Gerichtsbescheid vom Finanzgericht Hamburg (1. Senat) - 1 K 2/19
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt den Erlass einer Kindergeldrückforderung.
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Auf ihren Antrag hin erhielt die Klägerin Kindergeld aufgrund eines Kindergeldfestsetzungsbescheides der Familienkasse ... vom 20. April 2009 ab Oktober 2008 für ihre am ... geborene und seit Oktober 2008 bei der Klägerin in Deutschland lebende Tochter.
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Auf Anfrage der Familienkasse ... teilte die Klägerin dieser unter dem 15. August 2011 mit, dass ihre Tochter seit 15. Dezember 2010 bei den Großeltern in der Ukraine lebe, um dort zu studieren. Ausweislich einer durch die Klägerin vorgelegten von der ... University in D, Ukraine, ausgestellten Bescheinigung ergibt sich, dass das Studium von September 2011 bis voraussichtlich 2016 dauern wird.
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Durch Bescheid vom 10. August 2016 hob die Familienkasse ... die Festsetzung von Kindergeld für die Tochter der Klägerin ab September 2016 auf. Am 3. November 2016 wurde die Klägerin aufgefordert, einen Nachweis über den Abschluss der Schulausbildung vorzulegen. Eine Reaktion der Klägerin erfolgte hierauf nicht. Daraufhin hob die Familienkasse ... durch Bescheid vom 2. Dezember 2016 die Festsetzung von Kindergeld von Oktober 2011 bis einschließlich August 2016 auf und forderte von der Klägerin das überzahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 10.952 € zurück.
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Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem "Widerspruch" vom 7. Dezember 2016. Sie bitte um "Aufschub der Zahlung von 10.952 €" bis zur Entscheidung über den Einspruch. Bereits mit Schreiben vom 28. Oktober 2016 habe sie sich an die Familienkasse ... gewandt. Außerdem habe ihr Ehemann mehrfach telefonisch die Familienkasse ... kontaktiert, um einen Aufschub zur Einreichung der geforderten Unterlagen zu erwirken. Bei einem dieser Anrufe habe ihr Ehemann erfahren, dass das Schreiben vom 28. Oktober 2016 wohl nicht bei der Familienkasse ... eingegangen sei. Zugleich reichte die Klägerin eine Kopie ihres Schreibens vom 28. Oktober 2016 ein, in dem sie Fristverlängerung für die Vorlage der fehlenden Unterlagen beantragte, da es gerade bei den Unterlagen aus der Ukraine länger dauere, diese zu beschaffen.
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Ebenfalls im Dezember 2016 reichte die Klägerin ein Schreiben ihrer Tochter ein, aus dem sich ergibt, dass diese am 9. Oktober 2011 aus der Ukraine nach Deutschland zurückgekehrt sei. Ihr Studium habe sie aus gesundheitlichen und psychischen Gründen abbrechen müssen.
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Per E-Mail vom 13. Januar 2017 teilte die Klägerin der Familienkasse ... mit, sie habe der Familienkasse bereits schriftlich mitgeteilt, dass ihre Tochter aus der Ukraine zurückgekehrt sei. Dieses Schreiben habe sie in den Hausbriefkasten der Beklagten eingeworfen. Nachweise darüber, was ihre Tochter seitdem gemacht habe, werde sie einreichen, sobald sie ihr vorlägen.
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Durch Bescheid vom 24. Januar 2017 wurde der Klägerin Aussetzung der Vollziehung bewilligt.
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Am 1. März 2017 teilte die Klägerin der Familienkasse ... mit, sie habe bereits am 14. Oktober 2011 persönlich in den Hausbriefkasten der Familienkasse ... ein Schreiben folgenden Inhalts eingeworfen:
"An die Familienkasse-...
Hiermit möchte ich, A, geb. ..., meine Kundennummer: xxx, in Kenntnis setzten und benachrichtigen das meine Tochter, B, geb. ..., ihre Studium in der Ukraine, das sie am 01.09.2011 begonnen hatte, leider aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen abbrechen musste. Sie ist am 09.10.2011 aus der Ukraine zurück nach Deutschland gekommen.
MfG, A Hamburg, den 14.10.2011"
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Im Hinblick auf die durch die Klägerin zwischenzeitlich eingereichten Nachweise half die Familienkasse ... dem Einspruch der Klägerin teilweise ab und wies ihn für die Zeiträume November 2012 bis August 2013, Oktober 2013 und November 2014 bis August 2016 durch Einspruchsentscheidung vom 7. April 2017 als unbegründet zurück. Der Rückforderungsbetrag reduzierte sich dadurch auf 6.168 €.
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Ihre dagegen gerichtete Klage, die unter dem Aktenzeichen 1 K 156/17 beim Finanzgericht Hamburg anhängig war, nahm die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 25. April 2018 zurück.
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Die Klägerin beantragte zum einen durch einen Schriftsatz vom 2. August 2017 im obengenannten finanzgerichtlichen Verfahren, der durch die dort beklagte Familienkasse ... an den Inkasso-Service der Bundesagentur für Arbeit Recklinghausen weitergeleitet wurde, als auch mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 unmittelbar bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso Service den Erlass der Rückforderung aus Billigkeitsgründen. Sie habe in den Zeiten, für die Kindergeld zu Unrecht an sie gezahlt worden sei, SGB II Leistungen bezogen mit der Folge, dass das Kindergeld auf diese Leistungen voll angerechnet worden sei. Im Hinblick darauf habe sie sich nicht an dem Kindergeld bereichert. Auf Anforderung der Beklagten reichte die Klägerin Bescheide zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts des jobcenter team.arbeit.hamburg vom 23. Mai 2012, 27. Dezember 2012, 3. Juni 2013, 15. Juli 2014, 18. Dezember 2014, 2. Juni 2015, 5. Januar 2016 sowie 6. Juni 2016 ein, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird.
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Mit Schreiben vom 19. Oktober 2017 wandte sich der Inkasso-Service der Agentur für Arbeit Recklinghausen an die Familienkasse ... und bat um Beantwortung verschiedener Fragen auf dem dem Schreiben beigefügten Vordruck unter anderem zu der Erfüllung von Mitwirkungspflichten durch die Klägerin. Die Familienkasse ... beantwortete diese Anfrage am 1. November 2017 durch Rückübersendung des ausgefüllten Formblattes, auf dem sie durch Setzen eines Kreuzes angab, die Forderung sei durch Verletzung der Mitwirkungspflicht entstanden.
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Durch Bescheid vom 2. Januar 2018 lehnte die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service den Antrag auf Erlass der Forderung ab. Die entstandene Überzahlung beruhe nach den dort vorliegenden Erkenntnissen auf einer Verletzung der Mitteilungspflichten, weshalb der Erlass der Forderung nicht in Betracht komme. Eine sachliche Unbilligkeit sei deshalb nicht gegeben. Gründe für eine persönliche Unbilligkeit seien nicht vorgetragen worden.
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Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Einspruch vom 5. Februar 2018. Zur Begründung trägt sie Folgendes vor: Hinsichtlich der im angefochtenen Bescheid angeführten "Verletzung der Mitteilungspflichten" sei sie sich keiner Schuld bewusst und der Meinung, die amtlichen Stellen zu jeder Zeit hinreichend mit Belegen versorgt zu haben. Überdies habe sie bei dem Bezug von SGB II-Leistungen zu jeder Zeit den Kindergeldbezug angegeben. Im Hinblick darauf seien ihr genau diese Beträge von den ihr zustehenden SGB II-Leistungen bereits abgezogen worden. Wenn sie nunmehr rückwirkend diese Kindergeldleistungen wieder erstatten müsse, so fehlten ihr diese doch bereits bei den bezogenen SGB II-Leistungen. Die Erstattung der Kindergeldleistungen habe bereits dadurch stattgefunden, dass ihr diese Leistungen bereits von ihrem SGB II Bezug abgezogen worden seien. Wenn sie nun nochmals Kindergeld zurückzuzahlen hätte, so würde sie doppelt bestraft und im Ergebnis deutlich unter dem Mindestlebensunterhalt landen. Dies könne schlicht nicht richtig sein.
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Durch Einspruchsentscheidung vom 7. März 2018 wies die Beklagte den Einspruch der Klägerin zurück. Die Rückforderung resultiere aus dem Umstand, dass die Einspruchsführerin der zuständigen Familienkasse nicht rechtzeitig Mitteilung über die Veränderung der Verhältnisse bei ihrer Tochter gemacht habe. Die Klägerin habe der Familienkasse nicht unverzüglich mitgeteilt, dass das Kind sein Studium in der Ukraine im September 2011 aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen habe, nach Deutschland zurückgekehrt, anschließend teilweise arbeitssuchend gemeldet gewesen sei und im November 2011 eine Nebentätigkeit aufgenommen habe. Erst im Dezember 2016 (Eingang bei der Familienkasse am 21. Dezember 2016) habe das Kind der Familienkasse erstmals mitgeteilt, dass sie das Studium abgebrochen habe und am 9. Oktober 2011 nach Deutschland zurückgekehrt sei und anschließend zeitweise arbeitssuchend und ausbildungsplatzsuchend gewesen sei. Die Klägerin sei damit ihrer Mitwirkungspflicht aus § 68 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht nachgekommen. Allein der Umstand, dass der Klägerin das Kindergeld auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet worden sei, stelle noch keinen Grund für einen Billigkeitserlass dar. Vielmehr sei im Billigkeitsverfahren das Verhalten des Kindergeldberechtigten, des Sozialleistungsträgers und der Familienkasse zu würdigen und abzuwägen. Im vorliegenden Fall sei der Familienkasse kein Fehlverhalten anzulasten, das für die Überzahlung des Kindergeldes ursächlich geworden wäre. Im Rahmen der Ermessensabwägung sei zu berücksichtigen, dass eine generelle Verpflichtung zum Erlass des Kindergeldrückforderungsanspruchs bei einer Anrechnung auf die bezogenen SGB II-Leistungen die Funktionsfähigkeit der Familienkassen erheblich gefährdet würde. Denn für den betroffenen Kindergeldberechtigten und Empfänger von SGB II-Leistungen bestünde dann keine Veranlassung, seinen Mitwirkungspflichten nachzukommen, weil das Vermeiden dieses Aufwandes für ihn folgenlos bliebe. Hierdurch wäre die Arbeit der Familienkasse erheblich beeinträchtigt, da sie zur Klärung der Anspruchsvoraussetzungen auf die Mitwirkung des Kindergeldberechtigten angewiesen sei. Auch eine sachliche Unbilligkeit der Rückforderung sei nicht gegeben.
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Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 12. April 2018 erhobenen Klage. Es sei schon eine sachliche Unbilligkeit gegeben, da sie Leistungen nach SGB II bezogen habe und das rückgeforderte Kindergeld auf diese SGB II-Leistungen voll angerechnet worden sei. Daneben liege auch eine persönliche Unbilligkeit vor. Die wirtschaftliche Existenz der Klägerin sei erheblich gefährdet durch die Rückforderung. Sie beziehe Bezüge nach SGB II, im Wege der Rückforderung rechne der Leistungsträger auf und zahle ihr ihre SGB II-Ansprüche nicht mehr aus. Schon durch den Umstand, dass sie SGB II bezugsberechtigt sei, liege ihre Bedürftigkeit auf der Hand. Überdies habe sie die Überzahlung des Kindergeldes nicht durch ihr eigenes Verhalten oder die Verletzung von Mitwirkungspflichten herbeigeführt. Bereits mit Schreiben vom 14. Oktober 2011 habe sie die Familienkasse über den Abbruch des Studiums ihrer Tochter in der Ukraine unterrichtet. Das Schreiben habe sie am selben Tag persönlich im Beisein ihres Ehemannes in den Hausbriefkasten der Familienkasse eingeworfen.
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Die Klägerin beantragt,
den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 02.01.2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.03.2018 aufzuheben und der Klägerin eine Kindergeldrückforderung in Höhe von 5.315,50 € aus Billigkeitsgründen zu erlassen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung trägt sie vor: Ein Erlass aus Billigkeitsgründen könne gerechtfertigt sein, wenn der Berechtigte im Zeitraum des Kindergeldbezugs Leistungen nach dem SGB II unter Anrechnung des Kindergeldes erhalten habe und eine nachträgliche Anpassung dieser Leistungen im Hinblick auf die Rückforderung des Kindergeldes vom Leistungsträger versagt werde. Bei der Entscheidung über den Erlass sei allerdings unter anderem das Verhalten des Kindergeldberechtigten zu berücksichtigen. Nach ihrer Dienstanweisung sei ein Erlass auszusprechen, wenn die Überzahlung des Kindergeldes nicht auf das Verhalten des Berechtigten zurückzuführen sei. Zu versagen sei der Erlass regelmäßig dann, wenn der Berechtigte die ungerechtfertigte Weiterzahlung und damit auch die Überzahlung durch eigenes Verhalten bzw. Verletzung der Mitwirkungspflichten herbeigeführt habe. Die Klägerin habe ihre Mitwirkungspflichten dadurch verletzt, dass sie es unterlassen habe, die Familienkasse über den Abbruch des Studiums ihrer Tochter zu unterrichten. Das nunmehr von der Klägerin vorgelegte Schreiben vom 14. Oktober 2011 an die Familienkasse weise weder einen Eingangsstempel noch ein Scandatum auf. Es finde sich auch nicht in der Kindergeldakte der Klägerin. Allerdings müsse der Klägerin nach ihrem eigenen Vortrag bewusst gewesen sein, dass die Aufgabe des Studiums Auswirkungen auf den Kindergeldanspruch haben werde. Es sei daher verwunderlich, dass die Klägerin ohne die Vorlage anderer Ausbildungsnachweise das Kindergeld so lange entgegengenommen habe, ohne sich veranlasst zu sehen, Rücksprache mit der Familienkasse zu halten wegen der Rechtmäßigkeit der Zahlung. Auch die Voraussetzungen für einen Erlass aus persönlichen Gründen seien nicht gegeben. Es sei nicht erkennbar, dass sich die Situation der Klägerin von solchen Situationen abhebe, die bereits durch gesetzlichen Pfändungsschutz oder behördliche Vollstreckungsmaßnahmen berücksichtigt werden könnten.
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Dem Gericht hat die eAkte Inkasso zum Aktenzeichen xxx vorgelegen. Das Gericht hat die Akte zum Verfahren 1 K 156/17 beigezogen nebst dem für dieses Verfahren eingeholten Ausdruck der bei der Familienkasse ... geführten elektronischen Kindergeldakte zur Kindergeldnummer xxx.
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Die Berichterstatterin hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Ehemannes der Klägerin, des Zeugen C, zur Frage des Zugangs eines Schreibens der Klägerin vom 14. Oktober 2011 bei der Familienkasse .... Insoweit wird auf das Protokoll des Erörterungs- und Beweisaufnahmetermins am 17. November 2020 verwiesen.
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Nach Durchführung der Beweisaufnahme hat die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 3. Dezember 2020 eine Teilforderung in Höhe von 368 € wegen nachgewiesener Anrechnung des Kindergeldes auf die Sozialleistungen erlassen (Kindergeldrückforderung für die Monate November und Dezember 2012). Eine prozessbeendende Erklärung hat die Klägerin daraufhin nicht abgegeben.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Gericht entscheidet gemäß § 90a Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Gerichtsbescheid.
II.
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Die Klage hat nur teilweise Erfolg. Soweit sie sich vollumfänglich gegen die Ablehnung des Erlasses durch die Beklagte richtet, ist die Klage bereits unzulässig (dazu unter 1.), im Übrigen ist die Klage zwar zulässig, hat in der Sache jedoch nur teilweise Erfolg (dazu unter 2.).
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1. Die auf die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung des Erlasses der Kindergeldrückforderung gerichtete Klage ist insoweit unzulässig, als die Beklagte der Klägerin im laufenden Klagverfahren den Erlass hinsichtlich eines Teilbetrages in Höhe von 368 € bewilligt hat. Insoweit ist das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entfallen, weil sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt hat.
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Ein Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt, wenn ein Ereignis, das nach Rechtshängigkeit eingetreten ist, alle streitbefangenen Sachfragen gegenstandslos gemacht hat (BFH, Beschluss vom 23. Mai 2016, X R 54/13, BFH/NV 2016, 1457, juris Rn. 19 m.w.N.). Dies ist vorliegend insoweit der Fall, als die Beklagte der Klägerin hinsichtlich der Rückforderung betreffend die Monate November und Dezember 2012 den begehrten Forderungserlass gewährt und damit dem klägerischen Antrag hinsichtlich dieses Teils der Forderung vollumfänglich entsprochen hat. Die anwaltlich vertretene Klägerin hat daraufhin eine (Teil-)Erledigungserklärung nicht abgegeben.
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2. Im Übrigen hat die zulässige Klage in der Sache nur insoweit Erfolg, als die angefochtenen Bescheide aufzuheben waren, weil sie rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 101 FGO). Da sowohl der ablehnende Bescheid vom 2. Januar 2018 als auch die Einspruchsentscheidung vom 7. März 2018 von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurden, konnte das Gericht weder eine Verpflichtung zur Vornahme des von der Klägerin begehrten Erlasses nach § 101 Satz 1 FGO aussprechen, noch die Verpflichtung, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Insoweit war die Klage abzuweisen.
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Nach § 227 Abgabenordnung (AO) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehören auch Erstattungsansprüche nach § 37 Abs. 2 AO in Bezug auf das als Steuervergütung gezahlte Kindergeld, vgl. § 31 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG).
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a) Die für eine Entscheidung über den Erlassantrag der Klägerin nach § 227 AO zuständige Finanzbehörde ist die Familienkasse ..., die auch den bestandskräftigen Bescheid über die Aufhebung und Rückzahlung des zu Unrecht gegenüber der Klägerin festgesetzten Kindergeldes vom 2. Dezember 2016 erlassen hat, nicht der Inkasso-Service. Dem Inkasso-Service fehlte die sachliche Zuständigkeit für die Entscheidung über den von der Klägerin beantragten Erlass (vgl. auch FG München, Gerichtsbescheid vom 3. Juli 2020, 5 K 2783/19, juris Rn. 16 und Urteil vom 7. Juli 2020, 5 K 2557/19, juris Rn. 20, FG Düsseldorf, Urteil vom 14. Mai 2019, 10 K 3317/18 AO, juris Rn. 23, von einer örtlichen Unzuständigkeit ausgehend hingegen FG Sachsen, Urteil vom 7. März 2018, 8 K 15327/17, juris Rn. 10).
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Nach § 16 AO i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 des Gesetzes über die Finanzverwaltung (FVG) ist das Bundeszentralamt für Steuern sachlich für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62-78 EStG zuständig. Hierfür stellt die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG dem Bundeszentralamt für Steuern ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung, welche insoweit Finanzbehörden gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO darstellen. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG wiederum kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten an eine andere Familienkasse übertragen.
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Zuletzt hat der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit durch Beschluss vom 24. Oktober 2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020) wie zuvor durch Beschluss vom 20. September 2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Oktober 2018) und Beschluss vom 14. April 2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Mai 2016) die örtliche Zuständigkeit gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 S. 4 FVG für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes auf die regionale Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord übertragen.
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Dem Inkasso-Service Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen ist weder durch die vorstehenden Vorstandsbeschlüsse noch durch andere dem Senat bekannte Vorstandsbeschlüsse die Zuständigkeit für Entscheidungen im vorliegend betroffenen Erhebungsverfahren betreffend den Familienausgleich übertragen worden.
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Da es sich bei der Entscheidung über den Erlass um eine Ermessensentscheidung handelt, liegt bei der Verletzung der Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit ein stets beachtlicher Verfahrensfehler vor. § 127 AO ist insoweit nicht anwendbar (vgl. BFH, Urteil vom 19. April 2012, III R 85/11, BFH/NV 2012, 1411, juris Rn. 11 ff., FG München, Gerichtsbescheid vom 3. Juli 2020, 5 K 2783/19, juris Rn. 16 und Urteil vom 7. Juli 2020, 5 K 2557/19, juris Rn. 19; FG Düsseldorf, Urteil vom 14. Mai 2019, 10 K 3317/18 AO, juris Rn. 25 ff.).
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b) Die Beklagte war sachlich auch nicht für die Entscheidung über den Einspruch gegen die Ablehnung des Erlasses zuständig. Eine Heilung des Zuständigkeitsmangels des Ablehnungsbescheids durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Beklagte kommt daher nicht in Betracht (so aber im Ergebnis FG Düsseldorf, Urteil vom 22. Januar 2020, 9 K 2688/19 KV, juris Rn. 31 ff.). Eine Vorschrift, wonach der Beklagten die sachliche Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergelds, also für sämtliche Rechtsbehelfsverfahren im Erhebungsangelegenheiten durch den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit übertragen werden durfte, ist nicht ersichtlich.
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Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit konnte seine Entscheidung, die Beklagte als für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergelds zuständige Finanzbehörde zu bestimmen, jedenfalls nicht auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG stützen, da der Wortlaut der Vorschrift Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit - wie vorliegend - nicht erfasst. Vielmehr wird durch die Norm allein die Befugnis zur Übertragung der örtlichen Zuständigkeit geschaffen (vgl. FG München, Urteil vom 7. Juli 2020, 5 K 2557/19, juris, Rn. 30 f.). Ferner beinhaltet § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG nach vorläufiger Würdigung nicht die Befugnis zur vollständigen Übertragung der Zuständigkeit für die Bearbeitung sämtlicher Rechtsbehelfe gegen sämtliche Entscheidungen einer als Inkasso-Service im Erhebungsverfahren tätigen Dienststelle auf eine einzige Familienkasse. Auch insoweit steht der Wortlaut einer entsprechenden Zuständigkeitskonzentration entgegen, da eine solche Konzentration allein für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten zulässig ist, nicht aber - wie vorliegend praktiziert - für alle Bezirke bzw. sämtliche Kindergeldberechtigten im Bundesgebiet.
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Auch auf die grundsätzlich der Bundesagentur für Arbeit zukommende Organisationskompetenz kann die Konzentration der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des Kindergelds bei der Beklagten nach Auffassung des erkennenden Senats nicht gestützt werden (so aber FG Hamburg, Urteil vom 27. Januar 2020, 6 K 202/19, juris Rn. 43), da es für eine Zuständigkeitskonzentration in sachlicher Hinsicht einer unmittelbaren gesetzlichen Regelung oder aber wenigstens einer Norm, die - wie § 17 Abs. 2 Sätze 3 und 4 FVG - zu einer entsprechenden Regelung ermächtigt, bedarf (FG München, Urteil vom 7. Juli 2020, 5 K 2557/19, juris, Rn. 35 mwN).
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Dabei hat das Gericht berücksichtigt, dass die Klägerin zum einen insoweit unterliegt, als die Beklagte ihr während des Klagverfahrens den begehrten Erlass hinsichtlich eines Teilbetrages bewilligt hat, und zum anderen insoweit, als sie über die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hinausgehend eine Verpflichtung zur Vornahme des Erlasses begehrt hat.
- 39
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
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Die Revision wird nach § 90a Abs. 2 Satz 2 FGO i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen. Die sachliche Unzuständigkeit des Inkasso-Service und der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord für Entscheidungen im Erhebungsverfahren ist höchstrichterlich nicht abschließend geklärt.
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Referenzen
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- § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG 1x (nicht zugeordnet)
- § 5 Abs. 1 Nr. 11 S. 4 FVG 1x (nicht zugeordnet)
- § 227 AO 1x (nicht zugeordnet)
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- FGO § 115 1x
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