Urteil vom Landgericht Aachen - 8 O 42/13
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Gläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand:
2Die Parteien streiten um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, der sich am 10.12.2012 um 13:55 Uhr im Kreuzungsbereich S-straße, C-straße und X-straße in K ereignete.
3Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt Eigentümer und Halter eines PKW Peugeot 308 mit dem amtlichen Kennzeichen XX-XX XXX, der von seiner Ehefrau, der Zeugin C1, geführt wurde. Der Beklagte zu 1) war Fahrer eines Pkw Daimler Chrysler mit dem amtlichen Kennzeichen XX-XX XXXX, welcher bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war.
4Die Zeugin C1 befuhr mit dem Pkw des Klägers die X-straße in Richtung S-straße, auf die sie nach links in Richtung Innenstadt abbiegen wollte.
5Der Beklagte zu 1) befuhr mit seinem Fahrzeug die S-straße aus Richtung T kommend geradeaus in Richtung Innenstadt. Hinter dem Beklagten zu 1) fuhr die Zeugin C2. Beide mussten hintereinander an einer roten „Ampel“ anhalten.
6Im hinteren Kreuzungsbereich (aus Sicht des Beklagten zu 1) kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge.
7Der Kläger bezifferte seinen Schaden unter Berufung auf ein Schadensgutachten vom 12.12.2012 auf 5.166,90 Euro (Reparaturkosten netto 4.063,92 €, Sachverständigenkosten brutto 672,98 €, Wertminderung steuerneutral 400,00 €, Kostenpauschale 30,00 €). Diesen Schaden machte er gegenüber der Beklagten zu 2) mit anwaltlichem Schreiben vom 17.12.2012 erfolglos geltend. Für ihre vorgerichtliche Tätigkeit berechneten die Prozessbevollmächtigten des Klägers brutto 546,69 Euro.
8Der Kläger behauptet, dass die Zeugin C1 bei „grün“ als erstes Fahrzeug angefahren sei und auf der Kreuzung darauf gewartet habe, dass der Gegenverkehr stehen bleibe, um abzubiegen. Als dies der Fall gewesen sei, sei sie losgefahren. Dabei hätte sie vom Beklagten zu 1) gesehen werden müssen. Der Unfall sei nur dadurch zu erklären, dass der Beklagte zu 1) entweder sehr stark beschleunigte oder möglicherweise noch im Fahren war, als die Ampel auf „grün“ schaltete. Für den Beklagten zu 1) sei der Unfall daher vermeidbar gewesen.
9Der Kläger beantragt mit der dem Beklagten zu 1) am 26.02.2013 und der Beklagten zu 2) am 27.02.2013 zugestellten Klage,
101. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 5.166,90 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszins ab Rechtshängigkeit zu zahlen;
112. die Beklagten als Gesamtschuldner darüber hinaus zu verurteilen, an den Kläger 546,69 nebst 5 % Zinsen über dem Basiszins ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
12Die Beklagten beantragen,
13die Klage abzuweisen.
14Sie behaupten, dass der Beklagte zu 1) an der Ampelanlage zum Stillstand gekommen und erst losgefahren sei, als die Ampel grün zeigte. Dabei sei er keineswegs besonders schnell angefahren, sondern mit normaler und angemessener Geschwindigkeit. Die Zeugin C1 habe sich dabei nicht auf der Kreuzung befunden. Diese hätte er erst im letzten Moment vor dem Zusammenprall gesehen und dann versucht noch auszuweichen, was jedoch nicht mehr möglich gewesen sei.
15Der Höhe nach berücksichtige das Privatgutachten des Klägers unzulässigerweise einen Aufschlag auf die UPE (unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers) und auch die dort festgehaltenen Lackierungskosten könnten teilweise noch nicht gefordert werden, da erst bei der konkreten Lackiervorbereitung festgestellt werden könne, ob eine Beilackierung angrenzender Teile erforderlich werde.
16Die Beiakte xxxxxxxxxxxxx Kreis Düren war Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Das Gericht hat den Beklagten zu 1) gemäß § 141 ZPO persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen C1 und C2 sowie Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr.-Ing. Q. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Beschluss vom 19.07.2013 (Bl. 77 d.A.), das schriftliche Gutachten des Sachverständigen vom 07.03.2014 (Bl. 95 d.A.) sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17.07.2013 (Bl. 66 d.A.) verwiesen.
17Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.
18Entscheidungsgründe:
19Die zulässige Klage ist nicht begründet.
20I.
21Dem Kläger steht kein Anspruch auf Schadensersatz gegen den Beklagten zu 1) aus § 7 Abs. 1, §§ 17, 18 StVG zu. Zwar erfüllt der Beklagte zu 1) als Führer eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs die übrigen Voraussetzungen genannten Anspruchsgrundlage, jedoch war der Unfall für ihn unvermeidbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG. Daraus folgt zugleich, dass mangels Verschulden auch Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB nicht vorliegen.
22Da auch der Kläger seinerseits als Halter des anderen unfallbeteiligten Fahrzeugs die Voraussetzungen einer Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG erfüllt, ist § 17 StVG anwendbar. Grundsätzlich ist daher die beiderseitige Verursachung gegeneinander abzuwägen. Dies gilt gemäß § 17 Abs. 3 StVG jedoch ausnahmsweise dann nicht, wenn einer der Beteiligten den Unfall nicht vermeiden konnte.
23Unvermeidbarkeit im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG bedeutet, dass ein Ereignis vorliegen muss, das weder auf einem technischen Versagen des Kraftfahrzeuges noch auf einer Sorgfaltspflichtverletzung seines Führers beruht. Dabei ist darauf abzustellen, ob ein idealtypischer Fahrer bei Beachtung der äußerst möglichen Sorgfalt den Unfall hätte abwenden können.
24Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war der Unfall für den Beklagten zu 1) auch bei Beachtung der äußerst möglichen Sorgfalt nicht abwendbar und daher unvermeidbar:
251.
26Die Kammer ist nach dem unstreitigen Sachvortrag der Parteien bzw. dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass einerseits der Beklagte zu 1) an der Lichtzeichenanlage warten musste und bei Grünlicht aus dem Stand angefahren ist.
27Andererseits befand sich die Zeugin C1 mit dem Fahrzeug des Klägers noch nicht im Kreuzungsbereich, als die Lichtzeichenanlage für den Beklagten zu 1) auf „grün“ umsprang. Unter dem Kreuzungsbereich versteht die Kammer die von den Fluchtlinien der Fahrbahnränder eingegrenzte Fläche (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 11 StVO, Rn. 2).
28Ob die Zeugin C1 tatsächlich bevorrechtigten Gegenverkehr passieren lassen musste, kann offen bleiben.
292.
30Die Überzeugung der Kammer von diesem Sachverhalt beruht in erster Linie auf der Aussage der Zeugin C2, unterstützt durch die Angaben des informatorisch befragten Beklagten zu 1) und das Sachverständigengutachten.
31Das Sachverständigengutachten allein ist zur Beweisführung ungeeignet, da es keine der Unfalldarstellungen aus technischer Sicht ausschließen konnte. Für eine solche generelle Betrachtung erweist es sich daher als unergiebig.
32a) Zunächst ergibt sich aus der Aussage der Zeugin C2, dass der Beklagte zu 1) an der „roten“ Lichtzeichenanlage stand und diese nicht etwa mit einem „fliegenden Start“ passierte. Einen Rotlichtverstoß des Beklagten zu 1) behauptet auch der Kläger nicht. Die Zeugin C2 bekundete, dass sie selbst an der roten Ampel hinter dem Beklagten zu 1) gestanden habe und dieser erst bei grün losgefahren sei. Die Aussage der Zeugin ist insoweit plausibel und nachvollziehbar. Sie steht in vollem Einklang mit den Angaben des Beklagten zu 1). Zudem passt dies auch zu den vom Kläger vorgetragenen Tatsachen. So trägt dieser selbst vor, dass das klägerische Fahrzeug gewartet habe bis der Gegenverkehr stehen bleiben musste. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn dessen Ampel rot zeigte. Dann schaltet aber auch die Ampel des Querverkehrs, zu dem der Beklagte zu 1) gehörte, auf grün um.
33b) Auch der Umstand, dass sich die Zeugin C1 mit dem Fahrzeug des Klägers noch nicht im Kreuzungsbereich befand, als die Lichtzeichenanlage für den Beklagten zu 1) auf „grün“ umsprang, ergibt sich aus der Aussage der Zeugin C2.
34Die Zeugin C2 bekundete, dass sich die Zeugin C1 noch nicht auf der Kreuzung befunden habe. Sie habe ab und an nach vorne geschaut und es habe sich kein Auto dort befunden und zwar auch nicht am Anfang der Kreuzung. Der Kreuzungsbereich, den sie im Blick gehabt habe, sei etwa der Bereich mit den gestrichelten Linien aus der polizeilichen Unfallskizze (Bl. 4 BA) an der Fahrspur der S-straße gewesen, eventuell auch weiter. Dies entspricht dem Kreuzungsbereich im eigentlichen Sinne. Das klägerische Fahrzeug habe sie erstmals gesehen, als sie selbst bei grün angefahren sei. Zu diesem Zeitpunkt sei die Zeugin C1 gerade um die Ecke gefahren. Der Beklagte zu 1) habe sich dabei schon etwa in der Mitte der Kreuzung befunden und habe noch versucht nach rechts auszuweichen. Auch habe es (von der Zeugin C2 aus gesehen) Gegenverkehr gegeben, der aufgrund des klägerischen Fahrzeuges nach dem Anfahren abbremsen musste, um eine Kollision zu vermeiden.
35Dieser Aussage der Zeugin C2 lässt sich entnehmen, dass sich das klägerische Fahrzeug noch nicht im eigentlichen Kreuzungsbereich befunden hat.
36Die Aussage der Zeugin ist plausibel und schlüssig. Die Zeugin berichtet lebensnah und beschränkt sich nicht nur auf das juristisch bedeutsame Kerngeschehen. Als unmittelbar hinter dem Beklagten zu 1) befindliche Fahrerin war die Zeugin C2 auch in der Lage das Geschehen uneingeschränkt wahrzunehmen. Die Aussage ist innerlich widerspruchsfrei.
37Verstärkt wird die Aussage der Zeugin C2 durch die informatorische Befragung des Beklagten zu 1). Er gibt an, dass er das klägerische Auto erst gesehen habe, als es bereits zu spät gewesen sei. Dann habe er zwar noch versucht auszuweichen, jedoch habe dies nicht mehr ausgereicht. Beim Losfahren sei die Kreuzung komplett frei gewesen. Damit meine er insbesondere auch den Bereich der polizeilichen Unfallskizze (Bl. 4 BA), auf der der Linksabbiegerpfeil mit der Beschriftung „Frtg UB 01“ eingezeichnet sei; dieser befindet sich bereits außerhalb der mit gestrichelten Linien markierten Außenspur der S-straße.
38Dieser Vortrag deckt sich mit der Aussage der Zeugin C2. Wenn der Beklagte zu 1) tatsächlich schon bis zur Mitte der Kreuzung vorgefahren war, als die Zeugin C1 um die Ecke fuhr, konnte er sie erst sehr spät erkennen. Zudem bekundete auch die Zeugin C2, dass der Beklagte zu 1) noch versuchte auszuweichen. Hätte er das klägerische Fahrzeug jedoch vorher gesehen, wäre auch schon früher eine Ausweichhandlung zu erwarten gewesen. Es macht keinen Sinn, dass der Beklagte das Fahrzeug gesehen haben könnte, dann aber noch weiterfuhr, um erst im letzten Moment einen Ausweichversuch zu starten.
39Auch ansonsten ist der Vortrag des Beklagten schlüssig und passt zu den Aussagen der Zeugin C2. Zwar bestehen einige Unterschiede zwischen den Aussagen im Detail, jedoch ist das beschriebene Kerngeschehen dasselbe. Unterschiede bestehen darin, dass der Beklagte nicht mehr sagen kann, ob es Gegenverkehr gab, und dass er von weiteren Linksabbiegern berichtet, was die Zeugin C2 gerade in Abrede stellt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Zeugin aussagt, dass sie erst später an die Ampel gekommen sei, sodass sich die Aussagen hier auch nicht ausschließen.
40Die Angaben der Zeugin C2 und des Beklagten zu 1) lassen sich problemlos mit dem eingeholten Sachverständigengutachten in Übereinstimmung bringen.
41So bringt der Beklagte zu 1) vor, dass er nicht schnell gefahren sei, vielleicht 20 oder 30 km/h. Dies wird vom Sachverständigengutachten bestätigt, nach dem das Beklagtenfahrzeug eine Kollisionsgeschwindigkeit von ca. 20 km/h hatte und eine Bremsung unwahrscheinlich erscheint. Die entsprechende Schätzung anhand der entstandenen Unfallschäden überzeugt und wurde von den Parteien auch nicht angegriffen.
42Weiter passt die Aussage der Zeugin C2, dass sich der Beklagte zu 1) bereits in der Mitte der Kreuzung befunden hat, als das klägerische Fahrzeug um die Ecke fuhr, mit den fotografierten Endpositionen sowie den Geschwindigkeiten der Fahrzeuge überein. Laut des Sachverständigengutachtens ergibt sich aus der Position der Fahrzeuge beim Unfall sowie den festgestellten Schäden, dass das klägerische Fahrzeuge wohl mit etwa 25 km/h gefahren sein soll, während der Beklagte zu 1) eine Geschwindigkeit von etwa 20 km/h hatte. Jedenfalls sei das klägerische Fahrzeug schneller gewesen als das Beklagtenfahrzeug. Im Rahmen der umfassenden Weg-Zeit-Berechnung des Sachverständigen ergibt sich dann, dass die Unfallschilderung der Zeugin C2 und des Beklagten zu 1) mit allen vorgefundenen Anknüpfungstatsachen übereinstimmt und bei einem nicht ungewöhnlichen Fahrverhalten aller Beteiligten eingetreten sein kann. Das Sachverständigengutachten ist auch an dieser Stelle plausibel und nachvollziehbar.
43Die Überzeugung des Gerichts wird auch nicht durch die Aussage der Zeugin C1 erschüttert. Diese sagte aus, dass sie mit ihrem Fahrzeug bereits auf der ersten Fahrspur des Querverkehrs stand und wegen des Gegenverkehrs halten musste. Ihre Hinterräder seien vermutlich noch hinter der gestrichelten Linie (Außenkante der S-straße) gewesen. Vor dem Losfahren habe sie kurz nach rechts geschaut, dort kein Auto gesehen und sei dann abgebogen. Das Fahrzeug des Beklagten habe sie gar nicht gesehen. Beim Aufprall habe sie zunächst gedacht, dass sie eventuell zu schnell gewesen und daher gegen die Ampel gefahren sei.
44Diese Aussage der Zeugin ist schon in sich unplausibel. Die fotografisch dokumentierte und vom Sachverständigen bestätigte Endposition der beiden Fahrzeuge belegt, dass die Zeugin das Beklagtenfahrzeug an dessen hinteren rechten Ecke getroffen hat. Vor dem Zusammenprall durchquerte dieses somit das gesamte Blickfeld der Zeugin von rechts nach links. Spätestens kurz vor dem Aufprall selbst, als sich das Beklagtenfahrzeug direkt vor dem klägerischen Fahrzeug befunden hat, hätte sie es sehen müssen, so dass der Gedanke, gegen eine Ampel gefahren zu sein, höchst fernliegend erscheint. Sie muss das Fahrzeug selbst bei größter Unachtsamkeit zumindest aus dem Augenwinkel gesehen haben. Etwas Anderes könnte nur dann gelten, wenn die Zeugin C1 überhaupt nicht auf die Straße oder ausschließlich nach links geschaut hätte. Auch dass sie beim Anfahren tatsächlich nach rechts geschaut hat, erscheint höchst unwahrscheinlich. Denn dann wäre es ihr unter Berücksichtigung der örtlichen Sichtverhältnisse problemlos möglich gewesen, auch ein an der Lichtzeichenanlage wartendes Fahrzeug zu sehen.
45Auch mit dem plausiblen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen Dr. Q befindet sich die Zeugin C1 zumindest insoweit im Widerspruch, dass einige sehr unwahrscheinliche Annahmen erforderlich sind, um ihren Vortrag zu ermöglichen. Erstens hätte der Beklagten-PKW beim Anfahren der Zeugin C1 keineswegs mehr an der „Ampel“ gestanden, sondern hätte bereits die halbe Strecke zum späteren Unfallort zurückgelegt gehabt und wäre daher für die Zeugin C1 umso deutlicher erkennbar gewesen. Denn aus der Kollisionsgeschwindigkeit der Zeugin C1 ergibt sich nach der überzeugenden Weg-Zeit-Berechnung des Sachverständigen, dass die Zeugin C1 beim von ihr behaupteten Standort erst knapp 3 Sekunden vor dem Unfall angefahren sein kann und dass der Beklagte zu 1) (selbst wenn man seine Kollisionsgeschwindigkeit von ca. 20 km/h für die gesamte Dauer seiner Annäherung zugrunde legt) zu diesem Zeitpunkt nur noch 14 m von der späteren Unfallstelle entfernt war und damit etwa die Hälfte seines Weges zum Unfallort von gut 30 m schon zurückgelegt hatte. Zweitens wären der klägerische PKW und dessen „Kollisionskurs“ für den Beklagten zu 1) frühzeitig wahrnehmbar gewesen, so dass nicht recht erklärlich ist, weshalb dieser nicht früher kollisionsvermeidend reagiert hat. Drittens wäre die Zeugin, die im Stillstand auf den Gegenverkehr gewartet haben will, nach ihren Angaben nur 9 m von späteren Unfallstelle entfernt losgefahren. Dann müsste sie innerhalb dieser 9 m ihre Kollisionsgeschwindigkeit von ca. 25 km/h erreicht haben. Die dazu erforderliche Beschleunigung von ca. 2,7 m/s² bewertet der Sachverständige als „ein ausgesprochen zügiges Anfahren“, wenn auch noch in einem Bereich, „der von Normalfahrern auch genutzt wird“. Zwar sind alle diese Dinge technisch ohne weiteres möglich; die Annahme, dass alle drei Umstände gleichzeitig vorgelegen haben, erscheint aber derart unwahrscheinlich, dass diese bloße Möglichkeit die Kammer von der Richtigkeit ihrer Überzeugung nicht abbringt.
46Schließlich befindet sich die Aussage der Zeugin C1 in eklatantem Widerspruch zu den Angaben der Zeugin C2 und des Beklagten zu 1); hätte die Zeugin so weit in der Kreuzung gestanden, wie sie selbst angibt, hätte sie von beiden gesehen werden müssen.
47Nach alledem reicht die Aussage der Zeugin C1 nicht aus, um die Überzeugung des Gerichts vom Unfallhergang zu erschüttern.
483.
49In rechtlicher Hinsicht ist zu beachten, dass im Straßenverkehrsrecht der sog. Vertrauensgrundsatz Anwendung findet. Danach darf ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich andere Teilnehmer verkehrsgerecht verhalten, solange er sich selbst derart verhält (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 1 StVO, Rn. 24 ff.).
50Grundsätzlich muss ein Kraftfahrer, der bei grün in eine Kreuzung fährt nicht damit rechnen, dass andere Fahrzeuge unerlaubterweise von der Seite her in die Kreuzung einfahren (BGH, Urteil vom 11. Mai 1971 – VI ZR 11/70, Rn. 13).
51Der Beklagte zu 1) hatte bei seiner Einfahrt in die Kreuzung grün. Dadurch hatte er grundsätzlich die Vorfahrt gegenüber der zum Querverkehr gehörenden Zeugin C1.
52Das klägerische Fahrzeug ist unerlaubterweise in die Kreuzung eingefahren. Die Zeugin C1 war keine sog. „echte Kreuzungsräumerin“.
53Als (echte) Kreuzungsräumer bezeichnet man Fahrer, die mit ihrem Fahrzeug bei „grün“ in den Kreuzungsbereich eingefahren sind, jedoch aufgrund von Gegenverkehr oder aus anderen Gründen die Kreuzung bis zum Ende ihrer Grünphase nicht verlassen konnten und daher den Kreuzungsverkehr zumindest geringfügig behindern. In einem solchen Fall besteht für den Kreuzungsräumer die Pflicht die Kreuzung zu räumen. Daraus folgt jedoch auch andererseits, dass der Kreuzungsverkehr seinerseits die Pflicht hat, die Räumung zu ermöglichen, sodass den Kreuzungsräumern Vorfahrt zu gewähren ist. Dies ist allgemein anerkannt (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 1971 – VI ZR 11/70, Rn. 15; OLG Karlsruhe in NZV 2013, 188, 189).
54Entscheidend ist dabei jedoch, dass das Fahrzeug sich bereits im eigentlichen Kreuzungsbereich befindet. Dies ist die von den Fluchtlinien der Fahrbahnränder eingegrenzte Fläche (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 11 StVO, Rn. 2).
55Befindet sich das Fahrzeug – wie hier – noch nicht innerhalb dieses Bereiches, gilt die normale Vorfahrt des Querverkehrs weiter und der (dann als „unechter“ Kreuzungsräumer bezeichnete) Kraftfahrer muss diesen passieren lassen, bevor er seinen Abbiegevorgang tätigt, wobei der Querverkehr dann besonders bremsbereit und aufmerksam fahren muss.
56Die Zeugin C1 war hier höchstens „unechte“ Kreuzungsräumerin. Sie hat sich mit ihrem Fahrzeug noch nicht in dem eigentlichen Kreuzungsbereich befunden, als der Beklagte zu 1) „grün“ bekam. Ob sie überhaupt Gegenverkehr passieren lassen musste, kann daher dahinstehen.
574.
58Zusätzlich ergibt sich auch aus dem Sachverständigengutachten, dass der Unfall für den Beklagten zu 1) bei Zugrundelegung des festgestellten Sachverhalts nicht vermeidbar war. Der Sachverständige legt überzeugend dar, dass der Beklagte zu 1) im hier vorliegenden Fall (Anfahren des Klägerfahrzeugs von außerhalb des Kreuzungsbereichs) das klägerische Fahrzeug zunächst nicht als Kreuzungsräumer erkennen konnte. Ein Reaktionanlass war erst dann gegeben, als die Zeugin C1 in die Fahrbahn der S-straße einfuhr, als es jedoch für eine Vermeidung des Unfalls zu spät war. Der Restweg bis zur Kollision war zu kurz, um die (tatsächlich auch vorgenommene) Ausweichhandlung erfolgreich durchzuführen. Dies gelte vor allem, da das klägerische Fahrzeug allenfalls in einem sehr peripheren Blickfeld des Beklagten zu 1) zu sehen gewesen sein konnte. Dies steht auch damit in Einklang, dass das Fahrzeug des Klägers links hinter dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) in dieses hinein fuhr. Das Fahrzeug befand sich somit nicht, wie andersherum bei der Zeugin C1, gut sichtbar vor dem Beklagten zu 1), sondern fast in dem Bereich, der üblicherweise als „toter Winkel“ bezeichnet wird. Die Kammer macht sich auch insoweit das plausible und nachvollziehbare Gutachten des Sachverständigen Dr. Q zu eigen.
59II.
60Aufgrund des Fehlens einer Haftung auf Seiten des Beklagten zu 1) besteht auch gegenüber der Beklagten zu 2) als Pflicht-Haftpflichtversicherer kein Anspruch aus § 115 VVG i.V.m. §§ 7, 18 StVG oder § 823 BGB.
61III.
62Da der Hauptanspruch nicht besteht, kann der Kläger auch weder Zinsen noch vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten beanspruchen.
63IV.
64Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
65Der Streitwert wird auf 5.166,90 EUR festgesetzt.
66L |
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als Einzelrichter |
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Referenzen
- StVG § 17 Schadensverursachung durch mehrere Kraftfahrzeuge 5x
- § 11 StVO 2x (nicht zugeordnet)
- StVG § 18 Ersatzpflicht des Fahrzeugführers 2x
- VI ZR 11/70 2x (nicht zugeordnet)
- § 1 StVO 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 823 Schadensersatzpflicht 2x
- ZPO § 141 Anordnung des persönlichen Erscheinens 1x
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- StVG § 7 Haftung des Halters, Schwarzfahrt 2x