrag der Klägerin zu entscheiden. Die Begründung der Einspruchsentscheidung zeige, dass diese ermessensfehlerhaft sei. Dieses ergebe sich zum einen daraus, dass der Beklagte hinsichtlich der Ablehnung des Erlasses an führe, dass dem Fiskus ein Zinsnachteile entstanden sei. Auf einen solchen komme es aber nach der Gesetzesbegründung zu § 233a AO nicht an. Es liege ein Ermessensfehlgebrauch durch die Hinzuziehung nicht vorgesehener Kriterien vor.

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Zum anderen stütze der Beklagte seine Ermessensausübung auf einen von ihm angenommenen Zinsvorteil der Klägerin, der in Wirklichkeit aber nicht bestehe. Die Klägerin habe keine Umsatzsteuer vereinnahmt, die sie dem Beklagten dann erst zu einem späteren Zeitpunkt weitergereicht hätte. Sofern die Ermessenserwägungen des Beklagten dahingehend zu verstehen sein sollten, dass die Klägerin bereits im Jahr 2004 und in den Folgejahren die Umsatzsteuer habe abführen müssen, verkenne der Beklagte, dass dabei dann folgerichtig angenommen werden müsste, dass die Klägerin entsprechend die Umsatzsteuer auf das vereinnahmte Nettoentgelt von dem Leistungsempfänger sogleich als Teil des Kaufpreises mit eingefordert hätte. Die Frage, ob ein Steuerpflichtiger einen Zinsvorteil erlangt habe, könne aber nur dadurch beantwortet werden, indem geprüft werde, wie er stünde, wenn die Steuer sogleich abgeführt hätte. Die Klägerin hat vorliegend beispielsweise 100,00 € in Rechnung gestellt und von dem Leistungsempfänger vereinnahmt, da sie von einer umsatzsteuerfreien Leistung ausgegangen sei. Hätte die Klägerin die Umsatzsteuerpflicht sogleich erkannt, hätte sie die Steuer zwar früher abgeführt, hätte andererseits aber 100,00 € zzgl. 19,00 € Umsatzsteuer vereinnahmt, da die 100,00 € als Nettopreis vereinbart worden seien. Sie hätte also auch in diesem Fall 100,00 € für sich selbst zurückbehalten können und dürfen. Die Klägerin stehe daher sowohl in dem tatsächlichen Sachverhalt als auch in dem hypothetischen Kausalverlauf identisch dar und habe im Ergebnis keinen Zinsvorteil erhalten. Aufgrund dessen seien die Zinsen im Wege des Erlasses unter Ermessensreduzierung auf Null vollständig zu erlassen.

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Da sich der Beklagte mit zentralen Argumenten der Klägerin nicht auseinandergesetzt habe, liege auch ein Ermessensnichtgebrauch vor. In der Begründung der Einspruchsentscheidung werden schlicht dieselben Argumente vorgebracht, welche schon hinsichtlich der Festsetzung der Verzinsung genannt worden seien. Es sei daher davon auszugehen, dass eine rechtliche Würdigung der Argumente des Erlassantrages nicht stattgefunden habe. Im Unterschied zur Entscheidung über die Zinsfestsetzung handele es sich bei dem Erlass gemäß § 227 AO jedoch um eine Ermessensentscheidung mit der Prüfung der Billigkeit als zentralem Element. Fragen der Billigkeit einer Entscheidung könnten aber nicht damit abgetan werden, in dem das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm wiederholt werde.

31

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid über die Ablehnung des Erlasses vom 24. August 2011 sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 8. November 2011 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die mit Bescheiden vom 26. April 2010 festgesetzten Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004, 2005, 2006 und 2007 zu erlassen,
hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Er trägt vor, dass die Ablehnung des Erlassantrages rechtmäßig gewesen sein. Ein den Erlass rechtfertigender Umstand liege nicht vor. Die Besteuerung sei mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbar. Entgegen der Auffassung der Klägerin liege auch ein Liquiditätsvorteil vor. Ermessensfehler seien ebenso wenig gegeben wie eine Ermessensreduzierung auf Null.

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Die Finanzbehörde brauche bei einem Erlassantrag grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die vorausgegangene bestandskräftige Festsetzung der Steuer rechtmäßig sei oder nicht. Nur wenn die Finanzbehörde tatsächlich prüfe und zu Unrecht davon ausgehe, dass die Festsetzung rechtmäßig gewesen sei, liege bei der Ablehnung des Erlasses ein Ermessensfehler vor. Dies sei vorliegend nicht der Fall.

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Persönliche Billigkeitsgründe lägen nicht vor und seien von der Klägerin auch nicht vorgetragen worden.

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Auch sachliche Billigkeitsgründe seien nicht gegeben. Vorliegend verstoße die Festsetzung der Zinsen nicht gegen den Gesetzeszweck des § 233a AO. Rechtfertigung für die Entstehung der Zinsen nach § 233a AO sei nicht nur ein abstrakter Zinsvorteil des Steuerschuldners, sondern auch ein ebensolcher Nachteil des Steuergläubigers. Es komme nicht auf eine konkrete Berechnung der tatsächlich eingetretenen Zinsvorteile an. Zwar habe die Klägerin in ihren ursprünglichen Rechnungen keine Umsatzsteuer ausgewiesen. Dies bedeute aber nicht, dass diese somit nicht Teil des Kaufpreises gewesen sei. Die zu verzinsende Umsatzsteuer für steuerbare und steuerpflichtige Leistungen entstehe unabhängig davon, ob der leistende Unternehmer sie in einer Rechnung ausweise oder anmelde. Bei zu niedrigem Steuerausweis schulde der Unternehmer die gesetzlich vorgeschriebene Steuer. In diesem Fall sei die Steuer unter Zugrundelegung des maßgeblichen Steuersatzes aus dem Gesamtrechnungsbetrag herauszurechnen. Die Steuer sei bereits mit Ablauf des Voranmeldungszeitraumes entstanden, in dem die Leistungen ausgeführt worden seien. Im Rahmen der Betriebsprüfung sei die Umsatzsteuer aus den ursprünglichen Rechnung gestellten Beträgen herausgerechnet worden. Über diese Beträge habe die Klägerin bisher in der Gesamt für verfügt. Da in diesen Beträgen jedoch Umsatzsteuer enthalten sei, bestehe der Liquiditätsvorteil der Klägerin darin, dass Ihr die Beträge in Höhe der Umsatzsteuer für eine nicht unerhebliche Dauer zur Verfügung gestanden hätten, obwohl sie bereits damals an das Finanzamt abzuführen gewesen seien. Der Liquiditätsnachteil des Fiskus bestehe darin, dass die Abführung der Umsatzsteuer erst zu einem späteren Zeitpunkt als der Entstehung der Steuer erfolgt sei und er somit keine rechtzeitige Verfügungsmacht darüber erlangen konnte. Im Hinblick auf den nicht nur kurzzeitig bestehenden Liquiditätsvorteil sei die Zinsfestsetzung auch verhältnismäßig. Die Klägerin habe den Vorteil in Ihrem Unternehmen über mehrere Jahre zinsfrei nutzen können. Es sei in diesem Zusammenhang unbeachtlich, ob auch der Leistungsempfänger bereits im Rahmen des Voranmeldungsverfahrens eine entsprechende Vorsteuervergütung hätte erlangen können.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klage ist unzulässig.

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Die Klage ist auf Grund der bestandskräftigen Ablehnung des Erlassantrages gem. § 163 AO in der Einspruchsentscheidung hinsichtlich der Zinsfestsetzungen vom 3. August 2011 durch den Beklagten, die einer erneuten Sachprüfung eines Erlassantrages nach § 227 AO bzw. der Prüfung der Ermessenserwägungen des Beklagten in dem von § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vorgegebenen Umfang entgegensteht, unzulässig.

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a) Zu den allgemeinen Prozessvoraussetzungen eines jeden Klageverfahrens gehört das Fehlen von Prozesshindernissen, insbesondere das Fehlen des Prozesshindernisses der entgegenstehenden Rechtskraft (Vollkommer in Zöller, ZPO, 31. Aufl., Rdnr. 19 b vor § 253 ZPO sowie vor § 322 Rz. 19). Die entgegenstehende Rechtskraft stellt eine sog. negative Sachentscheidungsvoraussetzung dar. Sie verbietet nicht nur eine abweichende Entscheidung, sondern macht das neue Verfahren und eine Entscheidung darin schlicht unzulässig (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, vor § 40 FGO Rz. 23, § 110 FGO Rz. 37, Vollkommer in Zöller, ZPO, 31. Aufl. vor § 322 Rz. 19 m.w.N.). Die entgegenstehende Rechtskraft bezieht sich dabei nicht nur auf gerichtliche Entscheidungen, sondern allgemein darauf, dass über denselben Streitgegenstand nicht schon bestandskräftig entschieden sein darf (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 31. Oktober 1994 III 193/90, EFG 1995, 408). Der Streitgegenstand des Klageverfahrens und der Streitgegenstand der bereits in Rechtskraft bzw. Bestandskraft erwachsenen Entscheidung dürfen nicht identisch sein.

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b) Die Identität der Streitgegenstände wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Verfahren nach § 163 AO dem Steuerfestsetzungsverfahren und das Verfahren nach § 227 AO dem Steuererhebungsverfahren zugeordnet ist. Denn letztlich sind die Tatbestandsvoraussetzungen beider Vorschriften identisch. Wegen der verfahrensrechtlichen Trennung in ein Festsetzungs- und ein Erhebungsverfahren sind lediglich ihre Rechtsfolgen verschieden. § 163 AO führt zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung, während § 227 AO die Möglichkeit eröffnet, die festgesetzte Steuer im Erhebungsverfahren ganz oder teilweise zu erlassen (Oellerich in Beermann/Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 163 AO, Rn. 28 m.w.N.).

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Ist eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO von der Finanzbehörde (bestandskräftig) abgelehnt worden, kann der Steuerpflichtige nicht nochmals im Erhebungsverfahren einen gleichlautenden Antrag nach § 227 AO stellen (Rüsken in Klein, AO, 10. Aufl., § 163 AO Rz. 1 und § 227 AO Rz. 18; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO § 163 AO Rz. 21; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 163 AO Rz. 23; Oellerich in Beermann/Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 163 AO Rz. 30). Eine entsprechende Klage ist wegen der Identität des Streitgegenstandes unzulässig, sofern der Sachverhalt, der eine Unbilligkeit begründen soll, im Erhebungsverfahren derselbe ist wie im Festsetzungsverfahren (FG Hamburg Urteil vom 31.Oktober 1994, III 193/90, EFG 1995, 408, Nichtzulassungsbeschwerde durch BFH-Beschluss vom 8. November 1995, IX B 4/95, als unzulässig verworfen; FG München Urteil vom 17. Januar 2006, 6 K 2292/04, juris; Sächsisches Finanzgericht Urteil vom. 20. Februar 2008, 2 K 2024/07, juris; FG Hamburg Urteil vom 18. Februar 2014, 3 K 257/13, EFG 2014, 485; vgl. auch FG Köln Urteil vom 11. November 2009, 9 K 2926/09, Nichtzulassungsbeschwerde durch BFH-Beschluss vom 31. Mai 2010, II B 188/09 als unbegründet zurückgewiesen).

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c) Der Beklagte hat vorliegend den von der Klägerin in der Einspruchsbegründung vom 16. Juni 2010 gestellten Erlassantrag sowohl als Antrag nach § 163 AO als auch als Antrag nach § 227 AO gewürdigt. Während er den Antrag nach § 163 AO in der Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011 abgelehnt hat, hat er den Antrag nach § 227 AO mit Bescheid vom 24. August 2011 abgelehnt. Der Einspruch vom 8. September 2011 bezog sich nach dem Wortlaut ausschließlich gegen den Ablehnungsbescheid vom 24. August 2011.

43

Auch wenn die Ablehnung des Erlasses gemäß § 163 AO lediglich in der Begründung der Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011 erfolgt ist, so handelt es sich dennoch diesbezüglich um einen Verwaltungsakt mit Regelungswirkung, wenn auch mit falscher Rechtsbehelfsbelehrung. So hat auch die Klägerin die Ablehnung verstanden, denn sie hat sowohl in ihrer Klagebegründung in diesem Verfahren als auch in der Klagebegründung im Parallelverfahren (Az. 3 K 1042/11) in der Darstellung des Sachverhaltes ausgeführt, dass der Beklagte „in seiner Einspruchs- und Erlassentscheidung“ vom 3. August 2011 die Einsprüche gegen die Zinsfestsetzung sowie den Antrag auf Erlass der Zinsen zurückgewiesen habe. Auch aus Empfängersicht liegt daher in der Ablehnung des Erlasses nach § 163 AO im Rahmen der Einspruchsentscheidung ein gesonderter Verwaltungsakt vor. Gegen diesen hat die Klägerin auch nicht etwa im Parallelverfahren 3 K 1042/11 Sprungklage erhoben, denn unabhängig davon, dass die dortige Klageschrift hierzu keinen Auslegungsspielraum lässt, hat die Klägerin auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 2. November 2016 auf Nachfrage ausdrücklich erklärt, dass sich die dortige Klage ausschließlich gegen die Zinsfestsetzungen zur Umsatzsteuer 2004 bis 2007 richte. Entsprechend wurde auch der Klageantrag gestellt. Im Ergebnis ist die Ablehnung des Erlassantrages gemäß § 163 AO vom 3. August 2011 bestandskräftig, da die auf Grund der unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung laufende Jahresfrist (§ 356 Abs. 2 AO) für den Einspruch verstrichen ist.

44

Eine Identität des Streitgegenstandes des vorliegenden Verfahrens zum bestandkräftig abgelehnten Erlass nach § 163 AO ist gegeben, denn die Klägerin stützt beide Anträge nach § 163 AO sowie nach § 227 AO (die auch im gleichen Schriftsatz vom 16. Juni 2010 gestellt wurden) auf denselben Sachverhalt und begründet beide mit den gleichen Argumenten, insbesondere dem entgegenstehenden Zweck der Regelung des § 233a AO und der nicht erzielten Liquiditätsvorteile. Neue tatsächliche Umstände oder ggf. neu entstandene persönliche Billigkeitsgründe sind von der Klägerin bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung nicht vorgetragen worden.

45

Der Umstand, dass sich der Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 8. Dezember 2011 dennoch in der Sache mit dem begehrten Erlass nach § 227 AO befasst hat, steht dem nicht entgegen, zumal zu diesem Zeitpunkt die einjährige  Rechtsbehelfsfrist  gegen den Ablehnungsbescheid gem. § 163 AO vom 3. August 2011 noch nicht abgelaufen war und daher zu diesem Zeitpunkt noch keine entgegenstehende Bestandskraft angenommen werden konnte.

46

d) Die vorstehenden Ausführungen gelten gleichermaßen auch für den Hilfsantrag.

47

2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.


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