Gerichtsbescheid vom Finanzgericht Hamburg (4. Senat) - 4 K 47/18

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Nacherhebung von Einfuhrumsatzsteuer.

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Die Klägerin meldete mit Zollanmeldung vom 12. Dezember 2016 als indirekte Vertreterin der B GmbH, X-Straße, Mitgliedstaat A - ..., (im Folgenden: B) 100 Dokumententaschen (im Folgenden: die Ware) mit einem Zollwert von 817,50 Euro beim Zollamt Hamburg-1 unter Verwendung des Verfahrenscodes 42 zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr mit anschließender innergemeinschaftlicher steuerbefreiender Lieferung an. Hierbei gab sie die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-ID) des Mitgliedstaats A der B und die von dem drittländischen Verkäufer C ... (C) erstellte Handelsrechnung Nr. xxx vom 28. November 2016 an und vermerkte die Lieferbedingung DDP.

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Der Beklagte setzte zunächst anmeldungsgemäß mit Einfuhrabgabenbescheid XXX-1 vom 12. Dezember 2016 wegen der Warenverkehrsbescheinigung keinen Zoll und wegen der angemeldeten innergemeinschaftlichen Lieferung im Hinblick auf §§ 5 Abs. 1 Nr. 3, 6a UStG auch keine Einfuhrumsatzsteuer fest. Der Bescheid ist an die Klägerin und "als Vertreter für (Rechnung)" die B gerichtet.

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Am 19. Dezember 2016 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, dass über die Ware nach ihrer Überlassung umdisponiert worden sei. Anders als angemeldet, habe sie nicht die B, sondern ein anderer im Mitgliedstaat A ansässiger gewerblicher Abnehmer erhalten.

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Daraufhin setzte der Beklagte mit Einfuhrabgabenbescheid XXX-2 vom 31. Januar 2017 gegen die Klägerin auf der Grundlage von Art. 101, 105 Abs. 4 UZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG 183,83 Euro Einfuhrumsatzsteuer fest. Da die Ware nachträglich zu einem anderen als dem angemeldeten Empfänger geliefert worden sei, lägen die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung gemäß § 6a UStG nicht vor. Danach sei die Angabe der USt-ID des Empfängers und dessen zuständiges Finanzamt in Bestimmungsmitgliedstaat erforderlich. Daher müsse die nicht erhobene Einfuhrumsatzsteuer nacherhoben werden.

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Mit Schreiben vom 10. Februar 2017 legte die Klägerin gegen den Einfuhrabgabenbescheid Einspruch ein. Die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer verstoße gegen die Mehrwertsteuersystem-Richtlinie. Danach sei allein entscheidend, ob die Ware überhaupt in einem anderen Mitgliedstaat an einen steuerpflichtigen Erwerber i. S. v. Art. 9 und 20 MwStSystRL gelangt sei.

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Auf Nachfrage des Beklagten übersandte die Klägerin einen von der D GmbH (D), Y-Straße, Mitgliedstaat A - ..., am 28. Dezember 2016 quittierten Lieferschein des Logistikdienstleisters E GmbH [im Mitgliedstaat A] vom 27. Dezember 2016 sowie ein Schreiben der B vom 27. Dezember 2016, mit dem diese mitteilte, dass sie eine Gelangensbescheinigung nicht ausstellen könne. Weiter übermittelte die Klägerin eine ihr von der C am 9. Dezember 2016 erteilte Vollmacht zur Fiskalvertretung.

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Nachdem der Beklagte infrage gestellt hatte, ob die Klägerin die B habe wirksam vertreten können, erwiderte die Klägerin, dass sie tatsächlich die C, von der sie bevollmächtigt worden sei, habe vertreten wollen. Die C habe bei der Einfuhr auch Verfügungsmacht über die Ware gehabt. Vor diesem Hintergrund beantragte die Klägerin gemäß Art. 173 Abs. 3 UZK die Änderung der Zollanmeldung dahingehend, dass sie im Namen der C abzugeben gewesen sei. Die Klage gegen die Ablehnung dieses Änderungsantrags wies das erkennende Gericht mit Urteil vom 1. Dezember 2020 (4 K 49/18, ZfZ 2021, 28) ab.

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Mit Bescheid vom 28. September 2017 (Ziff. I) nahm der Beklagte den ursprünglichen Einfuhrabgabenbescheid vom 12. Dezember 2016 gemäß Art. 27 UZK zurück. Das angemeldete indirekte Vertretungsverhältnis zwischen der B und der Klägerin habe nicht bestanden, weshalb der Bescheid, in dem beide Unternehmen als Gesamtschuldnerinnen bezeichnet worden seien, zu Unrecht ergangen sei. Die Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid (4 K 48/18) nahm die Klägerin im Erörterungstermin vom 15. Dezember 2020 zurück.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 11. April 2018 (RL-xxx) wies der Beklagte den Einspruch gegen den Einfuhrabgabenbescheid vom 31. Januar 2017 als unbegründet zurück. Die Einfuhrumsatzsteuer sei nachzuerheben, da die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung gemäß § 4 Nr. 1 b und § 6a UStG i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG nicht vorgelegen hätten. Diese Vorschriften stünden mit Art. 138 Abs. 1, 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL im Einklang.

11

Die Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung von der Umsatzsteuer sei davon abhängig, dass (1) die Verfügungsmacht (§ 3 Abs. 1 UStG) auf den Erwerber übertragen worden sei, (2) der Lieferer nachweise, dass der Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat befördert worden sei und (3) dass der Gegenstand den Mitgliedstaat physisch verlassen habe. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Steuerpflichtig sei allein die Klägerin, weil sie als vollmachtlose Vertreterin der B aufgetreten sei. Die Klägerin habe keine steuerbefreiende Lieferung bewirkt. Die C habe am 28. November 2016 die Ware an die B verkauft. Die Anlieferung der Ware bei der B habe auf Kosten und Gefahr der C erfolgen sollen. Nur die C, in deren Verfügungsmacht sich die Ware befunden habe, hätte die steuerfreie Lieferung bewirken können. Sie sei aber nicht Anmelderin geworden, weil die Klägerin im Namen der B gehandelt habe.

12

Durch ihre Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr sei die Ware zur Unionsware geworden und damit im umsatzsteuerrechtlichen Sinne eingeführt worden.

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Außerdem lägen die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vor. Es sei ungewiss, wo die Ware nach der Ablieferung bei der nicht verfügungsberechtigten D verblieben sei. Die Person des Erwerbers sei bis heute unbekannt. Die D sei kein Erwerber, weil sie keine Verfügungsmacht über die Ware erhalten habe. Für die Steuerbefreiung sei nicht ausreichend, dass die Sendung in einen anderen Mitgliedstaat an (irgend)einen steuerpflichtigen Erwerber gelangt sei, zumal Letzteres im vorliegenden Fall noch nicht einmal feststehe. Allein der Umstand, dass die Ware am 28. Dezember 2016 an die D im Mitgliedstaat A geliefert worden sei, sei nicht ausreichend.

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Mit der am 19. April 2018 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Anfechtungsbegehren hinsichtlich des Einfuhrabgabenbescheids vom 31. Januar 2017 weiter. Für Wareneinfuhren in die EU bediene sich C regelmäßig der Firmengruppe, zu der die Klägerin gehöre und die Verzollungsdienste im Mitgliedstaat A und Deutschland anbiete. Auch im vorliegenden Fall habe die Klägerin die Verzollung übernehmen sollen. Die Klägerin habe von C eine Verzollungs- und Fiskalvertretungsvollmacht vom 9. Dezember 2016, die Handelsrechnung und die Warenverkehrsbescheinigung erhalten. Ihrer Sachbearbeiterin sei ein Fehler unterlaufen, als sie in der Zollanmeldung als Auftraggeberin die B angegeben habe, obwohl offensichtlich sei, dass die Zollanmeldung für Rechnung von C hätte abgegeben werden sollen.

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Den Antrag auf Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG bescheide das Hauptzollamt mit einem Abgabenbescheid, in dem die Steuerbefreiung durch eine auf Null festgesetzte Einfuhrumsatzsteuer gewährt werde. Diese Festsetzung sei ein Steuerverwaltungsakt i. S. v. § 118 AO, keine Entscheidung nach Art. 5 Nr. 39 UZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG. Denn die Gewährung der Steuerbefreiung folge nicht dem Zollrecht, sondern ergebe sich ausschließlich aus dem Mehrwertsteuerrecht. Während die Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer beim Verfahrenscode 40 der Festsetzung des Zolls folge, sei das beim Verfahrenscode 42 anders. Dort werde § 21 Abs. 2 UStG durch Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG verdrängt.

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Die Klägerin frage sich, nach welchen Vorschriften die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer durchzuführen sei. Mit der Unterwegsverzollung sei die Drittlandsware zur Unionsware geworden. Ab diesem Zeitpunkt sei das Zollrecht nicht mehr anwendbar. Der Beklagte habe das Zoll- und Umsatzsteuerrecht im Zeitpunkt der Verzollung zutreffend angewandt, die Nacherhebung nach Art. 105 UZK komme nicht in Betracht. Es bleibe nur, die im Ausgangsbescheid ausgesprochene Steuerbefreiung zurückzunehmen. Dies sei nur nach § 130 AO oder 27 UZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG möglich. Beide Vorschriften setzten aber missbräuchliches Verhalten voraus, das hier nicht vorliege.

17

Im Übrigen finde beim Verfahrenscode 42 im Verzollungsmitgliedstaat bereits keine Einfuhr im umsatzsteuerrechtlichen Sinne statt. Diese erfolge vielmehr als Erwerb i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, 20 MwStSystRL im Bestimmungsmitgliedstaat. Zwar sei die dogmatische Konstruktion von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL eine andere. Gleichwohl werde angeregt, den EuGH zu fragen, ob bei Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL eine mehrwertsteuerrechtliche Einfuhr vorliege.

18

Beim Verfahrenscode 42 existierten neben den auf Art. 201 UZK bezogenen Offenlegungs- und Wahrheitspflichten ausschließlich die in Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL, §§ 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG, 115 Abs. 2 AO normierten Erklärungs- und Nachweispflichten. Der steuerrechtliche Teil des Verfahrenscodes 42 sei also strikt vom zollrechtlichen zu trennen. Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL beziehe sich ausschließlich auf die innergemeinschaftliche (Anschluss-)Lieferung. Der EuGH habe die Nachweispflichten bei der innergemeinschaftlichen Anschlusslieferung dahingehend präzisiert, dass nur der Transport vom Verzollungsmitgliedstaat in Richtung Bestimmungsmitgliedstaat nachzuweisen sei. Die anderen beiden Merkmale von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL (Übertragung der Verfügungsmacht und Identität zwischen Abnehmer und Erwerber) seien außerhalb zu klären. Dies gelte besonders für den Grenzspediteur als indirekten Vertreter. Das Enteco Baltic-Urteil habe klargestellt, dass die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht im Zollverfahren nachzuweisen sei.

19

Zugleich habe der EuGH klargestellt, dass die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung i. S. v. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL eine innergemeinschaftliche Lieferung sei, deren Grundlage der Lieferbegriff des Art. 14 MwStSystRL sei. Der Grenzspediteur als indirekter Vertreter falle daher nicht in den Anwendungsbereich des Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL, da er nicht liefere. Daraus folge, dass die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung - entgegen dem österreichischen VwGH - weder ein (nirgendwo geregeltes) Zollverfahren sei noch - entgegen der Ansicht der GZD - der zollamtlichen Überwachung unterliege. Die auf sie anwendbaren Kontrollerfordernisse seien rein formeller Natur. Verstöße gegen die umsatzsteuerlichen Nachweispflichten hätten daher keine steuerschuldrechtlichen Konsequenzen.

20

Der indirekte Vertreter sei an der Lieferung gar nicht beteiligt, sodass er unmöglich Schuldner der innergemeinschaftlichen Lieferung sein könne. Von ihm könne also erst recht nicht verlangt werden, dass er im Anschluss an die von ihm abgewickelte Unterwegsverzollung verpflichtet sei, für den Importeur den Steuerbefreiungsantrag nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL zu stellen und die Nachweise nach Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL zu erbringen. Fehle dem Spediteur beim Verfahrenscode 42 die Vertretungsmacht, handele er nicht für den Importeur i.S.v. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, 201 MwStSystRL und bewege sich damit völlig außerhalb des Steuersystems der innergemeinschaftlichen Lieferung.

21

Aus dem Enteco Baltic-Urteil (Rn. 67) folge für Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL, dass nur der Lieferer die Steuerbefreiung in Anspruch nehmen könne, also nur der Importeur, da nur dieser im Zeitpunkt der Verzollung Verfügungsmacht über den Gegenstand habe. Denn ohne Verfügungsmacht könnten die Voraussetzungen des Art. 138 MwStSystRL nicht erfüllt werden. Die entgegenstehende Ansicht der GZD, dass es reiche, wenn einer der beiden Gesamtschuldner die innergemeinschaftliche Lieferung ausführe, greife im Streitfall nicht, weil es keinen weiteren Anmelder gebe. Es sei nicht vertretbar, daraus zu folgern, dass nicht nur ein zollrechtliches, sondern auch ein steuerrechtliches Eigengeschäft vorliege, bei dem die Klägerin die Steuerbefreiung nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL beantragt habe.

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Nach der MwStSystRL dürfe nur der Verfügungsberechtigte Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer werden. Der Anspruchsberechtigte bei Art. 143 Abs. 1 Buchst. d i. V. m. Art. 138 MwStSystRL sei allein der Lieferant als Importeur. Der Importeur müsse Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer sein, denn Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL verweise insoweit auf Art. 201 MwStSystRL. Daraus folge die Pflicht zur teleologischen Reduktion von Art. 201 MwStSystRL. Die Mitgliedstaaten seien nur insoweit frei, den Steuerschuldner zu bestimmen, als er Verfügungsmacht "bei der Einfuhr" (so Art 201 MwStSystRL) oder "zum Zeitpunkt der Einfuhr" (so Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL) habe.

23

Zusammenfassend sei festzuhalten, dass der indirekte Vertreter nicht zur innergemeinschaftlichen Anschlusslieferung passe, weil er nicht liefere. Es sei rechtswidrig, ihm entgegen dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG die Steuerbefreiung zu gewähren. Es werde angeregt, die Frage nach der Steuerschuldnerschaft dem EuGH vorzulegen.

24

Unrichtig sei, dass überhaupt keine Lieferung vorliege, weil der Erwerber vertraglich nicht festgelegt worden sei. Es sei unerheblich, wer der Erwerber sei. Es komme nur darauf an, ob die Waren den Verzollungsmitgliedstaat in Richtung Bestimmungsmitgliedstaat verlassen hätten. Zwar sei der Begriff der Lieferung i. S. v. Art. 14 MwStSystRL auch für Art. 138, 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL relevant. Nach dem EuGH-Urteil C-146/05 habe die innergemeinschaftliche Lieferung jedoch nur drei materielle Voraussetzungen, nämlich (1) die Übertragung der Befugnis, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, (2) die physische Verbringung der Gegenstände in einen Mitgliedstaat und (3) die Eigenschaft des Erwerbers als Steuerpflichtiger. Nach der Rechtsprechung des EuGH reiche es aus, dass der Gegenstand an irgendeinen Erwerber im Bestimmungsmitgliedstaat gelange, der der Erwerbsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat unterliege. Der Zweck der MwStSystRL sei die Erwerbsbesteuerung im Mitgliedstaat des Endverbrauchs. Es bestünden keine Zweifel, dass die Ware in einem anderen Mitgliedstaat von irgendjemandem erworben worden sei. Daher sei das Besteuerungsrecht auf den Bestimmungsmitgliedstaat übergegangen.

25

Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL ordne für die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung an, dass erst "zum Zeitpunkt der Einfuhr" der Erwerber zu bestimmen sei. Er sei also nicht bereits vorher, also bei Abschluss des Drittlandsgeschäfts zu bestimmen. Selbst dieses formelle Kontrollerfordernis dehne der EuGH in Enteco Baltic aus. Danach sei allein entscheidend, dass der Lieferer seinen Abnehmer überhaupt benenne. Hierzu stehe die BFH-Rechtsprechung im Widerspruch.

26

Im Übrigen liege der vom Beklagten vermisste Liefervertrag tatsächlich vor. Es handele sich um den Liefervertrag zwischen C und B. Im Hinblick darauf sei die Klägerin auch beim Verfahrenscode 42 tätig geworden. Dass die Ware bei B nicht angekommen sei, habe mit dem Vertrag zwischen C und B nichts zu tun. Die Ware sei vielmehr bei der D im Mitgliedstaat A abhandengekommen, ohne dass zuvor B daran Verfügungsmacht erworben habe.

27

Es sei zu prüfen, ob das Abhandenkommen der Ware bei D in Frage stelle, ob die Ware Deutschland i. S. v. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d verlassen habe, und wer das Verlassen beweisen müsse. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Enteco Baltic, Rn. 97 ff.) dürften die Behörden Unterlagen, die sie einmal akzeptiert hätten, nicht nachträglich deshalb in Frage stellen, weil der Erwerber einen Steuerbetrug begangen habe, hinsichtlich dessen der Verkäufer gutgläubig gewesen sei. Aus dem Urteil des EuGH C-273/11 folge, dass der Steuerpflichtige sich nicht vergewissern müsse, dass die vom Erwerber transportierten Waren tatsächlich das Bestimmungsland erreicht hätten. Aus dem Urteil C-277/14 ergebe sich, dass der Lieferer nicht nachweisen müsse, dass der Liefergegenstand der Erwerbsbesteuerung unterworfen worden sei. Dies gelte selbstverständlich auch für die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung.

28

Aus der Rechtsauffassung des Beklagten folge, dass überhaupt keine Lieferung vorliege, nicht nur keine steuerbegünstigte Lieferung. Die zollrechtliche Eigenschaft der Klägerin als Vertreterin ohne Vertretungsmacht könne nicht auf Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL übertragen werden. Eine derartige Steuerbefreiung gäbe es nämlich im Zollrecht nicht, so dass eine sinngemäße Anwendung des Zollrechts auf Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL ausscheide. § 21 Abs. 2 UStG lasse sich allenfalls auf die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer anwenden, nicht aber auf einen Antrag auf Gewährung der Befreiung davon nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL. Dies sei offenkundig.

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Zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nicht Inhaberin der Steuerbefreiung geworden sei und damit auch nicht Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer, komme man auf dreierlei Weise:

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1. Die Klägerin habe in der Zollanmeldung keinen Antrag auf Steuerbefreiung für sich gestellt. Die dennoch gewährte Steuerbefreiung sei entweder ein unwirksamer oder ein nichtiger Steuerverwaltungsakt und daher nach § 125 Abs. 1, Abs. 2 AO oder nach § 130 AO bzw. nach § 21 Abs. 2 UStG i. V. m. Art. 27 UZK zurückzunehmen, so dass die Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer auf Null unwirksam oder aufzuheben sei. Es fehle dann an einer Rechtsgrundlage für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer.

31

2. Jedenfalls sei die Klägerin so zu stellen, dass sie den Antrag nicht gestellt habe bzw. dass sie jedenfalls nicht Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer geworden sei. Dies verlange nicht nur Art. 201 MwStSystRL, sondern auch der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung. Der Beklagte habe wieder gut zu machen, dass er der Klägerin rechtswidrig die Steuerbefreiung aufgedrängt habe. Der Beklagte hätte wissen müssen, dass ein Grenzspediteur die Voraussetzungen von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL nicht erfüllen könne. Hätte der Beklagte den Antrag sorgfältig geprüft, hätte er ihn zurückweisen müssen. Selbst als indirekter Vertreter mit Vertretungsmacht hätte die Klägerin die Gegenstände nicht i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG verwenden können.

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3. Jedenfalls könne die Klägerin Vertrauensschutz gemäß Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL i. V. m. § 6a Abs. 4 UStG beanspruchen. Sie sei gutgläubig davon ausgegangen, als Vertreter der C die Steuerbefreiung beantragt zu haben. Die Frage sei, ob der gute Glaube an die indirekte Vertretung beim Verfahrenscode nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL geschützt sei. Fest stehe, dass die Klägerin keine Ursache dafür gesetzt habe, dass keine innergemeinschaftliche Lieferung ausgeführt worden sei. Damit stünde der Vertrauensschutz i. S. v. § 6a Abs. 4 UStG außer Frage. Die Vorschrift regele allerdings systemimmanent nur das Verhältnis zwischen Lieferer und Abnehmer, nicht den indirekten Vertreter. Wenn man den indirekten Vertreter aber zum Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer mache, müsse man ihm dem gleichen Schutz wie dem Lieferer gewähren. Das Argument des FG München (14 K 1770/13), dass das Vorliegen einer Verzollungsvollmacht beim Verfahrenscode 42 im allgemeinen Geschäftsrisiko des Vertreters liege, sei genauso richtig wie falsch. Das Vorliegen einer normalen Verzollungsvollmacht liege sicherlich im Verantwortungsbereich des Vertreters, nicht aber das Vorliegen einer Fiskalvertretungsvollmacht nach dem Verfahrenscode 42, die auf den indirekten Vertreter laute. Denn nur die indirekte Vertretung erlaube einem Drittländer, die Steuerbefreiung in Anspruch zu nehmen

33

Zusammenfassend sei damit die indirekte Vertretung nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, 201 MwStSystRL eine materiell-rechtliche Voraussetzung der Steuerbefreiung, die in § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG durch den Begriff des Schuldners der Einfuhrumsatzsteuer zum Ausdruck gebracht werde. Insoweit sei der EuGH zu fragen, ob der indirekte Vertreter Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL werden könne.

34

Die Klägerin beantragt,
den Einfuhrabgabenbescheid XXX-2 vom 31. Januar 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. April 2018 (RL-xxx) aufzuheben.

35

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

36

Er beruft sich auf seinen bisherigen Vortrag. Ergänzend führt er aus: Wie das FG Baden-Württemberg bereits entschieden habe, liege beim Verfahrenscode 42 immer eine Einfuhr im umsatzsteuerrechtlichen Sinne vor.

37

Die Klägerin sei alleinige Zollanmelderin. Als vollmachtlose Vertreterin gebe sie die Zollanmeldung im eigenen Namen ab (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 UZK) und sei daher Anmelderin. Bei der indirekten Vertretung sei die Klägerin ebenfalls Zollanmelderin. Die wirksame Vertretung der C hätte lediglich zur Folge gehabt, dass auch die Vertretende - C - Zollschuldnerin und beide Gesamtschuldnerinnen geworden wären (Art. 77 Abs. 3, 84 UZK). Mangels Offenlegung der gewollten Stellvertretung sei keine wirksame Vertretung gegeben.

38

Die Einfuhrumsatzsteuer sei rechtmäßig festgesetzt worden. Nach dem Enteco Baltic-Urteil des EuGH (Rn. 84 ff.) sei materielle Voraussetzung für die Steuerbefreiung u. a., dass sich der Einfuhr eine innergemeinschaftlichen Lieferung anschließe. Dies setze voraus, dass Grundlage für die Beförderung in den jeweiligen Bestimmungsmitgliedstaat ein Vertrag über die Lieferung der Waren sei. Ein solcher Vertrag liege hier nicht vor. Ein einseitig veranlasster Transport, wie er sich nach den Angaben der Klägerin nach der Überlassung ergeben habe, reiche nicht aus.

39

Die Klägerin sei alleinige Zollanmelderin und als Vertreterin ohne Vertretungsmacht auch alleinige Schuldnerin. Es komme daher nicht darauf an, ob die indirekte Stellvertretung im Rahmen des Art. 143 Abs. 1 d MwStSystRL zulässig gewesen sei.

...

Entscheidungsgründe

40

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

I.

41

Die Anfechtungsklage gegen den Einfuhrabgabenbescheid XXX-2 vom 31. Januar 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. April 2018 (RL-xxx) ist unbegründet, weil der Bescheid rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO).

42

1. Ermächtigungsgrundlagen für die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer sind Art. 101 Abs. 1, 105 Abs. 4 und Abs. 3 der Verordnung (EU) 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. L 269, 1; UZK) in ihren gemäß § 21 Abs. 2 Halbs. 1 UStG entsprechend anwendbaren Fassungen.

43

Nach dem Wortlaut von Art. 101 Abs. 1 UZK wird der zu entrichtende Einfuhrabgabenbetrag festgesetzt, sobald die erforderlichen Angaben vorliegen. Für den Fall, dass Einfuhrabgaben insbesondere gemäß Art. 105 Abs. 1 UZK nicht oder in nicht ausreichender Höhe buchmäßig erfasst wurden, ordnet Art. 105 Abs. 4 UZK die Anwendung von Art. 105 Abs. 3 UZK auch für die nachzuerhebenden Einfuhrabgaben an. Nach Art. 105 Abs. 3 UZK müssen Einfuhrabgaben, die insbesondere aufgrund einer Zollschuld durch Annahme einer Zollanmeldung, mit der die Überlassung von Waren zum zollrechtlich freien Verkehr beantragt wird, entstehen, innerhalb von 14 Tagen nach dem Tag, an dem die Zollbehörden in der Lage sind, den betreffenden Abgabenbetrag festzusetzen, buchmäßig erfasst werden.

44

a) Nach § 21 Abs. 2 Halbs. 1 UStG gelten für die Einfuhrumsatzsteuer die Vorschriften für Zölle sinngemäß. Nach der Gesetzesbegründung zu § 21 UStG muss die Einfuhrumsatzsteuer "grundsätzlich auch die gleiche technische Erledigung finden wie Zölle" (BT-Drs. zu Drucksache V/1581, S. 17). Dessen ungeachtet sieht die Gesetzesbegründung es als unerlässlich an, verschiedene Zollvorschriften von der sinngemäßen Anwendung auf die Einfuhrumsatzsteuer auszunehmen (a.a.O.). Im Einklang hiermit hält der BFH fest, dass die nach § 21 Abs. 2 Halbs. 1 UStG zu stellende Frage, ob und inwieweit eine Vorschrift des Zollrechts im Einklang mit Sinn und Zweck der Einfuhrumsatzsteuer als Teil der Mehrwertsteuer steht, für jede Bestimmung einer eigenen Prüfung bedarf (BFH, Urteil vom 3. Mai 1990, VII R 71/88, juris, Rn. 11; Urteil vom 26. April 1988, VII R 124/85, juris, Rn. 5; Urteil vom 13. November 2001, VII R 88/00, juris, Rn. 18; s.a. FG Hamburg, Urteil vom 12. Oktober 2016, 4 K 113/15, juris, Rn. 17).

45

aa) Durch die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften soll nach der überkommenen Rechtsprechung des BFH insbesondere sichergestellt werden, dass die Einfuhrabgaben von ein und derselben Behörde in einem Bescheid nach dem gleichen Verfahren aufgrund einheitlich getroffener Feststellungen einfach und zweckmäßig erhoben werden (BFH, Urteil vom 17. August 2000, VII R 108/95, juris, Rn. 18; Urteil vom 13. November 2001, VII R 88/00, juris, Rn. 18). Dieser Zweck könne nur erreicht werden, wenn es regelmäßig zur Anwendung der Zollvorschriften auf die Einfuhrumsatzsteuer komme (BFH, Urteil vom 3. Mai 1990, VII R 71/88, juris, Rn. 11; Urteil vom 23. Mai 2006, VII R 49/05, juris, Rn. 16).

46

Dieser, im Wesentlichen an Kriterien der Zweckmäßigkeit orientierte Beurteilungsmaßstab, wird durch die jüngere Rechtsprechung des EuGH insbesondere in den Rechtssachen Eurogate/DHL und Federal Express (für einen Überblick siehe Bender, UR 2019, 641, 643 ff.; Thaler, ZfZ 2019, 358, 359 f.; Jatzke, UR 2020, 585, 587 ff.) überlagert. Danach kann eine zollrechtliche Vorschrift nur dann mit der Folge, dass Einfuhrumsatzsteuer entsteht, entsprechend angewendet werden, wenn eine Einfuhr im Sinne der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, 1; im Folgenden: MwStSystRL) vorliegt. Nur in diesem Fall liegt ein steuerbarer Umsatz vor, der der Mehrwertsteuer unterliegt. Da sich das deutsche Recht in dem von der genannten Richtlinie vorgegebenen Rahmen bewegen muss, darf die entsprechende Anwendung der Vorschriften des UZK - die kraft des Verweises in § 21 Abs. 2 UStG (nur) als deutsches Recht gelten können (hierzu Bender, UR 2019, 641, 647; s.a. Bender, in Wäger, UStG, 2020, Anh. 2, Rn. 48) - nicht dazu führen, dass andere Handlungen als die hier einzig in Betracht kommende Einfuhr (Art. 2 Buchst. d MwStSystRL) die Entstehung der Mehrwertsteuer auslösen (so bereits FG Hamburg, Urteil vom 14. Januar 2020, 4 K 123/15, juris, Rn. 41-42).

47

bb) Neben der Notwendigkeit prüfen zu müssen, ob überhaupt eine mehrwertsteuerliche Einfuhr vorliegt, wurde durch die genannten Entscheidungen des EuGH noch etwas anderes deutlich: Auch im Hinblick auf andere Aspekte der Einfuhrumsatzsteuer, wie etwa die Rechtsgrundlage für die Nacherhebung oder die Person des Zollschuldners, dürfen mitgliedstaatliche Vorschriften - hier: das als deutsches Recht (siehe oben aa) geltende Einfuhrumsatzsteuerrecht mit dem Inhalt des entsprechend anwendbaren UZK - nur insoweit entsprechend angewendet werden, wie dies nicht gegen die MwStSystRL oder anderes Unionsrecht verstößt.

48

Kommen innerhalb dieses Rahmens mehrere zollrechtliche Vorschriften in Betracht, die entsprechend auf die Einfuhrumsatzsteuer angewendet werden könnten, ist im Wege der richtlinienkonformen Auslegung diejenige auszuwählen, die der Systematik des Mehrwertsteuerrechts am besten entspricht. Die richtlinienkonforme Auslegung verlangt nämlich nicht nur eine Auslegung, die am Wortlaut der Richtlinie orientiert ist, sondern auch an ihrem Zweck, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019, N Luxembourg 1 u.a., C-115/16, C-118/16, C-119/16 und C-299/16, Rn. 115; Urteil vom 5. Mai 1994, Habermann-Beltermann, C-421/92, Rn. 10). Zweck der MwStSystRL ist es, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuer vorzunehmen, damit Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden (4. Erwägungsgrund der MwStSystRL). Soweit das Unionsrecht für eine richtlinienkonforme Auslegung keine Anhaltspunkte liefert, muss bei der Auswahl der auf den konkreten Fall entsprechend anwendbaren Zollvorschrift auf den oben dargestellten Gesetzeszweck rekurriert und diejenige Zollvorschrift entsprechend angewendet werden, die zur "gleiche[n] technische[n] Erledigung" der Einfuhrumsatzsteuer führt.

49

Nach diesen Grundsätzen sind die Art. 105 Abs. 4, Abs. 3, Art. 101 Abs. 1 UZK auf die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer entsprechend anwendbar (zu Art. 220 ZK i. E. ebenso: FG München, Urteil vom 20. Oktober 2016, 14 K 1770/13, juris, Rn. 38 ff.). Die MwStSystRL verbietet die nachträgliche Geltendmachung der Einfuhrumsatzsteuer nicht (dazu b). Ausgehend von der Systematik des entsprechend anzuwendenden UZK und unter Berücksichtigung der MwStSystRL muss diese nachträgliche Geltendmachung im Wege der Nacherhebung gemäß Art. 105 Abs. 4, Abs. 3, Art. 101 Abs. 1 UZK analog erfolgen (dazu c).

50

b) Die MwStSystRL steht der nachträglichen Geltendmachung der Einfuhrumsatzsteuer nicht entgegen.

51

Nach Art. 211 MwStSystRL ist es den Mitgliedstaaten überlassen, die Einzelheiten der Entrichtung der Mehrwertsteuer für die Einfuhr von Gegenständen festzulegen. Die Nacherhebung, also die nach der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr erfolgende Festsetzung des tatsächlich geschuldeten Abgabenbetrags, ist eine Frage der Entrichtung der Steuer im Sinne der MwStSystRL. Die Vorschrift steht im Abschnitt 2 über die "Einzelheiten der Entrichtung" gemeinsam mit anderen Vorschriften, die sich mit dem Erlass der erforderlichen Maßnahmen befassen, damit bestimmte Personen ihren Zahlungspflichten nachkommen (vgl. FG München, Urteil vom 20. Oktober 2016, 14 K 1770/13, juris, Rn. 39).

52

Anders als die Klägerin meint, ergibt sich aus Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL in der Fassung von Art. 1 Nr. 3 der Richtlinie 2009/69/EG vom 26. Juni 2009 (ABl. L 175, 12) kein Verbot der entsprechenden Anwendung von Art. 105 Abs. 4, Abs. 3 UZK. Zwar wird dort auf den "Zeitpunkt der Einfuhr" abgestellt. Dies bezieht sich jedoch nur auf die Vorlagepflicht bezüglich der in der Vorschrift genannten Unterlagen. Zur Frage der Nacherhebung verhält sich Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2 MwStSystRL nicht.

53

Tatsächlich folgt aus dem zeitlich gestreckten Tatbestand von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL zwingend, dass es eine Möglichkeit der Nacherhebung von Einfuhrumsatzsteuer geben muss. Der Nachweis über die tatsächliche Durchführung der innergemeinschaftlichen Lieferung, die sich nach dieser Vorschrift unmittelbar an die Einfuhr anschließen muss (unten 2. d aa), kann logischerweise erst nach der Einfuhrabfertigung erfolgen. Wenn ausgerechnet bei der Steuerbefreiung nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL die Nacherhebung ausgeschlossen wäre, wäre diese Tatbestandsvoraussetzung bedeutungslos. Bei der Einfuhrabfertigung kann sie noch nicht nachgewiesen werden und nach dem Weitertransport der Ware innerhalb der EU wäre die Nacherhebung ausgeschlossen.

54

c) Aus der Systematik der durch § 21 Abs. 2 UStG für entsprechend anwendbar erklärten Vorschriften des UZK ergibt sich, dass die nachträgliche Geltendmachung der Einfuhrumsatzsteuer durch die entsprechend anwendbaren Art. 105 Abs. 4, Abs. 3, Art. 101 Abs. 1 UZK erfolgt (so bereits zu Art. 220 ZK: FG München, Urteil vom 20. Oktober 2016, 14 K 1770/13, juris, Rn. 40). Sie verdrängen als speziellere Korrekturvorschriften die Art. 27 f. UZK analog und §§ 131 f. AO.

55

Die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer folgt denselben Regeln wie die Nacherhebung von Zöllen, weil sich die Geltendmachung und Einräumung der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG auch unter Berücksichtigung der Vorgaben der MwStSystRL und des eigenständigen Charakters der Einfuhrumsatzsteuer als Umsatzsteuer durch entsprechend anwendbare Vorschriften des UZK abbilden lässt: Die Verwendung des Verfahrenscodes 42 hat einen eigenen umsatzsteuerrechtlichen Erklärungsgehalt (dazu aa), der als Antrag (dazu bb) gemäß Art. 22 UZK analog (dazu cc) auf Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer verstanden werden muss, und der durch eine einfuhrumsatzsteuerrechtliche Entscheidung gemäß Art. 22 und Art. 5 Nr. 39 UZK analog beschieden wird (dazu dd). Der so beschriebene Ablauf im Hinblick auf die Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG ist strukturell vergleichbar mit der Geltendmachung der Zollfreiheit einer Ware im Rahmen der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr (dazu ee). Im Einzelnen:

56

aa) Die Verwendung des Verfahrenscodes 42 hat einen eigenständigen umsatzsteuerrechtlichen Erklärungsgehalt (In diesem Sinne bereits FG Hamburg, Urteil vom 6. Mai 2020, 4 K 116/15, juris, Rn. 43).

57

Nach der Beschreibung im Anhang B Titel II 2. Ziff. 1/10 (Verfahren) Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. L 343, 558; UZK-DVO) hat die Verwendung des Codes 42 in der Zollanmeldung die folgende Bedeutung (Hervorhebung hinzugefügt):

58

Gleichzeitige Überlassung zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr mit mehrwertsteuerbefreiender Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat[.]

59

Damit hat der Code die zollrechtliche Bedeutung, dass die Waren gemäß Art. 158 UZK in das Zollverfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr (Art. 201 UZK) angemeldet werden. In mehrwertsteuerrechtlicher Hinsicht wird eine Befreiung von der Einfuhrmehrwertsteuer geltend gemacht, weil sich eine ihrerseits steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung anschließt.

60

In den Erläuterungen zur Beschreibung des Codes 42 heißt es (a.a.O.; Hervorhebung hinzugefügt):

61

Die Mehrwertsteuerbefreiung [... wird] gewährt, da auf die Einfuhr eine unionsinterne Lieferung oder Beförderung der Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat folgt. In diesem Fall [ist] die Mehrwertsteuer [...] im Bestimmungsmitgliedstaat zu entrichten. Für dieses Verfahren müssen die betreffenden Personen die anderen Voraussetzungen gemäß Artikel 143 Absatz 2 der Richtlinie 2006/112/EG [...] erfüllen. Die nach Artikel 143 Absatz 2 der Richtlinie 2006/112/EG verlangten Angaben sind in D.E. 3/40 "Kennnummer für zusätzliche steuerliche Verweise" aufzuführen.

62

In Anhang B Titel II, Gruppe 3/40 Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (ABl. L 343, 1; UZK-DelVO) heißt es:

63

3/40. Kennnummer für zusätzliche steuerliche Verweise

64

Alle verwendeten relevanten Spalten der Datenanforderungstabelle:

65

Wird der Verfahrenscode 42 oder 63 verwendet, sind die gemäß Artikel 143 Absatz 2 der Richtlinie 2006/112/EG erforderlichen Angaben einzutragen.

66

Aus diesen Beschreibungen und Anweisungen in der UZK-DVO und der UZK-DelVO lässt sich ableiten, dass mit dem Verfahrenscode 42 in mehrwertsteuerrechtlicher Hinsicht ein eigenständiges, mithin einfuhrmehrwertsteuerrechtliches Verfahren codiert wird, das allein mehrwertsteuerrechtliche Voraussetzungen hat. Die Verknüpfung mit dem Zollrecht besteht insoweit, dass diese Befreiung von der Mehrwertsteuer materiellrechtlich davon abhängt, dass der Befreiungstatbestand - die innergemeinschaftliche Lieferung - unmittelbar auf die Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr erfolgt. Nur wegen dieser zeitlichen Verknüpfung von Mehrwertsteuerbefreiung und Zollverfahren muss die Steuerbefreiung gleichzeitig mit einer Zollanmeldung zur Überlassung von Waren in den zollrechtlich freien Verkehr geltend gemacht werden.

67

bb) Die soeben beschriebene "Geltendmachung" der Steuerbefreiung ist antragsgebunden (so i.E. bereits FG Baden-Württ., Urteil vom 26. Oktober 2010, 11 K 47/07, juris, Rn. 53, FG München, Urteil vom 20. Oktober 2016, 14 K 1770/13, juris, Rn. 45; Müller-Eiselt, in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 5 Rn. 200, Stand: August 2003). Konkret handelt es sich um einen einfuhrumsatzsteuerrechtlichen Antrag auf eine einfuhrumsatzsteuerrechtliche Entscheidung gemäß § 21 Abs. 2 UStG i. V. m. Art. 22 UZK analog. Dieser Antrag bildet das einfuhrumsatzsteuerrechtliche Pendant zur gleichzeitig abgegebenen Zollanmeldung gemäß Art. 158 UZK.

68

Das Antragserfordernis ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL. Danach setzt die Anwendung der Steuerbefreiung voraus, dass der Importeur den zuständigen Behörden bestimmte Angaben macht. Es steht der Einordnung des einfuhrumsatzsteuerrechtlichen Erklärungsgehalts des Codes 42 als Antrag auf eine Steuerbefreiung nicht entgegen, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung gesetzlich vorgegeben sind (a.A. Möller in Wäger, UStG, 2020, § 5 Rn. 47). Dagegen spricht schon, dass - anders als bei anderen Steuerbefreiungen nach § 5 UStG - der Einführer ein Wahlrecht hat, ob er im Falle einer sich an die Einfuhr anschließenden innergemeinschaftlichen Lieferung die wegen dieser Lieferung gewährte Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer geltend macht (dann: Verfahrenscode 42) oder dies unterlässt (dann: Verfahrenscode 40) und sich die dann entstehende Einfuhrumsatzsteuer erstatten lässt. Die Ausübung dieses Wahlrechts ist "eine auf den Erlass einer Entscheidung gerichtete [...] Willensäußerung gegenüber einer Zollbehörde", mit anderen Worten: ein Antrag (vgl. Roth, in Dorsch, Zollrecht, Art. 22 UZK, Rn. 17, Stand: 175. EL Mai 2018). In der Antragsgebundenheit kommt auch der Zweck der Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG zum Ausdruck, der in einer (fakultativen) Verfahrensvereinfachung liegt und nicht in einer materiellrechtlichen Entscheidung des Gesetzgebers, dass ein bestimmter Umsatz steuerfrei sein muss (Hillek/Müller, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 5 Rn. 246, Stand: 172. EL Mai 2017).

69

cc) Es ist Art. 22 UZK - und nicht Art. 158 UZK -, der auf diesen Antrag entsprechend anzuwenden ist, weil die erstgenannte Vorschrift in ihrer entsprechend anzuwendenden Formulierung dem inhaltlichen Begehren - Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG) - eine verfahrensmäßige Form gibt. Ein entsprechend angewandter Art. 22 Abs. 1 UZK lautet nämlich: "Beantragt eine Person eine Entscheidung im Zusammenhang mit der Anwendung der einfuhrumsatzsteuerrechtlichen Vorschriften, [...]".

70

Art. 158 Abs. 1 UZK kann dagegen nicht entsprechend angewendet werden. Die in Art. 158 Abs. 1 UZK verwendeten Begriffe "Zollverfahren" und "Zollanmeldung" müssten bei einer entsprechenden Anwendung auf die Einfuhrumsatzsteuer als "Einfuhrumsatzsteuerverfahren" und "Einfuhrumsatzsteueranmeldung" gelesen werden. Dies widerspräche der Systematik der MwStSystRL, weil sie weder ein "Einfuhrumsatzsteuerverfahren" noch eine "Einfuhrumsatzsteueranmeldung" kennt. Die MwStSystRL sieht für die Einfuhr kein gesondertes Verfahren der Überführung in den mehrwertsteuerrechtlich freien Verkehr vor. Die mehrwertsteuerrechtliche Einfuhr findet vielmehr grundsätzlich gemäß Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL durch die physische Verbringung einer Drittlandsware in die Union statt (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Campos vom 12. Januar 2016, Eurogate und DHL, C-226/14 und 228/14, Rn. 93; Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 17. November 2011, Véleclair, C-414/10, Rn. 45).

71

dd) Der Einfuhrabgabenbescheid vom 12. Dezember 2016 ist, soweit darin Einfuhrumsatzsteuer i.H.v. null Euro festgesetzt wurde, eine einfuhrumsatzsteuerrechtliche Entscheidung gemäß Art. 22 und Art. 5 Nr. 39 UZK analog, mit der der oben unter bb) beschriebene Antrag auf Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer beschieden wurde. Darin wurde der Klägerin gemäß Art. 101 Abs. 1 und 102 Abs. 1 Unterabs. 1 UZK analog die zu entrichtende Einfuhrumsatzsteuerschuld mitgeteilt. In den Kategorien des deutschen Rechts, auf das Art. 102 Abs. 1 Unterabs. 1 UZK analog verweist, handelt es sich um einen Verwaltungsakt (§ 118 AO) in Gestalt eines Steuerbescheids gemäß § 155 Abs. 1 AO, wobei offenbleiben kann, ob es sich um einen Freistellungsbescheid gemäß § 155 Abs. 1 S. 3 AO handelt. Anders als die Klägerin meint, schließen sich die Anwendung von Art. 5 Nr. 39 UZK analog und von §§ 118, 155 AO nicht gegenseitig aus. Das Unionsrecht lässt vielmehr in Art. 102 Abs. 1 Unterabs. 1 UZK analog Raum für eine weitergehende rechtliche Qualifizierung einer solchen Entscheidung im mitgliedstaatlichen Recht, die durch die §§ 118, 155 AO erfolgt ist. In Art. 102 Abs. 1 Unterabs. 1 UZK heißt es nämlich ausdrücklich, die (Zoll)Schuld wird dem (Zoll)Schuldner "in der Form mitgeteilt, die an dem Ort, an dem die Zollschuld entstanden ist [...], vorgeschrieben ist."

72

Die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung, die in § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG genannt sind, sind bei der Entscheidung gemäß Art. 22 UZK analog Besteuerungsgrundlagen im Sinne von § 199 Abs. 1 AO, die inzident bei der Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer zu prüfen sind (siehe unten 2. d). Dass sie gemäß § 157 Abs. 2 AO isoliert grundsätzlich nicht selbstständig angefochten werden können (so bereits FG München, Urteil vom 20. Oktober 2016, 14 K 1770/13, juris, Rn. 45, s.a. Jatzke, in Sölch/Ringleb, UStG, § 5 Rn. 18, Stand: 84. EL Sept. 2018), ist für den vorliegenden Rechtsstreit indes nicht relevant. Weder wird hierdurch die Klage unzulässig noch die Nacherhebung ausgeschlossen. Bezugspunkt der Nacherhebung gemäß Art. 105 Abs. 4 UZK analog ist nicht ein feststellender Bescheid über das Bestehen oder Nichtbestehen der Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG - einen solchen gibt es vorliegend nicht -, sondern - wie dargelegt - der Einfuhrabgabenbescheid vom 12. Dezember 2016, mit dem Einfuhrumsatzsteuer im Sinne von Art. 105 Abs. 4 UZK analog nicht buchmäßig erfasst wurde.

73

ee) Damit unterscheidet sich die Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer strukturell nicht von der Festsetzung von Zoll, bei der eine Zollbefreiung berücksichtigt wird. Die Mitteilung der Zollschuld gemäß Art. 101 Abs. 1 und 102 Abs. 1 Unterabs. 1 UZK durch den Erlass eines Einfuhrabgabenbescheids ist ebenfalls eine zollrechtliche Entscheidung (Roth, in Dorsch Art. 22 UZK, Rn. 12, Stand: 175. EL April 2018), die nach deutschem Recht ein Steuerbescheid gemäß § 155 Abs. 1 i. V. m. §§ 122, 157 AO ist. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Präferenzzolls oder die Anerkennung der Rückwareneigenschaft (Art. 203 UZK) sind Besteuerungsgrundlagen im Sinne von § 199 Abs. 1 AO, die inzident bei der Festsetzung von Zoll zu prüfen sind.

74

Der einzige Unterschied in der Gestaltung des Verfahrens zwischen der Geltendmachung einer Einfuhrumsatzsteuerbefreiung und einer Zollbefreiung besteht darin, dass eine Zollbefreiung im Rahmen einer Zollanmeldung zur Überführung in ein Zollverfahren gemäß Art. 158 Abs. 1 UZK geltend gemacht wird. Weil es - wie oben cc) dargelegt - kein Einfuhrumsatzsteuerverfahren gibt, kann es auch keine Einfuhrumsatzsteueranmeldung gemäß Art. 158 Abs. 1 UZK analog geben. Dies rechtfertigt keine unterschiedliche Behandlung von Zoll und Einfuhrumsatzsteuer im Hinblick auf die Nacherhebung, da eine Zollanmeldung im Sinne von Art. 5 Nr. 12, 158 Abs. 1 UZK der Spezialfall eines Antrags auf eine Entscheidung im Zusammenhang mit der Anwendung zollrechtlicher Vorschriften im Sinne von Art. 22 Abs. 1 UZK ist.

75

d) Der gemäß § 21 Abs. 2 UStG entsprechend auf die Nacherhebung von Einfuhrumsatzsteuer anwendbare Art. 105 Abs. 4 UZK ist somit so zu lesen, dass für den Fall, dass Einfuhrumsatzsteuer nach Art. 101 Abs. 1, 105 Abs. 1 Unterabs. 1 UZK analog nicht buchmäßig erfasst wurde, Art. 105 Abs. 3 UZK analog auch für die nachzuerhebende Einfuhrumsatzsteuer gilt. Nach Art. 105 Abs. 3 UZK analog muss die irrtümlich nicht entrichtete Einfuhrumsatzsteuer innerhalb von 14 Tagen festgesetzt werden.

76

Selbst wenn - quod non - der Senat Zweifel an dieser rechtlichen Bewertung hätte, könnte er den EuGH nicht fragen, nach welchen Vorschriften die Einfuhrumsatzsteuer nacherhoben werden müsste. In Abwesenheit von unionsrechtlichen Vorschriften, die diesen Aspekt regeln (siehe oben b), ist dies nämlich eine Frage nach der Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts, für die der EuGH nicht zuständig ist. Das gemäß § 21 Abs. 2 UStG entsprechend angewandte Zollrecht ist - wie oben a) aa) dargelegt - genauso mitgliedstaatliches Recht wie das UStG und die AO.

77

2. Die Voraussetzungen des so zu verstehenden 105 Abs. 4 UZK analog liegen hier vor. Der Beklagte ist für die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer zuständig (dazu a). Einfuhrumsatzsteuer wurde bei der Einfuhrabfertigung nicht buchmäßig erfasst (dazu b), obwohl eine Einfuhrumsatzsteuerschuld gemäß Art. 77 Abs. 1 Buchst. a) UZK analog, §§ 13 Abs. 2, 21 Abs. 2 UStG durch die umsatzsteuerliche Einfuhr in Deutschland (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG) entstanden ist (dazu c) und die Voraussetzungen der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG nicht vorlagen (dazu d). Die Klägerin ist Steuerschuldnerin gemäß Art. 77 Abs. 3 S. 1 UZK analog (dazu e).

78

a) Der Beklagte ist für die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer gemäß Art. 108 Abs. 1 S. 1 GG, § 1 Abs. 1 S. 2 und S. 3 ZollVG, § 12 Abs. 2 FVG zuständig. Nach Art. 108 Abs. 1 S. 1 GG wird die Einfuhrumsatzsteuer durch Bundesfinanzbehörden verwaltet. Die Sicherung der Einfuhrabgaben, zu denen auch die Einfuhrumsatzsteuer gehört, ist gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 und S. 3 ZollVG eine Aufgabe der Zollverwaltung. Innerhalb der Zollverwaltung sind die Hauptzollämter als örtliche Bundesbehörden für die Verwaltung der Einfuhrumsatzsteuer sachlich zuständig (§ 12 Abs. 2 FVG).

79

Anders als die Klägerin meint, ändert es an der Zuständigkeit des Beklagten nichts, dass die Nacherhebung darauf gestützt wird, dass die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung gemäß § 6a UStG, auf die § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG verweist, nicht erfüllt sind, und diese innergemeinschaftliche Lieferung nach Überlassung der Waren zum zollrechtlich freien Verkehr stattgefunden hat, zu einer Zeit also, als die Waren bereits Unionswaren waren und nicht mehr der zollamtlichen Überwachung unterlagen. Zwar ist die Umsatzsteuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a UStG) in einer Steuererklärung gegenüber dem zuständigen Finanzamt - und nicht gegenüber der Zollverwaltung - geltend zu machen. Vorliegend geht es jedoch um die Einfuhrumsatzsteuerfreiheit der Einfuhr, bei der die Umsatzsteuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung eine materielle Voraussetzung ist (dazu unten d aa) ist, die inzident geprüft wird. Für die Einfuhrumsatzsteuer ist nach den genannten Zuständigkeitsregeln allein der Beklagte zuständig.

80

Auch § 21 Abs. 2 UStG differenziert bei der entsprechenden Anwendbarkeit der zollrechtlichen Vorschriften nicht nach dem Stadium der zollrechtlichen Abfertigung. Aus der jeweiligen Eigenständigkeit von Zoll und Einfuhrumsatzsteuer folgt, dass die entsprechende Anwendbarkeit der zollrechtlichen Vorschriften auf die Einfuhrumsatzsteuer nicht von der gleichzeitigen (direkten) Anwendbarkeit der Zollvorschriften auf den zu regelnden Sachverhalt abhängig ist. Mit anderen Worten: Das Einfuhrumsatzsteuerrecht (in Gestalt der entsprechend anwendbaren Zollvorschriften) gilt für alle Aspekte der Einfuhrumsatzsteuer unabhängig davon, ob diese entsprechend anwendbaren Vorschriften in direkter Anwendung auch für den Zoll gelten.

81

b) Die Einfuhrumsatzsteuer, die gemäß Art. 201 Abs. 2 Buchst. b UZK bei der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr erhoben werden muss, wurde bei der Einfuhrabfertigung nicht buchmäßig erfasst. Stattdessen wurde mit Einfuhrabgabenbescheid vom 12. Dezember 2016 null Euro Einfuhrumsatzsteuer festgesetzt, weil der Beklagte der Klägerin die Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG gewährte. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob der ursprüngliche Bescheid - wie es typischerweise der Fall ist - formell bestandskräftig wird oder - wie im Streitfall - aufgehoben wurde.

82

c) Die Einfuhrumsatzsteuerschuld ist gemäß Art. 77 Abs. 1 Buchst. a) UZK analog, §§ 13 Abs. 2, 21 Abs. 2 UStG in Höhe der mit Einfuhrabgabenbescheid vom 31. Januar 2017 festgesetzten 183,83 Euro entstanden.

83

aa) Nach dem Wortlaut von Art. 77 Abs. 1 Buchst. a) UZK entsteht eine Einfuhrzollschuld durch die Überführung von einfuhrabgabenpflichtigen Nicht-Unionswaren zum zollrechtlich freien Verkehr. Nach den oben unter 1. a) dargestellten Grundsätzen ist diese Vorschrift in entsprechender Anwendung so zu verstehen, dass eine Einfuhrumsatzsteuerschuld entsteht durch die umsatzsteuerliche Einfuhr in Deutschland von Gegenständen, die sich nicht im freien Verkehr gemäß Art. 29 AEUV befinden (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG i. V. m. Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL und Art. 29 AEUV).

84

Da weder § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG noch das UStG im Übrigen den Begriff der Einfuhr näher umschreiben, muss er im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts (siehe oben 1. a) ermittelt werden. Mangels einer Begriffsklärung im deutschen Recht bietet § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG auch einen Auslegungsspielraum, der eine richtlinienkonforme Auslegung erlaubt (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Mai 1994, Habermann-Beltermann, C-421/92, Rn. 10).

85

Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL definiert die "Einfuhr eines Gegenstands" als einen physischen Vorgang (siehe oben 1. c cc), nämlich die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Art. 24 EGV, (heute: Art. 29 AEUV) befindet, in die Gemeinschaft (heute: Europäische Union). Als im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich gelten gemäß Art. 29 AEUV diejenigen Waren aus dritten Ländern, für die in dem betreffenden Mitgliedstaat die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle erhoben worden sind. Hieraus folgt zweierlei:

86

(1) Da gemäß Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL die Einfuhr die Verbringung einer Nicht-Freiverkehrsware ist, muss der Einfuhrvorgang jedenfalls dann abgeschlossen sein, wenn die verbrachte Nicht-Freiverkehrsware ihren Status ändert und zu einer Ware wird, die sich im Sinne von Art. 29 AEUV im freien Verkehr befindet.

87

(2) Art. 29 AEUV knüpft für die Überführung in den freien Verkehr an die Erfüllung der Einfuhrförmlichkeiten und die Zahlung der Einfuhrabgaben an. Dies ist bei der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art. 201 UZK der Fall.

88

Aus diesem Zusammenspiel von Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL und Art. 29 AEUV ergibt sich für den mehrwertsteuerrechtlichen Einfuhrbegriff Folgendes: Eine Einfuhr im mehrwertsteuerrechtlichen Sinne liegt jedenfalls dann vor, wenn eine Ware zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen worden ist und die Einfuhrabgaben gezahlt worden sind. Anders als die Klägerin meint, ist diese inhaltliche Verknüpfung von Einfuhrumsatzsteuer und Zoll keine Missachtung der jeweiligen Selbstständigkeit von Einfuhrumsatzsteuerrecht und Zollrecht. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer mehrwertsteuerrechtlichen Grundentscheidung: Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL verweist auf das Primärrecht, das wiederum auf das Zollrecht verweist.

89

Außerdem ergibt sich aus dem von Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL in Bezug genommenen Art. 29 AEUV der Ort der Einfuhr. Nach Art. 29 AEUV wird eine Nicht-Freiverkehrsware in dem Mitgliedstaat im mehrwertsteuerrechtlichen Sinne eingeführt, in dem sie zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen wird und Einfuhrabgaben gezahlt werden. Dieser primärrechtliche Regelungsgehalt wird von Art. 60 MwStSystRL aufgegriffen, der den grundsätzlichen Ort der Einfuhr als den Mitgliedstaat der Verbringung bezeichnet.

90

Dieser Einfuhrbegriff kommt auch in der Systematik der MwStSystRL zum Ausdruck (so i. E. bereits FG Baden-Württ., Urteil vom 14. November 2017, 11 K 1102/15, juris, Rn. 33). Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL steht nämlich im Titel IX MwStSystRL ("Steuerbefreiungen") und dem dortigen Kapitel 5, das mit "Steuerbefreiungen bei der Einfuhr" überschrieben ist. Dies setzt einen steuerbaren Umsatz i.S.v. Titel IV MwStSystRL (Art. 14 ff. MwStSystRL), hier in Form der Einfuhr (Art. 30 MwStSystRL), voraus. Wenn - wie die Klägerin meint - im Falle einer sich an die Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr unmittelbar anschließenden innergemeinschaftlichen Lieferung die Einfuhr erst in dem Mitgliedstaat erfolgen würde, in dem die Lieferung endet, hätte diese Fallkonstellation als Ausnahme von der Einfuhr als steuerbarem Umsatz (Art. 30 MwStSystRL) oder als Ausnahme von dem in Art. 60 MwStSystRL bestimmten Ort der Einfuhr geregelt werden müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Außerdem wäre es bei dem Normverständnis der Klägerin unmöglich, die Voraussetzungen von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL zu erfüllen. Diese Norm geht nämlich ersichtlich davon aus, dass sich die einfuhrmehrwertsteuerfreiheitsbegründende Lieferung an die Einfuhr anschließt. Nach der Sichtweise der Klägerin würde sich diese Reihenfolge umkehren: Zuerst würde eine innergemeinschaftliche Lieferung erfolgen, an die sich eine Einfuhr im Bestimmungsmitgliedstaat anschlösse.

91

Der Einwand der Klägerin, dass bei der Inanspruchnahme der Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG die Erwerbsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat die Funktion der Einfuhrumsatzsteuer übernehme, führt ebenfalls zu keiner anderen Bewertung. Es trifft zwar zu, dass bei einer ordnungsgemäßen Inanspruchnahme der Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG die Ware erstmals im Bestimmungsmitgliedstaat besteuert wird. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, wie dieses Ergebnis rechtstechnisch umgesetzt wird. Maßgeblich ist insoweit, dass der Zweck der Steuerbefreiung des Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL allein in einer Verfahrensvereinfachung für den Importeur besteht. Ihm wird die Befreiung von der Einfuhrmehrwertsteuer unmittelbar gewährt, ohne dass er sie umständlich über den Vorsteuerabzug geltend machen müsste (EuGH, Urteil vom 14. Februar 2019, Vetsch, C-531/17, Rn. 40; Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 6. September 2018, Vetsch, C-531/17, Rn. 53; s. a. Jatzke, in Sölch/Ringleb, UStG, § 5 Rn. 35, Stand: Sept. 2018). Eine Verschiebung der Besteuerungshoheit durch die Inanspruchnahme der von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL vorgesehenen Steuerbefreiung ist damit gerade nicht gewollt.

92

Auch aus der Profitube-Entscheidung des EuGH (Urteil vom 8. November 2012, C-165/11) ergibt sich nicht, dass eine Ware des freien Verkehrs i. S. v. Art. 29 AEUV noch nicht im mehrwertsteuerrechtlichen Sinne eingeführt ist. Zwar hält der EuGH es in dieser Entscheidung für möglich, dass auch eine Nicht-Unionsware Gegenstand einer Lieferung sein kann (Rn. 60 des Urteils). Er bezieht diese Aussage jedoch auf eine Lieferung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats (a.a.O.). Dieses Diktum ist nicht übertragbar auf die hier in Rede stehende Abgrenzung der Besteuerungshoheit des Eingangsmitgliedstaats (Deutschland) und des Empfangsmitgliedstaats (Mitgliedstaat A). Außerdem betraf die Profitube-Entscheidung eine Nicht-Unionsware. Im vorliegenden Fall war die Ware jedoch im Zeitpunkt des Transports von Deutschland in den Mitgliedstaat A, dessen rechtliche Qualifizierung die Klägerin in Frage stellt, bereits eine Unionsware geworden.

93

Zweifel an der hier vertretenen Auslegung von Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL i. V. m. Art. 29 AEUV bestehen auch vor dem Hintergrund der Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Eurogate/DHL (Urteil vom 2. Juni 2016, C-226/14 und C-228/14) und Federal Express (Urteil vom 10. Juli 2019, C-26/18) nicht. In diesen Verfahren ging es nämlich jeweils um die mehrwertsteuerrechtlichen Folgen einer einfachen zollrechtlichen Pflichtverletzung nach Art. 204 ZK, des vorschriftswidrigen Verbringens (Art. 202 Abs. 1 Buchst. a ZK) und der Entziehung aus zollamtlicher Überwachung (Art. 203 Abs. 1 ZK), die - dem formalen Ansatz des Zollrechts folgend - genauso zur Entstehung einer Zollschuld führen wie die Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr. Ob auch eine solche Pflichtverletzung zu einer Einfuhr im mehrwertsteuerrechtlichen Sinne führt, ließ (und lässt) sich der MwStSystRL nicht entnehmen. Zur Schließung dieser Lücke hat der EuGH das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Eingangs in den Wirtschaftskreislauf kreiert. Für die hier in Rede stehenden mehrwertsteuerrechtlichen Folgen der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr enthält die MwStSystRL jedoch - wie oben dargelegt - in Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL i. V. m. Art. 29 AEUV eine eindeutige Regelung. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Eingangs in den Wirtschaftskreislauf hat in diesen Normen seinen positivrechtlichen Niederschlag gefunden. Wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Ware in den Wirtschaftskreislauf eingegangen.

94

Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keine Veranlassung, die im Schriftsatz der Klägerin vom 17. Juli 2018, S. 8, gestellten Fragen an den EuGH zu richten.

95

Da im Streitfall die Waren am 12. Dezember 2016 zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen worden sind, sind sie in diesem Zeitpunkt auch im umsatzsteuerrechtlichen Sinne eingeführt worden, sodass die Einfuhrumsatzsteuerschuld gemäß Art. 77 Abs. 1 Buchst. a UZK analog entstanden ist.

96

bb) Die Einfuhrumsatzsteuerschuld ist in entsprechender Anwendung von Art. 77 Abs. 2 UZK im Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung entstanden. Hieran ändert es nichts, dass erst zu einem späteren Zeitpunkt feststand, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG nicht erfüllt sind (siehe unten d). Zum einen ordnet Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL im Hinblick auf den Zeitpunkt von Steuertatbestand und Steueranspruch einen Gleichlauf von Zoll und Mehrwertsteuer an. Zum anderen definiert der zeitlich gestreckte Tatbestand des § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung, nicht die Entstehung der Steuer. Wenn also zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Einfuhr feststeht, dass die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nicht vorliegen, muss die Steuer bei der Einfuhr entstanden sein. Eine auflösend bedingte Steuerbefreiung sieht die MwStSystRL nicht vor. Außerdem bieten weder die MwStSystRL noch das UStG Anhaltspunkte dafür, auf welchen anderen Zeitpunkt als den in Art. 77 Abs. 2 UZK genannten abgestellt werden sollte. Art. 70 MwStSystRL verweist auf den Zeitpunkt der Einfuhr, die - wie dargelegt - vorliegend mit der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr erfolgt.

97

d) Die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG i. V. m. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, 138 Abs. 1 MwStSystRL sind im Streitfall nicht gegeben.

98

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 Halbs. 1 UStG in der Fassung des Gesetzes vom 8. Dezember 2010 (BGBl. I 1768) ist die Einfuhr der Gegenstände, die von einem Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer im Anschluss an die Einfuhr unmittelbar zur Ausführung von innergemeinschaftlichen Lieferungen im Sinne von § 4 Nr. 1 Buchst. b und § 6a UStG verwendet werden, steuerfrei. Diese Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL, die folgenden Wortlaut hat:

99

Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer: [...] die Einfuhr von Gegenständen, die von einem [...] Drittland aus in einen anderen Mitgliedstaat als den Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung versandt oder befördert werden, sofern die Lieferung dieser Gegenstände durch den gemäß Artikel 201 als Steuerschuldner bestimmten oder anerkannten Importeur bewirkt wird und gemäß Artikel 138 befreit ist;

100

Im Streitfall sind die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung nicht erfüllt (dazu aa). Auch auf Gutglaubensschutz kann sich die Klägerin nicht berufen (dazu bb). Außerdem fehlt es an der für die Einfuhrumsatzsteuerfreiheit nötigen Identität zwischen dem Lieferer und einem Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer (dazu cc).

101

aa) Die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung i. S. v. § 4 Nr. 1 Buchst. b und § 6a UStG liegen nicht vor.

102

(1) In der Rechtsprechung des EuGH ist zwischenzeitlich geklärt, dass die Befreiung von der Einfuhrmehrwertsteuer gemäß Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL nur gewährt werden kann, wenn nach der Einfuhr tatsächlich eine innergemeinschaftliche Lieferung gemäß Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL - umgesetzt durch § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a UStG - durchgeführt wird (EuGH, Urteil vom 20. Juni 2018, C-108/17, Enteco Baltic, Rn. 83; Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi vom 22. März 2018, Enteco Baltic, Rn. 67; EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2018, Božicevic Ježovnik, C-528/17, Rn. 34, 39). Die Beweislast für das Vorliegen dieser Voraussetzungen trägt - den allgemeinen Beweislastregeln folgend - derjenige, der sich auf die Steuerbefreiung beruft (EuGH, Urteil vom 20. Juni 2018, C-108/17, Enteco Baltic, Rn. 67). Da § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG der Umsetzung von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, 138 Abs. 1 MwStSystRL dient, sind diese Grundsätze bei der Auslegung von § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG zu berücksichtigen.

103

Daraus wird deutlich, dass es - anders als die Klägerin meint - für die Steuerbefreiung nicht ausreichend ist, dass der Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer im Zeitpunkt der Einfuhr die in Umsetzung von Art. 143 Abs. 2 MwStSystRL in § 5 Abs. 1 Nr. 3 Halbs. 2 UStG genannten Angaben macht und nachgewiesen wird, dass die Ware dem Mitgliedstaat der Einfuhr verlassen hat. § 5 Abs. 1 Nr. 3 Halbs. 2 UStG beschreibt lediglich die Voraussetzungen, die im Zeitpunkt der Einfuhr belegt werden können und müssen. Sind sie erfüllt, wird - wie es im Streitfall geschehen ist - die Steuerbefreiung im Rahmen der Abfertigung zum zollrechtlich freien Verkehr gewährt. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich jedoch, dass die tatsächliche Durchführung einer innergemeinschaftliche Lieferung eine weitere materielle Voraussetzung der Steuerbefreiung ist. Da diese logischerweise zeitlich nur nach der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr stattfinden kann, kann die Prüfung, ob die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a UStG vorliegen, erst nachträglich erfolgen.

104

(2) Zu den Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung gehört es gemäß § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 UStG, dass der Abnehmer ein Unternehmer ist, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen erworben hat, oder dass der Abnehmer eine juristische Person ist. Dies deckt sich mit den Voraussetzungen von Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL. Spätestens seit dem Urteil des EuGH im Verfahren Enteco Baltic ist geklärt, dass die Identität dieses Abnehmers feststehen muss. In jenem Verfahren hatten die litauischen Behörden Enteco Baltic die Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer verweigert, weil sie Waren nicht an die Steuerpflichtigen in anderen Mitgliedstaaten, die in den Einfuhranmeldungen genannt waren, geliefert hatte, sondern an sonstige Abnehmer. Der EuGH entschied, dass die Steuerbefreiung nicht allein wegen eines in diesem Verhalten liegenden Verstoßes gegen die Mitteilungspflichten nach Art. 143 Abs. 2 Buchst. b MwStSystRL versagt werden dürfe (EuGH, Urteil vom 20. Juni 2018, Enteco Baltic, C-108/17, Rn. 58; Hervorhebung hinzugefügt):

105

Daher darf ... die Befreiung bei der Einfuhr grundsätzlich nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil die Waren an einen anderen Erwerber als den, dessen Nummer zum Zeitpunkt der Einfuhr angegeben wurde, geliefert wurden, sofern dargetan wird, dass auf die Einfuhr tatsächlich eine innergemeinschaftliche Lieferung folgt, die die in Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Befreiung erfüllt, und dass der Importeur die zuständige Behörde immer ordnungsgemäß über Änderungen der Identität der Erwerber informiert hat.

106

Daraus folgt, dass der Importeur unabhängig von den Angaben in der Zollanmeldung einen sonstigen Nachweis für das Vorliegen der Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erbringen darf. Unverzichtbar ist jedoch, dass die Identität des Erwerbers feststeht. Dies ist auch konsequent: Wenn eine Voraussetzung für die Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer die Durchführung einer ihrerseits umsatzsteuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung ist, kann das Vorliegen der Voraussetzungen einer solchen innergemeinschaftlichen Lieferung, zu der die Unternehmereigenschaft des Erwerbers gehört, nur dann festgestellt werden, wenn die Identität des Erwerbers bekannt ist.

107

Die klägerische Auffassung, dass der Erwerber nur im Rahmen des Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL, § 6a UStG - also bei der Geltendmachung der steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung gegenüber dem Finanzamt - benannt werden müsse, nicht aber "im Verfahren 42", steht im Widerspruch zur dargelegten Rechtsprechung des EuGH.

108

Es wäre auch mit dem Zweck von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL, der in der Verfahrensvereinfachung für den Importeur liegt - siehe oben c) und 1. c) bb) -, nicht zu vereinbaren, wenn die Inanspruchnahme dieser Verfahrensvereinfachung dazu führte, dass der Steuerschuldner unbekannt bliebe. Zwar mag es zutreffen, dass die Erhebungskompetenz eines Mitgliedstaats nicht davon abhängt, ob die Steuer in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich gezahlt worden ist. Darum geht es hier jedoch nicht. Wenn die von der Klägerin vertretene Auffassung, dass die Versendung in den Erwerbsmitgliedstaat für die Geltendmachung der Einfuhrumsatzsteuerbefreiung ausreiche, zuträfe, würde die Verfahrensvereinfachung dazu führen, dass die Mehrwertsteuer erstmals nicht mehr von einem Schuldner, der den mitgliedstaatlichen Steuerbehörden bekannt ist (weil er in der Zollanmeldung namentlich bezeichnet wird), geschuldet würde, sondern von einer unbekannten Person im Erwerbsmitgliedstaat. Bei einer solchen Betrachtungsweise würden - auch wenn im Streitfall keinerlei Anlass für betrügerisches Verhalten besteht - die weiteren Ziele der MwStSystRL negiert werden, insbesondere die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Missbräuchen (Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 6. September 2018, Vetsch, C-531/17, Rn. 35).

109

(3) Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin nicht bewiesen, dass sich an die Einfuhr eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 6a UStG, Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL angeschlossen hat. Im Streitfall ist nämlich die Identität des Abnehmers der Ware im Mitgliedstaat A ungeklärt. Damit kann außerdem nicht geprüft werden, ob die Voraussetzungen von § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 UStG erfüllt sind.

110

bb) Die Lieferung der Ware kann auch nicht gemäß § 6a Abs. 4 UStG als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung angesehen werden. Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen nach § 6a Abs. 1 UStG nicht vorliegen, so ist die Lieferung nach dieser Vorschrift gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte.

111

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Der Spediteur, der als vollmachtloser Vertreter mit der Zollanmeldung den Antrag auf Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer gestellt hat, gehört nicht zum geschützten Personenkreis des § 6a Abs. 4 UStG. Die Bestimmung dient ihrem eindeutigen Wortlaut nach dem Schutz des liefernden Unternehmers, der bei innergemeinschaftlichen Lieferungen weitgehend auf die Angaben des Abnehmers angewiesen ist. Mit der Regelung soll das Risiko einer Täuschung durch den Abnehmer zwischen dem gutgläubigen Unternehmer und dem Staat angemessen verteilt werden (FG München, Urteil vom 20. Oktober 2016, 14 K 1770/13, juris, Rn. 78).

112

Selbst wenn man den vollmachtlosen Vertreter in den Schutzbereich des § 6a Abs. 4 UStG einbeziehen wollte, lägen die Voraussetzungen nicht vor. Vorliegend beruhte die Versagung der Steuerfreiheit der Einfuhr nicht wie von § 6a Abs. 4 S. 1 UStG verlangt auf unrichtigen Angaben des Abnehmers - der B -, sondern darauf, dass der Lieferer nach der Einfuhr umdisponiert hat und die Ware an einen anderen - nach den klägerischen Angaben gewerblichen - Abnehmer im Mitgliedstaat A transportiert wurde.

113

cc) Außerdem scheitert die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG daran, dass die Lieferung nicht von einem Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer bewirkt wurde. Nach dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG muss die sich an die Einfuhr anschließende Lieferung von "einem Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer" durchgeführt werden. Damit wird die in Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL genannte Voraussetzung umgesetzt, dass die Lieferung "durch den gemäß Artikel 201 als Steuerschuldner bestimmten oder anerkannten Importeur bewirkt wird". Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer ist im Streitfall allein die Klägerin (siehe unten e). Die in der Zollanmeldung angegebene B hatte die Klägerin nicht bevollmächtigt. Die C, von der die Klägerin bevollmächtigt worden war, wurde irrtümlich in der Zollanmeldung nicht genannt. Als Grenzspediteurin hatte die Klägerin zu keinem Zeitpunkt Verfügungsmacht über die Ware i. S. v. § 3 Abs. 1 UStG und konnte die Lieferung daher nicht bewirken.

114

e) Die Klägerin ist Steuerschuldnerin gemäß §§ 13a Abs. 2, 21 Abs. 2 UStG i. V. m. Art. 77 Abs. 3 S. 1 UZK analog. Nach dem entsprechend anzuwendenden Art. 77 Abs. 3 S. 1 UZK ist Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer der zollrechtliche Anmelder. Anmelder ist die Person, die im eigenen Namen eine Zollanmeldung abgibt (Art. 5 Nr. 15 UZK). Dies ist vorliegend die Klägerin, weil sie zwar als Zollvertreterin gehandelt hat, jedoch keine Vertretungsmacht besaß, sodass sie gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 UZK als in eigenem Namen und eigener Verantwortung handelnde Person anzusehen ist.

115

Es verstößt nicht gegen das Unionsrecht, wenn das mitgliedstaatliche Recht den zollrechtlichen Vertreter ohne Vertretungsmacht zum Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer macht.

116

aa) Die Inanspruchnahme der Klägerin für die Einfuhrumsatzsteuer als Vertreterin ohne Vertretungsmacht kann im vorliegenden Fall schon deshalb nicht gegen Unionsrecht verstoßen, weil sie auch als Vertreterin mit Vertretungsmacht die Einfuhrumsatzsteuer schulden würde. Da die Klägerin vorliegend als indirekte Vertreterin aufgetreten ist, wäre sie auch bei wirksamer Bevollmächtigung als Anmelderin gemäß Art. 5 Nr. 15 UZK Zollschuldnerin gemäß Art. 77 Abs. 3 S. 1 UZK geworden und zwar unabhängig davon, ob sie B oder C vertreten hätte. In jedem Fall wäre die Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer daran gescheitert, dass die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung (oben d aa) nicht vorliegen.

117

bb) Selbst wenn die Klägerin - quod non - nur deshalb Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer gemäß Art. 77 Abs. 3 S. 1 UZK analog geworden wäre, weil sie als Vertreterin ohne Vertretungsmacht aufgetreten ist, würde dies nicht gegen Unionsrecht verstoßen.

118

(1) Die MwStSystRL verbietet nicht die Inanspruchnahme des zollrechtlichen Vertreters ohne Vertretungsmacht für die Einfuhrumsatzsteuer.

119

Art. 201 MwStSystRL stellt es den Mitgliedstaaten ausdrücklich frei, den Schuldner der Einfuhrmehrwertsteuer zu bestimmen. Den weiten Handlungsspielraum, den diese Vorschrift den Mitgliedstaaten einräumen will, betont der 43. Erwägungsgrund der MwStSystRL. Danach sollen die Mitgliedstaaten "den Einfuhrsteuerschuldner nach freiem Ermessen bestimmen können". Dafür, dass Art. 201 MwStSystRL die Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten nicht beschneiden soll, spricht auch die Entscheidung im Vorlageverfahren Pakora Plus (EuGH, Urteil vom 29. Juli 2010, C-248/09). Das vorlegende Gericht hatte gefragt, ob der Hauptverpflichtete eines gemeinschaftlichen Versandverfahrens oder der Endabnehmer der Ware die Mehrwertsteuer schulde und ob Umstände denkbar seien, unter denen diese Verpflichtung aufgeteilt werden könne. Als Antwort verwies der Gerichtshof (Rn. 51 f. des Urteils) lediglich auf den Wortlaut von Art. 21 Nr. 2 der ursprünglichen Fassung der Sechsten Richtlinie vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, 16), der mit Art. 201 MwStSystRL vergleichbar ist.

120

Auch aus dem Umstand, dass Art. 205 MwStSystRL den Art. 201 nicht nennt, wird deutlich, dass diese Richtlinie keine Vorgaben im Hinblick auf den Steuerschuldner machen will. Art. 205 MwStSystRL erlaubt es in den in den Art. 193-200 sowie 202-204 MwStSystRL genannten Fällen, andere Personen als den Steuerschuldner zur Entrichtung der Steuerschuld heranzuziehen. Damit werden mit Ausnahme des Schuldners der Einfuhrmehrwertsteuer sämtliche im Abschnitt über den Steuerschuldner (Art. 192a-205 MwStSystRL) genannten Steuerschuldner in Bezug genommen. Dass der Schuldner der Einfuhrmehrwertsteuer in Art. 205 MwStSystRL nicht genannt wird, kann nur so gedeutet werden, dass für diese Personengruppe eine über Art. 201 MwStSystRL hinausgehende Klarstellung des mitgliedstaatlichen Handlungsspielraumes nicht für erforderlich gehalten wurde.

121

Anders als die Klägerin meint, ergibt sich aus anderen Vorschriften der MwStSystRL kein Verbot, den zollrechtlichen Vertreter ohne Vertretungsmacht zum Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer zu machen.

122

Der Senat hat grundsätzliche Bedenken, Beschränkungen im Hinblick auf die Person des Steuerschuldners außerhalb der Art. 192a-205 MwStSystRL zu suchen. Dies widerspräche nämlich der Systematik der MwStSystRL, die die Person des Steuerpflichtigen im Titel XI regelt, während etwa der steuerbare Umsatz, Steuertatbestand und Steueranspruch sowie Steuerbefreiungen in anderen Titeln der MwStSystRL behandelt werden (so i.E. auch die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 6. November 2014, C-499/13, Macikowski, Rn. 60, nach denen die Art. 193-205 MwStSystRL abschließend regeln, wer Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus ist).

123

Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die MwStSystRL den Mitgliedstaaten bei der Benennung des Schuldners der Einfuhrumsatzsteuer Grenzen setzen wollte, wären diese nicht überschritten: Es ist der MwStSystRL nicht fremd, zur Sicherung des Steueranspruchs Personen zu Steuerschuldnern zu machen, die - wie die Klägerin - selbst keine steuerbaren Umsätze ausführen. Ein Beispiel hierfür ist der bereits oben erwähnte Art. 205 MwStSystRL (hierzu EuGH, Urteil vom 26. März 2015 C-499/13, Macikowski). Darüber hinaus erlaubt Art. 204 Abs. 1 MwStSystRL ausdrücklich Steuervertreter zu Steuerschuldnern zu machen, sofern der eigentliche Steuerschuldner nicht in der Union ansässig ist. Auf den damit genannten Fiskalvertreter nimmt Art. 143 Abs. 2 Buchst. a MwStSystRL Bezug. Damit ist aus Sicht des Senats belegt, dass gerade bei der hier in Rede stehenden Beantragung einer Einfuhrumsatzsteuerbefreiung ein Steuervertreter involviert sein kann, der die Steuer schuldet.

124

Im Übrigen würde die von der Klägerin vertretene Auffassung dazu führen, dass im vorliegenden Fall überhaupt kein Steuerschuldner vorhanden wäre: B ist nicht Steuerschuldnerin, weil sie nicht vertreten wurde. C trat bei der Zollanmeldung in keiner Weise in Erscheinung und der Empfänger der Waren im Mitgliedstaat A ist unbekannt. Ein solches Ergebnis kann von der MwStSystRL nicht gewollt sein.

125

Anders als die Klägerin meint, folgt aus dem Umstand, dass Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL für die Steuerbefreiung verlangt, dass die Lieferung "durch den gemäß Art. 201 als Steuerschuldner bestimmten oder anerkannten Importeur bewirkt" werden muss, nicht, dass die indirekte Vertretung bei der Beantragung der Steuerbefreiung ausgeschlossen ist. Die Klägerin ist als indirekte Vertreterin gemäß Art. 77 Abs. 3 S. 1 UZK analog Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer. Sie selbst kann mangels Verfügungsmacht die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung nicht bewirken. Dies ist jedoch dem indirekt Vertretenen möglich, der gemäß Art. 77 Abs. 3 S. 2 UZK analog ebenfalls zum Steuerschuldner wird und - abhängig von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den vereinbarten Lieferbedingungen - Verfügungsmacht über die Ware hat. Sofern in dieser Person die Voraussetzungen von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL erfüllt sind, erlaubt es diese Vorschrift, die Steuerbefreiung auch gegenüber einem anderen Steuerschuldner - etwa dem indirekten Vertreter - zu gewähren. In diesem Sinne wurde Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL auch in § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG durch Verwendung des unbestimmten Artikels umgesetzt. Danach ist es nämlich ausreichend, dass ein Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer - also auch der indirekt Vertretene - die innergemeinschaftliche Lieferung mit einfuhrumsatzsteuerbefreiender Wirkung auch für den indirekten Vertreter ausführt. Anders als die Klägerin meint, folgt aus der Rn. 69 des Urteils Enteco Baltic nicht, dass nur derjenige, der die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung ausführt, in den Genuss der Steuerbefreiung kommen könne. In Rn. 69 dieses Urteils geht es nur allgemein um den "Importeur" im Rahmen einer Prüfung, welche Dokumente zum Nachweis der Voraussetzungen von Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL anerkannt werden können. Zu der hier in Mitte stehenden Problematik verhält sich das Urteil dagegen nicht.

126

Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL schließt - anders als die Klägerin vorgetragen hat - auch nicht generell die Inanspruchnahme eines Vertreters ohne Vertretungsmacht aus. Zwar kann ein Vertreter ohne Vertretungsmacht in der Regel die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht erfüllen. Die Unmöglichkeit, die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung zu erfüllen, führt jedoch keinesfalls zu dem Schluss, dass diese Person dann schon nicht Steuerschuldner werden kann.

127

(2) Auch aus dem übrigen Unionsrecht lassen sich keine Beschränkungen im Hinblick auf die Inanspruchnahme der Klägerin ableiten. In der Rechtssache Vetsch hat die Generalanwältin Kokott die primärrechtlichen Grenzen des mitgliedstaatlichen Handlungsspielraums, den Art. 201 MwStSystRL gewährt, ausgelotet. Dabei ging es strukturell um die auch im vorliegenden Verfahren inmitten stehende Frage, ob zollrechtliche Wertungen - hier die Zollschuldnerschaft des Vertreters ohne Vertretungsmacht - auf die MwStSystRL übertragen werden können (Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 6. September 2018, Vetsch, C-531/17, Rn. 49). Nach Auffassung der Generalanwältin sei eine auf das Zollrecht gestützte verschuldensunabhängige Schuldnerschaft der Einfuhrmehrwertsteuer ein unverhältnismäßiger Eingriff in die unternehmerische Handlungsfreiheit, wenn jemandem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt würde, weil er gutgläubig in einen betrugsbehafteten Umsatz einbezogen war (Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 6. September 2018, Vetsch, C-531/17, Rn. 50 f.; Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 6. November 2014, Macikowski, C-499/13, Rn. 63). Eine derartige Konstellation ist im Streitfall nicht gegeben. Die Klägerin wird nicht verschuldensunabhängig in Anspruch genommen. Sie ist vielmehr als Vertreterin im Zollrechtsverkehr aufgetreten und hat es dabei fahrlässig versäumt, als Vertreterin des Unternehmens aufzutreten, von dem sie bevollmächtigt worden ist. In dieser Konstellation hat die Klägerin selbst die Ursache für ihre Inanspruchnahme gesetzt.

II.

128

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wurde gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.

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