Urteil vom Finanzgericht Hamburg (6. Senat) - 6 K 144/16

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Kindergeldfestsetzung für die beiden Kinder des Klägers A, geboren am ..., und B, geboren am ....

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Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er lebt seit April 1987 in Deutschland. Die Ehefrau des Klägers, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, lebte vom 13.06.1996 bis Anfang des Jahres 2007 beim Kläger in Deutschland. Die Eheleute haben am ... 1996 geheiratet. Die Ehefrau zog mit den beiden Söhnen Anfang 2007 zu ihren Eltern nach Polen. Seit Ende 2007 lebt sie mit den beiden Kindern in einer eigenen Wohnung in Polen. Der Kläger war seit dem Auszug seiner Ehefrau aus der gemeinsamen Wohnung lediglich besuchsweise in Polen. Ein gemeinsamer Haushalt zwischen den Eheleuten besteht nicht mehr - die Eheleute leben getrennt.

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Der Kläger ist seit 01.06.2005 bei einem Ingenieurbüro in Deutschland beschäftigt. Er zahlt nach einem Urteil des Amtsgerichts Hamburg-1 vom ... 2010 für seine beiden Söhne einen monatlichen Unterhalt von je 271,00 Euro.

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Mit Bescheid vom 21.02.2012 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für A und B ab März 2012 auf mit der Begründung, dass die Kindesmutter vorrangig berechtigte sei (§ 63 Abs. 1 Satz 4 Einkommensteuergesetz - EStG - i. V. m. § 2 Abs. 4 Satz 2 Bundeskindergeldgesetz).

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Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 02.03.2012, eingegangen bei der Beklagten am 20.03.2012, Einspruch ein. Zur Begründung führte er aus, die Kindesmutter habe keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen, da bei ihrem Einkommen die Einkommensgrenze überschritten sei.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 31.07.2012 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Sie führte dabei aus, da der Kläger nicht mit seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt lebe, sei die Kindesmutter vorrangig berechtigt. Deshalb habe der Kläger keinen Anspruch auf Kindergeldfestsetzung.

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Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 18.08.2012, beim Finanzgericht eingegangen am 03.09.2012, Klage mit dem Ziel der Aufhebung des Aufhebungsbescheides. Zur Begründung wies der Kläger darauf hin, dass die Kindesmutter keine polnischen Familienleistungen erhalten würde, da bei ihrem Einkommen die Einkommensgrenze überschritten würde.

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Der Kläger beantragt,
den Aufhebungsbescheid vom 21.02.2012 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 31.07.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger weiterhin das Kindergeld für seine beiden Kinder, A und B, in voller Höhe zu bewilligen.

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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom 31.07.2012.

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Das Verfahren wurde zunächst unter den Aktenzeichen 6 K 192/12 bzw. 6 K 16/14 geführt und ruhte anschließend wegen des anhängigen Verfahrens beim Europäischen Gerichtshof - EuGH - in der Rechtssache C-378/14 und anschließend wegen anhängiger Verfahren beim Bundesfinanzhof - BFH - (III 1221/12, III R 4/12, III R 42/12, III R 73/11, V R 46/11, V R 26/12, V R 49/11, V R 40/13, VI R 73/11, XI R 23/12 und III R 17/13). Nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs zum Aktenzeichen III R 17/13 vom 04.02.2016 wurde das Verfahren wieder aufgenommen und unter dem neuen Aktenzeichen 6 K 144/16 fortgeführt.

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Mit Schreiben vom 29.08.2016/17.10.2016 teilten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung mit. Mit Beschluss des Finanzgerichts Hamburg vom 13.09.2016 wurde der Rechtsstreit der Einzelrichterin übertragen.

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Dem Gericht lag die Kindergeldakte mit der Nummer ... vor.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung - FGO).

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Die Klage ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

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I. Die Beklagte hat zu Recht die Kindergeldfestsetzung aufgehoben und abgelehnt, das beantragte Kindergeld zu Gunsten des Klägers weiterhin festzusetzen.

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Zwar erfüllt der Kläger im Hinblick auf seine beiden Kinder unstreitig die Voraussetzungen gemäß § 62 EStG, denn der Kläger hat seinen Wohnsitz im Inland. Auch ist es für die Berechtigung gemäß §§ 62, 63 EStG nicht erforderlich, dass auch die Kinder ihren Wohnsitz im Inland haben. Allerdings steht das Kindergeld nicht dem Kläger sondern seiner getrennt lebenden Ehefrau zu. Zwar erfüllt diese grundsätzlich nicht die Voraussetzungen des § 62 EStG, denn sie lebt mit ihren Kindern in Polen und hat weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Dennoch ist die Kindesmutter vorrangig anspruchsberechtigt. Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen/derjenigen gezahlt der/die das Kind/die Kinder in seinen/ihren Haushalt aufgenommen hat. Die Vorschrift ist hier anzuwenden, denn gemäß Artikel 60 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 987/2009 ist die mit den Kindern im EU-Ausland lebende Kindesmutter so zu stellen, als ob sie zusammen mit ihren Kindern in einem eigenen Haushalt im Inland leben würde (vergleiche BFH, Urteil vom 04.02.2016, III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl. II 2016, 612).

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Es handelt sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt mit Unionsbezug, der zur Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 sowie der dazu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 führt. Der Kläger fällt als deutscher Staatsbürger gemäß Artikel 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in deren persönlichen Anwendungsbereich. Ebenso ist der sachliche Anwendungsbereich eröffnet; das Kindergeld ist eine Familienleistung im Sinne von Artikel 1 Buchst. z, Artikel 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004. Auch ist Deutschland der für die Erbringung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat (Artikel 11 Abs. 3 Buchst. a und e der Verordnung Nr. 883/2004). Nach Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Verordnung Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Artikel 67 Satz 1 der Verordnung Nr. 883/2004, der bestimmt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaat hat, als ob die Familienangehörigen in dessen Mitgliedstaat wohnen würden, ist im Streitfall ungeachtet dessen anzuwenden, dass es bereits nach nationalem Recht nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem EU-Mitgliedstaat hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG). Zu den "beteiligten Personen" im Sinne des Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 gehören die Familienangehörigen im Sinne des § 1 Nr. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 883/2004. Darunter sind neben den Eltern und dem Kind alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben (BFH, Urteil vom 04.02.2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl. II 2016, 612).

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Aufgrund der Fiktion des Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 lässt sich nach dem EuGH-Urteil (Urteil vom 22.10.2015 C-378/14, DStRE 2015, 1501) "nicht ausschließen", dass ein Elternteil, der in einem anderen als dem zur Gewährung von Familienleistungen verpflichteten Mitgliedstaat wohnt, diejenige Person ist, die zum Bezug dieser Leistungen berechtigt ist. Dies ist der Fall, wenn wie nach deutscher Rechtslage bei konkurrierenden Ansprüchen derjenige Elternteil vorrangig kindergeldberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (BFH Urteil vom 04.02.2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl. II 2016, 612 unter Hinweis auf § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

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Aus dem EuGH-Urteil vom 22.10.2015 C-378/14 (DStRE 2015, 1501) ist auch zu ersehen, dass das Fehlen eines im EU-Ausland gestellten Antrags auf Familienleistungen nicht dazu führt, dass die Fiktionswirkung des Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 entfällt. Die Verpflichtung des zur Erbringung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats gemäß Artikel 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009, den im Inland gestellten Antrag auf Kindergeld zu berücksichtigen, bedeutet nicht, dass bei fehlender Antragstellung im Ausland der Anspruch auf den Elternteil übergeht, der im Inland das Kindergeld beantragt hat. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger den Antrag für seine getrennt lebende Ehefrau gestellt hat und auch die Klage in ihrem Namen erheben wollte.

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Somit ist gemäß Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 zu fingieren, dass die geschiedene Ehefrau des Klägers zusammen mit dem gemeinsamen Kind in einem eigenen Haushalt in Deutschland lebt. Damit ist sie nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt, solange die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach in der Person des Klägers erfüllt sind. Diesem steht der Anspruch auf Kindergeld in dem geltend gemachten Zeitraum nicht zu (BFH, Urteil vom 04.02.2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl. II 2016, 612).

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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 FGO.

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Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür gemäß § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.

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