Urteil vom Finanzgericht Hamburg (6. Senat) - 6 K 314/19

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Klägerin Kindergeld für ihr behindertes Kind zusteht, insbesondere, ob die Behinderung ursächlich dafür ist, dass das Kind sich nicht selbst unterhalten kann.

2

D ist der am ... 1997 geborene Sohn der Klägerin. Das Hamburger Autismus Institut diagnostizierte bei D in 2010 eine Asperger-Störung (DSM IV 299.80) und das Asperger-Syndrom (ICD-10 F84.5). Zusätzlich leidet D unter einer Aufmerksamkeitsstörung.

3

Nachdem D den Schulbesuch in 2014 mit dem Hauptschulabschluss beendet hatte, begann er verschiedene Berufsausbildungen und berufsvorbereitende Maßnahmen, die er jeweils nach kurzer Zeit abbrach, zuletzt eine Ausbildung zum Systemelektroniker im Sommer 2017.

4

Ab Februar 2018 war D als selbständiger Fitnesstrainer tätig. Im Auftrag der E GmbH erteilte er Kindern nachmittags in Schulen Sportunterricht. Pro Unterrichtsstunde berechnete er zwischen 12,50 € und 15 €. Aus dieser Tätigkeit erzielte D Einnahmen in Höhe von 273,50 € im August 2019, 287 € im September 2019, 217 € im Oktober 2019 und 510 € im November 2019.

5

Am 23. Mai 2019 schloss D mit der F GmbH einen Vertrag über den Erwerb der Fitness-Trainer B-Lizenz (...) gegen eine Gebühr in Höhe von 1.098,90 € ab. Der praktische und der theoretische Teil der Ausbildung waren innerhalb von sechs Monaten nach dem für den 15. Mai 2019 vorgesehenen Ausbildungsbeginn zu absolvieren. Auf den weiteren Inhalt des Vertrages wird Bezug genommen (...). Am 4. Mai 2020 erhielt D das Zertifikat über den Erwerb der Fitness-Trainer-B-Lizenz (...) nach bestandener Hausarbeit. Die A- und die C-Lizenz hat D nicht erworben.

6

Die Beklagte hatte Kindergeld für D zuletzt mit Bescheid vom 29. August 2016 ab August 2016 festgesetzt, weil die Klägerin einen Vertrag über eine Friseurausbildung vorgelegt hatte, die vom 1. August 2016 bis zum 31. Juli 2019 dauern sollte. Mit Bescheid vom 1. Juli 2019 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab August 2019 mit der Begründung auf, dass D seine Berufsausbildung nach Aktenlage im Juli 2019 beendet habe.

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Hiergegen legte die Klägerin am 4. Juli 2019 Einspruch ein und teilte mit, dass D die Berufsausbildung vorzeitig abgebrochen habe. Wegen seiner Autismuserkrankung sei er nicht in der Lage, eine Ausbildung abzuschließen. D gab in der von ihm am 23. Juli 2019 ausgefüllten "Erklärung für ein erkranktes Kind" an, noch nicht zu wissen, was er nach dem Ende der Erkrankung beabsichtige. Das Hamburger Autismus Institut bescheinigte in der "Ärztlichen Bescheinigung über die Erkrankung" vom ... August 2019, dass das Ende seiner Erkrankung nicht absehbar sei.

8

Mit Einspruchsentscheidung vom 25. November 2019 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Eine Berücksichtigung des volljährigen Kindes nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht möglich, weil D im Streitzeitraum nicht bei der Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit arbeitsuchend gemeldet gewesen sei. Der Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG scheide ebenso aus, denn das voraussichtliche Ende der Erkrankung sei nicht absehbar und das Kind habe erklärt, dass es nicht wisse, was es nach Ende der Erkrankung machen werde.

9

Die Klägerin hat am 24. Dezember 2019 Klage erhoben.

10

Die Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg hat mit Bescheid vom ... Oktober 2020 für D einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 1. November 2010 festgestellt.

11

Die Klägerin trägt vor, dass D behinderungsbedingt nicht in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten. Das Asperger-Syndrom zeichne sich durch eine schwere und anhaltende Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion sowie durch die Entwicklung von restriktiven und repetitiven Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten aus. Es handele sich um eine frühe tiefreifende Entwicklungsstörung, die die Verarbeitungsstruktur des emotionalen Lebens maßgeblich beeinträchtige. Aufgrund seiner Erkrankung habe D deutliche Schwierigkeiten vor allem in den Bereichen Konfliktbewältigung und Anpassungsfähigkeit und beim Erkennen sozialer Grenzen. Kennzeichen der daneben bestehenden Aufmerksamkeitsstörung seien neben Konzentrationsschwierigkeiten auch eine erhöhte Ablenkbarkeit und Impulsivität, die die autismusbedingten Interaktionsschwierigkeiten noch deutlich verschärften.

12

Aufgrund dieser Behinderung sei es D nicht möglich, altersangemessen eine klassische schulische bzw. berufliche Ausbildung zu absolvieren. Er sei trotz einer positiven Entwicklung weit davon entfernt, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und ausreichend Geld zu verdienen, um für sich selbst zu sorgen. Die Klägerin nimmt Bezug auf die Stellungnahme des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten F vom ... August 2019 (...) und die fachärztliche Stellungnahme des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. G vom ... Oktober 2019 (...) sowie dessen Bescheinigungen über das Vorliegen einer Behinderung (...) und zum möglichen Umfang einer Erwerbstätigkeit vom 9. April 2020 und 25. Juni 2020 (...).

13

Die Klägerin beantragt,
den Ablehnungsbescheid vom 1. Juli 2019 sowie die Einspruchsentscheidung vom 25. November 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, für das Kind D Kindergeld ab August 2019 zu gewähren.

14

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

15

Die Beklagte trägt vor, dass eine seit Geburt des Kindes bestehende Behinderung zwar durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesen worden sei. Nicht nachgewiesen sei jedoch die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten. Aus den eingereichten Vordrucken (...) ergebe sich keine derartige Bestätigung.

16

Das Gericht hat im Erörterungstermin am 3. September 2020 Beweis erhoben durch Zeugenvernehmung des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. G. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen (...).

17

Der Senat hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 8. September 2020 der Einzelrichterin übertragen. Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

...

Entscheidungsgründe

18

Die Entscheidung ergeht gemäß § 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch die Einzelrichterin und mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).

19

Die Klage ist zulässig und begründet.

I.

20

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 40 Abs. 1, 1. Alt. FGO statthaft.

21

Bei der Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung fehlt es für eine auf Weitergewährung des Kindergeldes gerichtete Verpflichtungsklage am Rechtsschutzbedürfnis, weil das Rechtsschutzziel mit einer Anfechtungsklage auf dem prozessual einfacheren Weg erreicht werden kann. Wenn die Aufhebung einer Steuerfestsetzung ihrerseits aufgehoben wird, lebt die ursprüngliche Steuerfestsetzung wieder auf (BFH, Urteil vom 9. Dezember 2006, VII R 16/03, BStBl II 2006, 346). Entsprechendes gilt für das Kindergeld als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG, § 155 Abs. 4 der Abgabenordnung -AO-). Die positive Kindergeldfestsetzung hat als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung Bindungswirkung für die Zukunft (BFH, Urteile vom 3. Juli 2014, III R 53/13, BStBl II 2015, 282; vom 3. März 2011 III R 11/08, BStBl II 2011, 722). Dass die Beklagte aus technischen Gründen eine erneute Festsetzung verfügen muss, wenn eine Aufhebungsentscheidung aufgehoben wird, ändert hieran nichts. Ein - wie im Streitfall - seinem Wortlaut nach auf eine Verpflichtung zur Weitergewährung von Kindergeld gerichteter Klagantrag kann rechtsschutzgewährend als Anfechtungsantrag ausgelegt werden (BFH, Urteile vom 3. Juli 2014, III R 53/13, BStBl II 2015, 282).

22

2. Gegenstand der Klage ist der Kindergeldanspruch bis einschließlich November 2019.

23

a) Der Anspruch auf Kindergeld kann grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand einer Inhaltskontrolle gemacht werden, in dem die Familienkasse den Kindergeldanspruch geregelt hat (BFH, Urteile vom 25. September 2014, III R 56/13, BFH/NV 2015, 206; vom 22. Dezember 2011 III R 41/07, BStBl II 2012, 681). Ein Bescheid, durch den ein Antrag auf die Festsetzung von Kindergeld abgelehnt oder die Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, erschöpft sich in der Regelung des Anspruchs auf Kindergeld für den bis dahin abgelaufenen Zeitraum. Im Falle eines als unbegründet zurückgewiesenen Einspruchs gegen den Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid verlängert sich die Bindungswirkung bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (BFH, Urteile vom 3. Juli 2014, III R 53/13, BStBl II 2015, 282; vom 4. August 2011, III R 71/10, BStBl II 2013, 380). Würde ein Kläger mit seiner Klage über diesen Zeitraum hinaus Kindergeld begehren, wäre sie insoweit unzulässig. Jedoch ist der auf die Kindergeldgewährung ab einem bestimmten Monat gerichtete Klageantrag, wenn nicht ausdrücklich etwas anderes beantragt wird, nach der recht verstandenen Interessenlage des Klägers dahin auszulegen, dass er nicht über den zulässigen Streitgegenstand hinausgeht (BFH, Urteile vom 25. September 2014, III R 56/13, BFH/NV 2015, 206; vom 27. September 2012, III R 70/11, BStBl II 2013, 544).

24

b) Im Streitfall wurde die Einspruchsentscheidung im November 2019 bekannt gegeben. Der auf die Kindergeldgewährung ab August 2019 gerichtete Klagantrag wird, da die Klägerin nicht ausdrücklich etwas anderes beantragt hat, rechtsschutzgewährend so ausgelegt, dass er sich nur auf den durch die Einspruchsentscheidung geregelten Zeitraum bis November 2019 bezieht.

II.

25

Die Klage ist begründet.

26

Der Aufhebungsbescheid vom 1. Juli 2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25. November 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum August bis November 2019 zu Unrecht aufgehoben. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Kindergeld für D zu, weil er im Streitzeitraum behinderungsbedingt nicht in der Lage war, sich selbst zu unterhalten.

27

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.

28

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

29

a) Des D Behinderung ist vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten.

30

aa) Ein Mensch ist behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch -SGB IX-; BFH, Urteile vom 27. November 2019, III R 44/17, NJW 2020, 2357; vom 19. Januar 2017, III R 44/14, BFH/NV 2017, 735). Zur Feststellung einer Behinderung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten im Rahmen der ICD-10 beschrieben werden (BFH, Urteil vom 18. Juni 2015, VI R 31/14, BStBl II 2016, 40). Der Nachweis der Behinderung kann dabei nicht nur durch Vorlage eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises oder Feststellungsbescheids gemäß § 69 SGB IX sowie eines Rentenbescheids erfolgen, sondern auch in anderer Form wie beispielsweise durch Vorlage einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens erbracht werden (BFH, Urteile vom 21. Oktober 2015, XI R 17/14, BFH/NV 2016, 190; vom 9. Februar 2012, III R 47/08, BFH/NV 2012, 939).

31

bb) Dass D aufgrund des bei ihm seit Geburt vorliegenden Asperger-Syndroms behindert ist, ist zu Recht unstreitig. Nach dem Befundbericht des Hamburger Autismus Instituts vom ... Juli 2010 (...) leidet D unter dem Asperger-Syndrom (ICD-10 F84.5). Die Diagnose wurde durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, den sachverständigen Zeugen Dr. G, bestätigt. Diese Störung beinhaltet eine schwere und anhaltende Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion und damit eine klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in allen sozialen, beruflichen und andern wichtigen Funktionsbereichen (vgl. Stellungnahme des Hamburger Autismus Instituts vom ... August 2019, ...). Bei D ist diese Störung nach der Aussage des im Erörterungstermin als Zeugen vernommenen behandelnden Psychiaters Dr. G mittelgradig ausgeprägt. Zusätzlich leidet D unter eine Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F 90.0), durch die die sozialen Interaktionsschwierigkeiten deutlich verschärft werden (vgl. Stellungnahme von Dr. G vom ... Oktober 2019, ...). Dementsprechend wurde bei D nunmehr auch ein GdB von 50 festgestellt. Das Gericht sieht es mit den Beteiligten daher als nachgewiesen an, dass des D seelische Gesundheit aufgrund des Asperger-Syndroms, das angeboren und unheilbar ist, mehr als sechs Monate lang von dem für des D Lebensalter typischen Zustand abweicht und seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt.

32

b) Das Gericht ist auch hinreichend davon überzeugt, dass D im Streitzeitraum aufgrund seiner Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten.

33

aa) Des D finanzielle Mittel deckten seinen finanziellen Bedarf im Streitzeitraum nicht.

34

(1) Ein behindertes Kind ist außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes, welcher sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt, einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (BFH, Urteil vom 27. November 2019, III R 28/17, juris). Zur Bemessung des Grundbedarfs ist an den Grundfreibetrag i.S. des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anzuknüpfen (BFH, Urteil vom 13. April 2016, III R 28/15, BStBl II 2016, 648).

35

(2) Der Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG betrug im Streitzeitraum 9.408 € pro Jahr, d.h. 784 € pro Monat. Des D monatlicher Verdienst lag im Streitzeitraum durchgehend bereits unterhalb des Grundfreibetrags ohne Berücksichtigung eines eventuellen behinderungsbedingten Mehrbedarfs.

36

bb) Hierfür war des D Behinderung auch ursächlich.

37

(1) Die Behinderung muss nach den Gesamtumständen des Einzelfalles für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein. Dem Kind muss es behinderungsbedingt objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (BFH, Urteil vom 15. März 2012, III R 29/09, BStBl II 2012, 892). Eine Mitursächlichkeit der Behinderung genügt, wenn sie erheblich ist (BFH, Urteil vom 19. November 2008, III R 105/07, BStBl II 2010, 1057).

38

(2) Ein Indiz für die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann die Feststellung in ärztlichen Gutachten - z.B. von der Reha-SB-Stelle der Agentur für Arbeit oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen - sein, das Kind sei nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. Auch der Bezug von Arbeitslosengeld II kann ein Indiz für die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt sein. Eine wichtigere indizelle Bedeutung für die Prüfung der Ursächlichkeit der Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt kommt aber dem GdB zu. Die Rechtsprechung hat demgemäß bei einem GdB von 100 und dem Merkmal H in der Regel eine Kausalität angenommen, während ein GdB unter 50 eher gegen eine Kausalität der Behinderung spricht. Eine - nicht behinderungsspezifische - Berufsausbildung kann als Indiz für eine Vermittelbarkeit des behinderten Kindes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sprechen. Behinderungsspezifische Ausbildungen und Praktika sprechen eher gegen eine Vermittelbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt, da sie möglicherweise den Schluss auf nur bedingte Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsmarkt zulassen (vgl. zum Ganzen BFH, Urteil vom 19. November 2008, III R 105/07, BStBl II 2010, 1057).

39

(3) Unter Würdigung der Umstände des vorliegenden Falles und unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist von einer erheblichen Mitursächlichkeit von des D Behinderung für seine fehlende Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten, auszugehen.

40

(a) Indiziell für die Ursächlichkeit der Behinderung spricht die im Klageverfahren getroffene Feststellung des GdB von 50. Dafür, dass D auf dem Arbeitsmarkt aufgrund seiner Behinderung nur schwer vermittelbar wäre, spricht zusätzlich, dass er keine - nicht behinderungsspezifische - Berufsausbildung abgeschlossen hat. Wie Herr Dr. G in seiner Stellungnahme vom ... Oktober 2019 (...) angegeben hat, ist es D nicht möglich, altersangemessen eine klassische schulische/berufliche Ausbildung zu absolvieren. Dass D die Fitness-Trainer-B-Lizenz erworben hat, steht dieser Einschätzung nicht entgegen, weil es sich im Wesentlichen um einen Online-Lehrgang handelte, der kaum soziale Interaktion erforderte, die D aufgrund seiner Autismus-Störung schwerfällt.

41

(b) Auf dieser Grundlage ist D zwar in der Lage, sich beruflich zu betätigen, dies allerdings nicht in einem Umfang, der es ihm im Streitzeitraum erlaubt hätte, hiervon seinen Lebensbedarf zu bestreiten. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass es nach der Aussage der Klägerin im Erörterungstermin keine Möglichkeit gäbe, den zeitlichen Umfang seiner Tätigkeit für seinen derzeitigen Auftraggeber zu erhöhen, und dass es andere vergleichbare Anbieter in Hamburg nicht gebe. Denn auch wenn dies zutrifft, besteht noch eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für des D fehlende Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten.

42

So hat der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut F in seiner Stellungnahme vom ... August 2019 (...) beschrieben, dass D das Unterrichten von Fitnesskursen leichter falle als andere Tätigkeiten, weil er die Struktur vorgeben könne und so nicht zu sozial unangemessenem Verhalten verleitet werde. Die Bewältigung des beruflichen Alltags sei wegen der damit verbundenen Reizüberflutung für D aber so kraftraubend, dass er sich nach Unterrichtsschluss in sein Zimmer zurückziehe. Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. G hat in seiner Vernehmung als sachverständiger Zeuge bekundet, D sei seiner Einschätzung nach nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt dauerhaft selbst zu verdienen. Dies werde ihm nur phasenweise möglich sein, doch werde es immer wieder zu Überforderungssituationen und Frustrationserlebnissen kommen. Eine durchgehend mindestens 15-stündige Arbeit pro Woche werde D aufgrund seiner Behinderung nicht durchhalten können. Dabei ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass D auch bei einer durchschnittlich 15-stündigen Tätigkeit auf der Basis der jetzigen Vergütung nur Einnahmen erzielen würde, die unterhalb des Grundfreibetrags lägen.

43

Das Gericht schließt sich der Einschätzung des sachverständigen Zeugen an und sieht keine Veranlassung, ergänzend ein Sachverständigengutachten einzuholen. An der Sachkunde des Zeugen, eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, bestehen keine Zweifel. Da der Zeuge D in der Zeit von Februar 2011 bis Mitte 2018 laufend behandelte, kennt er D sehr gut und ist am besten geeignet, eine Aussage über des D Fähigkeit zum Selbstunterhalt im Streitzeitraum zu treffen.

44

Der vom Beklagten ins Feld geführte Umstand, dass der Zeuge D im Streitzeitraum nur einmal gesehen und mit ihm gesprochen habe, steht dem nicht entgegen. Denn der Zeuge konnte seine Einschätzung eben auch auf die langjährige, vorherige Behandlung stützen. Bei dem Asperger-Syndrom handelt es sich um eine lebenslange Störung der seelischen Gesundheit. Wie der Zeuge bekundet hat, ist eine Besserung des Zustands durch das Erlernen bestimmter Verhaltenstechniken zwar grundsätzlich möglich. Dass Gericht geht mit dem Zeugen aber davon aus, dass er in nur einem Gespräch feststellen konnte, dass es D nicht gelungen war, diese Techniken in dem Zeitraum von etwa einem Jahr, in dem der Zeuge ihn nicht gesehen hatte, zu erlernen und eine wesentliche Besserung seiner sozialen Fähigkeiten zu erlangen. Diese sachverständige Einschätzung des Zeugen betrifft nicht nur den vor dem ... Oktober 2019, dem Tag der Untersuchung, liegenden Streitzeitraum, d.h. August bis Oktober 2019, sondern behält ihre Gültigkeit zur Überzeugung des Gerichts noch für den relativ kurzen Rest des Streitzeitraums (bis einschließlich November 2019).

45

2. Ob der Kindergeldanspruch der Klägerin zudem deshalb begründet wäre, weil D im Streitzeitraum für einen Beruf ausgebildet wurde (§ 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG), da er ab Mai 2019 für sechs Monate die Ausbildung zum Erwerb der B-Lizenz für Fitnesstrainer absolviert hat, kann offen bleiben.

III.

46

1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

47

2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1, 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2 und 711 der Zivilprozessordnung.

48

3. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.

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