Beschluss vom Landgericht Düsseldorf - 4c O 17/19
Tenor
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
A. Besteht eine Pflicht zur vorrangigen Lizenzierung von Zulieferern?
1. Kann ein Unternehmen einer nachgelagerten Wirtschaftsstufe der auf Unterlassung gerichteten Patentverletzungsklage des Inhabers eines Patents, das für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essentiell ist (SEP) und der sich gegenüber dieser Organisation unwiderruflich verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, den Einwand des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung i.S.v. Art. 102 AEUV entgegenhalten, wenn der Standard, für den das Klagepatent essentiell ist, bzw. Teile desselben bereits in einem von dem Verletzungsbeklagten bezogenen Vorprodukt implementiert wird, dessen lizenzwilligen Lieferanten der Patentinhaber die Erteilung einer eigenen unbeschränkten Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten zu FRAND-Bedingungen für den Standard implementierende Produkte verweigert?
a) Gilt dies insbesondere dann, wenn es in der betreffenden Branche des Endproduktevertreibers den Gepflogenheiten entspricht, dass die Schutzrechtslage für die von dem Zulieferteil benutzten Patente im Wege der Lizenznahme durch die Zulieferer geklärt wird?
b) Besteht ein Lizenzierungsvorrang gegenüber den Zulieferern auf jeder Stufe der Lieferkette oder nur gegenüber demjenigen Zulieferer, der dem Vertreiber des Endprodukts am Ende der Verwertungskette unmittelbar vorgelagert ist? Entscheiden auch hier die Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs?
2. Erfordert es das kartellrechtliche Missbrauchsverbot, dass dem Zulieferer eine eigene, unbeschränkte Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten zu FRAND-Bedingungen für den Standard implementierende Produkte in dem Sinne erteilt wird, dass die Endvertreiber (und ggf. die vorgelagerten Abnehmer) ihrerseits keine eigene, separate Lizenz vom SEP-Inhaber mehr benötigen, um im Fall einer bestimmungsgemäßen Verwendung des betreffenden Zulieferteils eine Patentverletzung zu vermeiden?
3. Sofern die Vorlagefrage zu 1. verneint wird: Stellt Art. 102 AEUV besondere qualitative, quantitative und/oder sonstige Anforderungen an diejenigen Kriterien, nach denen der Inhaber eines standardessentiellen Patents darüber entscheidet, welche potenziellen Patentverletzer unterschiedlicher Ebenen der gleichen Produktions- und Verwertungskette er mit einer auf Unterlassung gerichteten Patentverletzungsklage in Anspruch nimmt?
B. Konkretisierung der Anforderungen aus der Entscheidung des Gerichtshofs in Sachen Huawei ./. ZTE (Urteil vom 16. Juli 2015, C-170/13):
1. Besteht ungeachtet dessen, dass die vom SEP-Inhaber und vom SEP-Benutzer wechselseitig vorzunehmenden Handlungspflichten (Verletzungsanzeige, Lizenzierungsbitte, FRAND-Lizenzangebot; Lizenzangebot an den vorrangig zu lizenzierenden Zulieferer) vorgerichtlich zu erfüllen sind, die Möglichkeit, Verhaltenspflichten, die im vorgerichtlichen Raum versäumt wurden, rechtswahrend im Laufe eines Gerichtsverfahrens nachzuholen?
2. Kann von einer beachtlichen Lizenzierungsbitte des Patentbenutzers nur dann ausgegangen werden, wenn sich aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Begleitumstände klar und eindeutig der Wille und die Bereitschaft des SEP-Benutzers ergibt, mit dem SEP-Inhaber einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen abzuschließen, wie immer diese (mangels eines zu diesem Zeitpunkt formulierten Lizenzangebotes überhaupt noch nicht absehbaren) FRAND-Bedingungen aussehen mögen?
a) Gibt ein Verletzer, der mehrere Monate auf den Verletzungshinweis schweigt, damit regelmäßig zu erkennen, dass ihm an einer Lizenznahme nicht gelegen ist, so dass es – trotz verbal formulierter Lizenzbitte – an einer solchen fehlt, mit der Folge, dass der Unterlassungsklage des SEP-Inhabers stattzugeben ist?
b) Kann aus Lizenzbedingungen, die der SEP-Benutzer mit einem Gegenangebot eingebracht hat, auf eine mangelnde Lizenzbitte geschlossen werden, mit der Folge, dass der Unterlassungsklage des SEP-Inhabers ohne vorherige Prüfung, ob das eigene Lizenzangebot des SEP-Inhabers (welches dem Gegenangebot des SEP-Benutzers vorausgegangen ist) überhaupt FRAND-Bedingungen entspricht, daraufhin stattgegeben wird?
c) Verbietet sich ein solcher Schluss jedenfalls dann, wenn diejenigen Lizenzbedingungen des Gegenangebotes, aus denen auf eine mangelnde Lizenzbitte geschlossen werden soll, solche sind, für die weder offensichtlich noch höchstrichterlich geklärt ist, dass sie sich mit FRAND-Bedingungen nicht vereinbaren lassen?
1
G r ü n d e :
2I.
31 Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verletzung des deutschen Teils ihres europäischen Patents EP X (nachfolgend: Klagepatent) auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Rechnungslegung sowie Feststellung der Schadensersatzverpflichtung dem Grund nach in Anspruch. Die Beklagte sowie zwei ihrer Streithelferinnen haben gegen das Klagepatent Nichtigkeitsklagen zum Bundespatentgericht erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
42 Das Klagepatent betrifft ein Verfahren zum Senden von Daten in einem Telekommunikationssystem, welches nach den Feststellungen der Kammer essentiell für den Long Term Evolution-Standard (LTE) ist. Der LTE-Standard ist ein Mobilfunkstandard der vierten Generation, der von der Vereinigung 3 GPP (3rd Generation Partnership Project), der unter anderem das European Telecommunication Standards Institute (ETSI) angehört, normiert wurde.
53 Am 17. September 2014 zeigte die Muttergesellschaft der Klägerin und ursprüngliche Anmelderin des Klagepatents, die X, der ETSI gegenüber die Anmeldung des Klagepatents an und erklärte, dass sie das Klagepatent als essentiell für den LTE-Standard erachtet. Zugleich gab sie gegenüber ETSI eine FRAND-Erklärung ab, mit der sie sich zur Erteilung von Lizenzen an Dritte zu Bedingungen, die fair, reasonable and non-discriminatory (nachfolgend: FRAND) sind, verpflichtete.
64 Die in X ansässige Beklagte ist Herstellerin von Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen, die u.a. unter der Marke X beworben und in Verkehr gebracht werden. Daneben bietet sie verschiedene Mobilitäts- und Finanzdienstleistungen an. In den Fahrzeugen der Beklagten sind u.a. sog. TCUs (Telematics Control Units) verbaut, die eine Verbindung der Fahrzeuge (Connected Cars) mit dem Internet, insbesondere über das LTE-Netz, ermöglichen. Die Nutzer der Fahrzeuge können insoweit internetbasierte Dienstleistungen wie etwa das Musik-/Datenstreaming nutzen und/oder ihre Fahrzeuge von der Beklagten (over the air) mit Updates versorgen lassen, ohne dafür eine Werkstatt aufsuchen zu müssen. Die TCUs sind darüber hinaus für die Zulassung und den Be- und Vertrieb der Fahrzeuge zwingend erforderlich, da über diese Module die gesetzlich vorgeschriebene Notruffunktion (eCall) bereitgestellt wird.
75 Die TCUs werden nicht von der Beklagten selbst, sondern in einer mehrstufigen Produktionskette hergestellt. Die Beklagte bezieht die TCUs einbaufertig von ihren unmittelbaren Zulieferern (sog. Tier1-Zulieferer). Die Tier1-Zulieferer beziehen ihrerseits die für die Herstellung der TCUs erforderlichen NADs (Network Access Devices) von weiteren Zulieferern (Tier2-Zulieferer). Die für die NADs benötigten Chips erhalten die Tier2-Zulieferer wiederum von Zulieferern (Tier3-Zulieferer).
86 Erstmals machte die Klägerin die Beklagte im März 2016 auf die Verletzung unter anderem des Klagepatentes aufmerksam. Hierauf reagierte die Beklagte mit Schreiben vom 10. Juni 2016. Mit Datum vom 9. November 2016 und 27. Februar 2019 bot die Klägerin der Beklagten eine Lizenz unter anderem an dem Klagepatent an und erhob im März 2019 Klage wegen Verletzung des Klagepatentes. Mit Datum vom 19. Mai 2019 und 10. Juni 2020 übermittelte die Beklagte der Klägerin ein Gegenangebot. Auf Lizenzierungsbitten von Tier1- bzw. Tier2-Zulieferern der Beklagten wurde den Tier1-Zulieferern vorgerichtlich mit Datum vom 17. Mai 2017 eine vertragliche Gestaltung mit der Bezeichnung Tier1-Modell angeboten. Nach dem Tier1-Modell sollen die Tier1-Zulieferer ihren Kunden eine Lizenz am Portfolio der Klägerin vermitteln, d.h. die Tier1-Zulieferer sollen für eine nur den Automobilherstellern erteilte Lizenz zahlen. Das sog. CVVCL (Connected Vehicle Value Chain Lizenzmodell), welches vom 27. Juli 2019 datiert, sieht in Ergänzung des Tier1-Modells vor, dass den Zulieferern eine eigene beschränkte Lizenz für Forschung und Entwicklung sowie zur Herstellung eines Connected-Cars gewährt wird, sie im Übrigen aber ihren Kunden eine Lizenz vermitteln, wobei sie ihrerseits über ein ihnen von dem Automobilhersteller (zurück)vermitteltes sog. „Have-Made“-Recht zur Herstellung einer TCU berechtigt sein sollen.
97 Nach der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 3. September 2020 unterbreitete die Klägerin den Tier1-Zulieferern XXXXXXX ein weiteres Lizenzangebot („Automotive License Agreement“, „ALA“-Lizenzangebot), welches eine eigene unbeschränkte Lizenz für die Herstellung und den Vertrieb von TCUs für die Tier1-Zulieferer vorsieht sowie eine Lizenz für den Automobilherstellerkunden sowie etwaige andere Kunden der Zulieferer. Das gleiche Angebot erhielt auch X. Der lizenzsuchenden Tier2-Zulieferin Z wurde von Seiten der Klägerin keine Lizenz angeboten.
108 Die Klägerin ist der Auffassung, sie als Inhaberin eines SEPs könne frei entscheiden, auf welcher Stufe einer komplexen Produktions- und Zulieferkette Lizenzen zu FRAND-Bedingungen erteilt würden. Insofern bestehe keine Verpflichtung, vorrangig Zulieferer zu lizenzieren. Für die Auswahl der Lizenznehmer seien Effizienzgesichtspunkte und der Wert der Technologie zu berücksichtigen. Auch führe eine Lizenzierung auf einer vorgelagerten Produktionsstufe zu keiner Erschöpfung mit der Folge, dass nachfolgende Teilnehmer von einer entsprechenden Lizenz nicht profitieren könnten. Dem Inhaber eines SEPs müsse es zudem – auch unabhängig von einer etwaigen bereits bestehenden Branchenpraxis – möglich sein, eine eigene, nicht diskriminierende Lizenzierungspraxis zu etablieren. Dem stehe auch nicht das aus Art. 102 AUEV folgende Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung entgegen, das die Inhaber standardessentieller Patente betreffe. Nicht jede Stufe einer mehrstufigen Produktionskette habe einen Anspruch auf eine eigene, vollständige Lizenz, da es – unter Berücksichtigung der kartellrechtlichen, dem Inhaber eines standardessentiellen Patentes obliegenden Pflichten – ausreichend sei, wenn und solange den einzelnen Stufen jeweils Zugang zu der standardisierten Technologie ermöglicht werde. Ferner sei die Beklagte nicht lizenzwillig, da sie stets auf eine Lizenznahme durch ihre Zulieferer verwiesen habe.
119 Die Beklagte ist der Auffassung, aus Art. 102 AEUV sowie aus der seitens der Klägerin bzw. ihrer Rechtsvorgängerin gegenüber der ETSI abgegebenen FRAND-Erklärung folge, dass ein SEP-Inhaber jedem lizenzwilligen Lizenzsucher eine eigene unbeschränkte Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten an dem SEP anbieten müsse. Vorrangig seien daher die lizenzsuchenden Zulieferer zu lizenzieren, was auch der Standardvorgehensweise in der Automobilindustrie entspreche. Regeln aus anderen Branchen seien nicht übertragbar, denn in der Automobilindustrie sei es üblich und effizient, dass die Fahrzeughersteller die Komponenten ihrer Zulieferer frei von Rechten Dritter erhielten. Nicht ausreichend sei es, wenn dem Zulieferer nur der Zugang zu der geschützten Technologie ermöglicht werde, etwa über in einer Lieferkette nach oben wirkende sog. „Have-Made“-Rechte. Denn insoweit könne ein Zulieferer nicht unabhängig wirtschaftlich agieren, da er von der (schuldrechtlichen) Vertragstreue seines Kunden gegenüber dem SEP-Inhaber abhängig sei. Daher stehe ihr (der Beklagten) sowohl ein eigener wie auch der von ihren Zulieferern als Streithelfer jeweils erhobene Kartellrechtseinwand zu.
1210 Nach Ansicht der Streithelfer verstößt die Klägerin gegen ihre kartellrechtliche Verpflichtung, jedem, der eine eigene unbeschränkte Lizenz zu FRAND-Bedingungen begehre, eine solche Lizenz zu FRAND-Bedingungen anzubieten. Sie selbst seien lizenzwillig und mit der Bitte um Abgabe eines FRAND-Lizenzangebotes an die Klägerin herangetreten. Das Tier1- und das CVVCL-Modell entsprächen nicht der kartellrechtlichen Verpflichtung der Klägerin, da die Streithelfer als Zulieferer keine eigene unbeschränkte Lizenz erhielten. Die Entwicklung des freien Marktes für TCUs sei mit den besagten Modellen nicht möglich. Den lizenzsuchenden Tier2-Zulieferern sei ganz überwiegend kein Lizenzangebot unterbreitet worden. Der dargelegte kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand stehe (abgeleitet) auch der Beklagten zu, da es missbräuchlich im Sinne von Art. 102 AEUV sei, wenn sich die Klägerin weigere, Nachfragern einer vorgelagerten Stufe in der Produktionskette eine Lizenz an ihrem SEP-Portfolio zu erteilen, gleichzeitig jedoch Unternehmen auf der Endstufe der gleichen Produktionskette wegen Patentverletzung auf Unterlassung verklage. Dies gelte erst Recht, weil eine Lizenzierung der vorgelagerten Produktionsstufe bei umfassender vertraglicher Regelung eine Inanspruchnahme der Endstufe nicht mehr ermögliche.
13II.
1411 Die Entscheidung der Kammer über die Klage hängt von der Beantwortung der in der Beschlussformel formulierten Fragen zur Anwendung des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots ab.
15A.
1612 Der Klägerin stehen gegen die Beklagte grundsätzlich die geltend gemachten Ansprüche wegen Patenverletzung zu, insbesondere der Unterlassungsanspruch gemäß Art. 64 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG.
1713 Die von der Beklagten hergestellten und vertriebenen Automobile (Connected Cars) sind unstreitig über die in ihnen verbauten Konnektivitätsmodule (TCUs) LTE-fähig und arbeiten daher (auch) nach dem in Deutschland gängigen LTE-Standard. Wegen der Standardessentialität des Klagepatents für den LTE-Standard führt dies automatisch zur Benutzung des Klagepatents durch die Beklagte bzw. deren Kunden. Die Benutzung ist widerrechtlich.
1814 Es besteht vorliegend keine Veranlassung, den Rechtsstreit gemäß § 148 ZPO (Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit) wegen der gegen das Klagepatent zum Bundespatentgericht erhobenen Nichtigkeitsklagen auszusetzen. Denn die Kammer vermochte keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür festzustellen, dass sich das Klagepatent als nicht rechtsbeständig erweisen wird.
19B.
2015 Der Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs könnte jedoch der von der Beklagten und ihren Streithelfern (Zulieferern) jeweils erhobene kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand gemäß § 242 BGB i.V.m. Art. 102 AEUV entgegenstehen. Dies wäre der Fall, wenn die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs durch die Klägerin gegenüber der Beklagten als Missbrauch ihrer auf dem Lizenzvergabemarkt unstreitig gegebenen marktbeherrschenden Stellung anzusehen wäre.
211.
2216 In der Sache X (Urteil v. 16. Juli 2015, C-170/13; nachfolgend: EuGH-Urteil) hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich der Benutzer eines standardessentiellen Patents, der auf Unterlassung in Anspruch genommen wird, mit dem kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwand verteidigen kann, und zwar unabhängig davon, ob er die Benutzung des Patents bestreitet oder nicht, und ungeachtet dessen, dass er die Benutzung des SEP schon vor Erteilung einer Lizenz aufgenommen hat.
232.
2417 Vorliegend bedarf es einer Anwendung der Grundsätze des Gerichtshofs in einem Fall, der sich dadurch auszeichnet, dass die technische Lehre des SEP bereits vollständig in solchen Baueinheiten (Halbleiterchips, NADs, TCUs) verwirklicht ist, die dem mit der Unterlassungsklage des SEP-Inhabers konfrontierten Vertreiber des Endprodukts (Pkw) in einer mehrstufigen Kette zugeliefert werden, womit sich die Frage stellt, ob, ggf. unter welchen Umständen und mit welchen rechtlichen Konsequenzen der SEP-Inhaber seine marktbeherrschende Stellung i.S.v. Art 102 AEUV missbraucht, wenn er gegen den Vertreiber des Endprodukts eine Unterlassungsklage wegen Patentverletzung erhebt, ohne zuvor dem Lizenzierungswunsch seiner patentbenutzenden Zulieferer nachgekommen zu sein. Hierauf beziehen sich die Vorlagefragen unter Ziffer II. Teil A. der Beschlussformel.
2518 Das vorlegende Gericht vertritt zu den aufgeworfenen Fragen folgende Auffassung:
26a)
2719 Angesichts der Tatsache, dass die FRAND-Erklärung, abgesehen von dem geäußerten Wunsch des Lizenzsuchers, keine einschränkenden Voraussetzungen enthält, verpflichtet sie den SEP-Inhaber gegenüber jedermann, ihm eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen. Die Lizenzgewährung hat dabei nicht bloß irgendeinen Zugang zum standardisierten Markt zu gewähren, sondern sie hat dem Lizenzsucher eine Teilhabe an der standardisierten Technik in einem solchen Umfang einzuräumen, dass ihm ein freier Wettbewerb auf allen von ihm jetzt und in Zukunft in Betracht gezogenen Produktmärkten ermöglicht wird.
2820 Es besteht ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des freien Wettbewerbs sowohl in einem Markt, der durch die Qualifizierung eines Rechts als standardessentiell bereits geschwächt ist, als auch auf anderen Märkten, die möglicherweise von der Verwertung des Rechts betroffen sind und/oder sich noch in der Entwicklung befinden. Die Auswahl desjenigen, dem der SEP-Inhaber eine Lizenz an seinem SEP-Portfolio anbietet, entscheidet darüber, wer an dem Wettbewerb auf den dem Technologiemarkt nachgelagerten Produktmärkten teilnehmen kann. Die Lizenzierungspraxis eines SEP-Inhabers ist daher ein wesentlicher gestaltender Faktor dafür, auf welcher Ebene in einer Produktionskette ein freier Markt zu wettbewerblichen Bedingungen entstehen kann. Dies zeigt der vorliegende Sachverhalt. Mit einer eigenen unbeschränkten Lizenz an dem SEP der Klägerin sind die lizenzsuchenden Zulieferer in der Lage, selbständig und rechtssicher TCUs und die notwendigen Komponenten hierfür weiterzuentwickeln, herzustellen und an beliebige Automobilhersteller zu vertreiben. Nur mit ihr können die Zulieferer die patentierte Technologie ferner für Nutzungsmöglichkeiten abseits der Automobilindustrie weiterentwickeln und sich neue Märkte erschließen. Steht ihnen hingegen nur ein eingeschränktes Recht zu, das sich von den Automobilherstellern ableitet, so behindert dies die Forschung, Entwicklung und den Vertrieb der TCUs und ihrer Komponenten entscheidend. Denn mit abgeleiteten Rechten können die Zulieferer nur im Rahmen der ihnen von Dritten erteilten Weisungen TCUs und deren Bestandteile herstellen und an die vertraglich vorgesehenen Abnehmer verkaufen. Ein eigener, vom jeweiligen Abnehmer unabhängiger Marktauftritt wäre ihnen verwehrt, was eine nicht gerechtfertigte Beschränkung ihres wirtschaftlichen Handelns zur Folge hätte.
2921 Gegen einen eigenen, vollwertigen Lizenzanspruch der Zulieferer lässt sich nicht anführen, dass auch dann noch die Notwendigkeit für den SEP-Inhaber besteht, den weiteren Herstellern eine eigene Lizenz einzuräumen. Zwar gilt, dass auch eine unbeschränkte Lizenzierung keine Erschöpfung außerhalb der EU und von Verfahrensansprüchen zur Folge hat und auch dann keine Erschöpfung eintritt, wenn der Anspruch Vorrichtungsmerkmale aufweist, die bei der vom lizenzierten Lieferanten vertriebenen Komponente noch nicht vorhanden sind.
3022 Zu beachten ist jedoch, dass infolge der vom SEP-Inhaber gegebenen, vertrauensbildenden Zusage eine Lizenzierung zu FRAND-Bedingungen erfolgen muss. Dies bedingt, dass im Lizenzvertrag Regelungen vorgesehen werden, die für den Fall der Lizenzausübung zur Erschöpfung der Patentrechte führen. Nach ihrem Zweck dient die FRAND-Erklärung dazu, jedermann eine faire und diskriminierungsfreie Teilhabe an der wirtschaftlichen Verwertung der standardisierten Technologie im Produktmarkt zu ermöglichen. Vollzieht sich die Verwertung des technischen Standards auch außerhalb der EU oder sind beispielsweise Verfahrensansprüche betroffen, so muss auch die FRAND-Zusage des SEP-Inhabers hierzu kongruent sein, indem sie jedem Interessierten einen Lizenzierungsanspruch vermittelt, der geographisch unbegrenzt ist und/oder die Erschöpfung von Verfahrensansprüchen umfasst. Entsprechend kann der Hersteller patentbenutzender Vorprodukte von jedem SEP-Inhaber eine FRAND-Lizenz einfordern, die es ihm erlaubt, seine Erzeugnisse ohne Einschränkungen zu vertreiben, und die damit jeden Benutzer der Erfindung auf einer späteren Verwertungsstufe davon entbindet, seinerseits um eine Lizenz beim SEP-Inhaber nachzusuchen (Kühnen, GRUR 2019, 665, 670 f.).
3123 Die Limitierungen des Erschöpfungsgrundsatzes in materiell-rechtlicher wie territorialer Hinsicht lassen sich daher dadurch überwinden, dass in den Lizenzvertrag Klauseln aufgenommen werden, die zu einer umfassenden Erschöpfung unabhängig vom Territorium und auch im Hinblick auf etwaige Verfahrensansprüche führen. Zweckdienlich kann etwa die vertragliche Einräumung eines beschränkten Rechts zur Unterlizenzierung sein. Angesichts der Tatsache, dass die lizenzierten TCUs und NADs gerade dafür vorgesehen sind, eine Mobilfunkverbindung gemäß den 2G bis 4G Standards herzustellen, ist deswegen von einem SEP-Inhaber eine Lizenzierung zu erwarten, die diese bestimmungsgemäße Nutzung sowohl durch den Lieferanten als auch dessen Abnehmer möglich macht.
3224 Dies gilt erst Recht, wenn die Gepflogenheiten in der von der Verwertungskette bedienten Branche in die Betrachtung einbezogen werden. In der Automobilindustrie entspricht es der gelebten Praxis, dass die Automobilhersteller ihre Produkte von den Zulieferern frei von Rechten Dritter erhalten. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass jede Ebene für die Rechtskonformität derjenigen technischen Lösung die Verantwortung trägt, die sie selbst entwickelt und deshalb am besten kennt. Da in einem Automobil bis zu 30.000 Komponenten verbaut sind, würde es für einen Automobilhersteller einen ganz erheblichen Aufwand bedeuten, zu überprüfen, ob die in seinem Kraftfahrzeug verbauten, von dritter Seite zugelieferten technischen Lösungen von Schutzrechten Dritter Gebrauch machen. Die Problematik verschärft sich umso mehr, je komplexer das Zulieferteil ist und je weiter die jeweilige Technik von dem eigentlichen Tätigkeitsfeld des Automobilherstellers entfernt ist, wie dies auf die vorliegend in Rede stehenden TCUs und NADs zutrifft. Derjenige Zulieferer, der sich innerhalb der gestuften Lieferkette für eine bestimmte technische Lösung entscheidet, ist am besten zur Prüfung in der Lage, ob diese Lösung Schutzrechte Dritter verletzt. Hinzukommt, dass die Zulieferer erhebliche Aufwendungen in die Forschung und Entwicklung neuer Innovationen investieren und insoweit in ihrer Tätigkeit unabhängig von den Endprodukteabnehmern sind und für diese Tätigkeit den wirtschaftlichen und rechtlichen Freiraum benötigen, der nur mit einer uneingeschränkten Lizenz zu ihren Gunsten gewährleistet werden kann.
3325 Gegen eine Pflicht zur vorrangigen Lizenzierung der Zulieferer sprechen keine Effizienzgründe. Grundsätzlich ist zwar anerkannt, dass Effizienzvorteile im Prinzip geeignet sind, das wettbewerbswidrige Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens zu rechtfertigen. Als Effizienzvorteil sind insoweit technische Verbesserungen zur Qualitätssteigerung und Kostensenkung in Herstellung oder Vertrieb als ein unverzichtbares Verhalten anzusehen (vgl. Mitteilung der Kommission über den Umgang der EU mit standardessentiellen Patenten vom 29. November 2017 COM (2017)). Dabei müssen die Effizienzvorteile etwaige negative Auswirkungen auf den betroffenen Märkten aufwiegen und durch das Verhalten darf der wirksame Wettbewerb nicht ausgeschaltet werden. Entsprechendes lässt sich vorliegend nicht feststellen. Dass der Klägerin eine Lizenzierung erleichtert wird, weil sie die Endproduktehersteller leichter identifizieren kann als deren Zulieferer, trifft schon in tatsächlicher Hinsicht nicht zu, weil die Zahl der Zulieferer bei weitem kleiner ist als diejenige der Automobilhersteller. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz würde sich nur eine Lizenzierung der Baseband-Chipproduzenten anbieten, von welchem weltweit nicht mehr als zehn Hersteller existieren. Abgesehen hiervon repräsentiert eine etwaige Lizenzierungsvereinfachung auch keinen rechtfertigenden Effizienzvorteil im oben dargelegten Sinn.
3426 Die Höhe der Transaktionskosten und die Gefahr einer doppelten Bezahlung bei Abschluss mehrerer Lizenzverträge über den gleichen Lizenzgegenstand stehen einer Pflicht zur vorrangigen Lizenzierung der Zulieferer ebenfalls nicht entgegen. Beidem kann durch vertragliche Gestaltungen zuverlässig begegnet werden.
3527 Das Interesse eines SEP-Inhabers an einer Festlegung auf ein bestimmtes Lizenzierungsprogramm darf daher nicht ohne Berücksichtigung der kartellrechtlichen Verpflichtungen eines SEP-Inhabers erfolgen. Daraus folgt, dass ein SEP-Inhaber zwar bevorzugt die Endhersteller eines bestimmten Produktes um eine Lizenznahme anhalten kann, er aber die berechtigten Lizenzanfragen/-angebote eines Zulieferers nicht ignorieren oder zurückweisen darf. Wenn jedem interessierten Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu gewähren ist, so sind davon dann auch solche Zulieferer umfasst, die eine Lizenz für ihren Geschäftsbetrieb benötigen. Ein entsprechendes Lizenzierungsprogramm auf Seiten der Klägerin, mit dem Endproduktehersteller lizenziert worden sind, lässt sich zudem auch nicht feststellen. Die Klägerin hat in der Vergangenheit einen Vertrag mit einem Automobilhersteller geschlossen, der heute nicht mehr besteht. Ferner existiert ein nicht das vorliegende 4G-Patentportfolio betreffender Lizenzvertrag mit der Streithelferin X und einem weiteren Automobilhersteller. Der Patentpool X, in welchem die Klägerin Mitglied ist, hat bisher Lizenzverträge mit drei Automobilherstellern abgeschlossen und verweigert eine Lizenzierung der Zulieferer. Demgegenüber hat X, auch ein Mitglied des Avanci-Pools, kürzlich einen uneingeschränkten Lizenzvertrag mit dem Tier2-Zulieferer X abgeschlossen, was zu erheblichen Teilen die Rücknahme einer Klage von X gegen die hiesige Beklagte zur Folge hatte. Hieran anschließend schloss auch die Beklagte mit X einen Lizenzvertrag. Weitere X-Poolmitglieder stehen in Lizenzvertragsverhandlungen mit unterschiedlichen Tier1- und Tier2-Zulieferern.
3628 Eine Lizenzierungsverpflichtung eines lizenzsuchenden Zulieferers führt nicht zu einer Benachteiligung des SEP-Inhabers bei der Entlohnung der Erfindungsbenutzung. Denn die Lizenzgebühr knüpft nicht an denjenigen Gewinn an, den der jeweilige Lizenznehmer mit der lizenzierten Erfindung tatsächlich erwirtschaftet, sondern es ist allein derjenige Gewinn maßgeblich, der aus Sicht der Parteien mit der Benutzung der Erfindung erzielbar erscheint. Insofern ist – unabhängig von der Stufe der Lizenzierung – der SEP-Inhaber über die FRAND-Lizenz angemessen an demjenigen Gewinn zu beteiligen, der am Schluss der arbeitsteiligen Verwertungskette mit dem Verkauf des patentgemäßen Endproduktes erwirtschaftet wird. Dies bedeutet, dass bei einer Verpflichtung des SEP-Inhabers zur Lizenzierung des Zulieferers auch auf der vorgelagerten Verwertungsstufe bereits diejenige Lizenz anfällt, die dem wirtschaftlichen Wert des SEP entspricht. Der Hersteller hat also diejenige Lizenz zu akzeptieren, die der SEP-Inhaber ohne Ausbeutungsmissbrauch ansonsten beim Vertreiber des Endproduktes einfordern könnte. Dabei mag die Orientierung am fremden Verwertungsgewinn der Handhabung in normalen Fällen der Lizenzvergabe widersprechen. Diese ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass es im freien Belieben des Patentinhabers steht, auf welcher Verwertungsstufe der Erfindungsbenutzung er ein Benutzungsrecht einräumt. In einer solchen Situation befindet sich der SEP-Inhaber nicht, da er rechtlich gehalten ist, jedermann, der um eine Lizenz nachsucht, eine Lizenz zu erteilen. Dieser Zwang darf indes nicht dazu führen, dass er von der Teilhabe an dem Ertrag der Erfindungsbenutzung auf der letzten Stufe der Wertschöpfung ausgeschlossen ist bzw. seine Teilhabe ungebührlich erschwert wird (Kühnen, GRUR 2019, 665, 670 f.).
3729 Das Recht jedes Zulieferers, für sich eine uneingeschränkte FRAND-Lizenz einzufordern, besteht nach allem grundsätzlich und vorbehaltlos, so dass das Verlangen nach einer FRAND-Lizenz ein Akt zulässiger Rechtsausübung darstellt, welcher bei einer Verweigerung durch den SEP-Inhaber den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung beinhaltet, auf den sich sowohl der in Anspruch genommene Verletzer am Ende der Verwertungskette als auch der zuliefernde Lizenzsucher berufen können.
38b)
3930 Ist ein solcher Missbrauch zu verneinen und wird daher die Beklagte vorliegend berechtigt von der Klägerin gerichtlich in Anspruch genommen, ergeben sich weitere entscheidungserhebliche Fragen.
4031 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Sachen Huawei ./. ZTE gilt, dass der Inhaber eines SEPs, bevor er seinen Unterlassungs- oder Rückruf-anspruch geltend macht, den vermeintlichen Verletzer in einem ersten Schritt auf die Patentverletzung hinzuweisen hat (Leitsätze und Rn. 61 des EuGH-Urteils). Auf diesen Verletzungshinweis hin hat der Patentbenutzer sodann auf der zweiten Stufe um eine Lizenz zu bitten. Geschieht dies, muss der SEP-Inhaber ihm ein konkretes schriftliches Angebot auf Lizenzierung des SEPs zu fairen, angemessenen und nicht-diskriminierenden Bedingungen unterbreiten und dabei auch die Art und Weise der Berechnung der geforderten Lizenzgebühren darlegen (Rn. 63 des EuGH-Urteils). Auf dieses Angebot muss der Verletzer in der vierten Stufe nach Treu und Glauben und insbesondere ohne Verzögerungstaktik reagieren (Rn. 65 des EuGH-Urteils). Nimmt der Verletzer das Angebot des SEP-Inhabers nicht an, muss er innerhalb einer kurz zu bemessenden Frist ein Gegenlizenzangebot unterbreiten, welches die FRAND-Vorgaben beachtet (Rn. 66 des EuGH-Urteils). Lehnt der SEP-Inhaber dieses Gegenangebot seinerseits ab, muss der Verletzer ab diesem Zeitpunkt über die Benutzung des SEPs abrechnen und für die Zahlung der Lizenzgebühren Sicherheit leisten, was auch für Nutzungen in der Vergangenheit gilt (Rn. 67 des EuGH-Urteils).
4132 Der Gerichtshof macht damit deutlich, dass die beschriebenen Schritte – Verletzungsanzeige, Lizenzierungsbitte und Abgabe eines FRAND-gemäßen Lizenzierungsangebotes – vor der gerichtlichen Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs zu erfolgen haben. Es stellt sich deshalb – was in der deutschen Rechtsprechung überwiegend bejaht wird – die Frage, ob eine Nachholung während des laufenden Rechtsstreits erfolgen kann. Die Problematik ist im Streitfall vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass die Klägerin den Tier1-Zulieferern erst weit nach Klageerhebung verschiedene Vertragsangebote gemacht hat. Dabei ist der Kammer bewusst, dass die Vertragsangebote nicht die Beklagte selbst betrafen, sondern deren Streithelfer. Die Vollstreckung eines Unterlassungsgebotes hat für die Streithelfer jedoch die gleichen Folgen wie für die Beklagte: Beide sind zum Vertrieb ihrer Produkte nicht mehr in der Lage. Wenn die Beklagte keine Automobile mehr vertreiben kann, sind auch die Zulieferer nicht mehr in der Lage, ihre Produkte an die Beklagte zu verkaufen. Insoweit kann es keinen Unterschied machen, ob die in Huawei ./. ZTE niedergelegten Schritte gegenüber der Beklagten nicht eingehalten wurden oder gegenüber den Streithelfern.
4233 Nach Ansicht der Kammer ist eine Nachholung im Prozess grundsätzlich möglich, was für die Notwendigkeit eines FRAND-gemäßen Lizenzangebotes näher begründet werden soll. Die Frage, ob ein Lizenzangebot im Einzelfall FRAND ist (was die Kammer im Sinne einer Ausbeutungs- und Diskriminierungsfreiheit nach Maßgabe von Art. 102 AEUV versteht), wirft häufig schwierige und weitgehend ungelöste Wertungsfragen auf, deren Behandlung für die Parteien durch das Gericht praktisch nicht vorauszusagen ist. Ohne dass einem SEP-Inhaber ein Vorwurf zu machen ist, zeigt sich häufig erst im Rechtsstreit, ob und aus welchem Grund das bisherige Angebot unzureichend ist. Soweit der SEP-Inhaber zur Nachbesserung bereit ist, hat die betreffende Diskussion sinnvollerweise im laufenden Prozess zu erfolgen. Ähnlich verhält es sich, wenn der Patentinhaber seiner vorgerichtlichen Pflicht zur Verletzungsanzeige nachgekommen ist und nach ergebnislosem Abwarten einer angemessenen Erklärungsfrist für den Verletzer Klage erhoben hat. Erklärt der Verletzer daraufhin im Prozess seine Lizenzbereitschaft und würde eine Nachholbarkeit verneint werden, hätte dies zur Folge, dass das Gericht diesen zur Unterlassung verurteilen müsste, womit für den Verletzer (unter dem Druck eines vollstreckbaren Unterlassungstitel) faire FRAND-Verhandlungen mit dem SEP-Inhaber praktisch nicht mehr möglich wären.
4334 Für den vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserheblich ist ferner, welche Anforderungen an die Lizenzierungsbitte bzw. das Verhalten des Lizenzsuchers nach dem Verletzungshinweis des SEP-Inhabers zu stellen sind. Die Kammer vertritt die Ansicht, dass an die Lizenzierungsbitte keine überspannten Anforderungen zu stellen sind. Die Bitte um Lizenzierung kann pauschal wie formlos und damit auch konkludent geschehen, wobei das fragliche Verhalten für den Gegner eindeutig den Willen zur Lizenznahme erkennen lassen muss. Ausführungen zum Inhalt der Lizenz sind nicht erforderlich; sie können vielmehr schädlich sein, wenn sie dem SEP-Inhaber den Eindruck vermitteln, dass eine Lizenznahme nur unter bestimmten Konditionen besteht, die nicht FRAND sind und auf die sich der SEP-Inhaber daher nicht einlassen muss. Ob sich der Lizenzsucher in der Folge als lizenzwillig zeigt, ist für die Beurteilung des Vorliegens einer Lizenzierungsbitte zum Zeitpunkt von deren Äußerung nicht von Relevanz. Das weitere Verhalten des Lizenzsuchers ist vielmehr erst bei der Beurteilung des Angebots des SEP-Inhabers, nachdem dieses unterbreitet wurde, zu würdigen.
4435 Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht (Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 13. Aufl., Kap. E Rdn. 393 f.) soll die dem Verletzer abverlangte Bitte um eine Lizenz lediglich gewährleisten, dass sich der SEP-Inhaber der Mühe eines begründeten FRAND-Lizenzangebotes nur dort unterzieht, wo der Verletzer darum nachgesucht hat. Irgendwelche Ausführungen zum Inhalt der Lizenz sind nicht erforderlich. Sie können nur dann schädlich sein, wenn sie dem Patentinhaber bei verständiger Würdigung den Eindruck vermitteln müssen, dass eine Bereitschaft zur Lizenznahme trotz verbaler Bitte abschließend und unverrückbar nur zu ganz bestimmten, nicht verhandelbaren Konditionen besteht, die ersichtlich nicht FRAND sind und auf die sich der Schutzrechtsinhaber deshalb offensichtlich nicht einlassen muss. Unter derartigen Umständen enthält die verbale Bitte um Erteilung einer Lizenz in Wirklichkeit die ernsthafte und endgültige Weigerung, eine Benutzungsvereinbarung zu FRAND-Bedingungen zu treffen, womit sich jedes FRAND-Lizenzangebot des Patentinhabers von vornherein (weil es zwecklos wäre) erübrigt.
4536 Da die näheren Lizenzkonditionen zu diesem Zeitpunkt noch nicht formuliert sind, weil sie erst im nächsten Schritt durch den SEP-Inhaber mit dessen Lizenzangebot zu benennen sind, kommt die Annahme, der Verletzer äußere zwar verbal eine Lizenzbitte, sei tatsächlich aber zu einer Lizenznahme endgültig überhaupt nicht bereit, strenge Anforderungen zu stellen. Der Sache nach verzichtet der Verletzer durch ein solches Verhalten nämlich auf die Unterbreitung eines vom SEP-Inhaber geschuldeten Lizenzangebotes, wovon – wie immer beim Verzicht auf eine dem Erklärenden günstige Rechtsposition – allenfalls unter ganz besonderen Umständen ausgegangen werden kann. Zurückhaltung ist vor allem dann geboten, wenn diejenigen Umstände, auf welche die Annahme einer im Widerspruch zur abgegebenen Erklärung in Wirklichkeit nicht bestehenden Lizenznahmebereitschaft gestützt werden soll, solche sind, deren Berechtigung in der Rechtsprechung noch nicht geklärt ist und zu denen deshalb prinzipiell unterschiedliche Auffassungen möglich sind.
4637 Hat der Patentinhaber die geäußerte Lizenzbitte, mag sie im besagten Sinne auch „unzureichend“ gewesen sein, tatsächlich zum Anlass genommen, dem Verletzer ein Lizenzangebot zu unterbreiten, so hat die Lizenzbitte den ihr zugedachten Zweck erfüllt, und es ist – im üblichen Prozedere fortschreitend – zu prüfen, ob das Lizenzangebot des Patentinhabers den von ihm versprochenen und geschuldeten FRAND-Bedingungen entspricht. Die Frage einer Lizenzwilligkeit des Verletzers stellt sich danach erst wieder im Hinblick auf die Reaktion des Verletzers auf das Lizenzangebot: Ist es un-FRAND, kommt es auf eine Lizenzwilligkeit nicht an. Ist das Lizenzangebot hingegen FRAND, so ist die Lizenzwilligkeit des Verletzers entscheidungserheblich. Sie fehlt, wenn (und nur dann, wenn) der Verletzer das FRAND-gemäße Lizenzangebot des Patentinhabers ausschlägt oder wenn er ein solches nicht mit einem Gegenangebot kontert, das seinerseits FRAND-Anforderungen genügt. Unternimmt der Patentinhaber auf eine geäußerte Lizenzbitte des Verletzers hin eine FRAND-Lizenzofferte, so bildet deshalb diese – und nur diese! – den Prüfstein dafür, ob auf Seiten des Verletzers eine Bereitschaft zur Lizenznahme besteht oder nicht. Denn es ist der Patentinhaber, der seine vertrauensbildende FRAND-Zusage durch ein eben diesen Bedingungen entsprechendes Lizenzangebot einzulösen hat, während der Verletzer seine Lizenzbereitschaft erst dadurch unter Beweis zu stellen hat, dass er auf ein solches Angebot eingeht oder anderweitige FRAND-Bedingungen formuliert.
4738 Es ist also zwischen der grundsätzlichen (allgemeinen) Bereitschaft des Verletzers, eine FRAND-Lizenz zu nehmen, und seinem Willen, auf konkrete Lizenzbedingungen, die sich als FRAND erwiesen haben, einzugehen (konkrete Lizenzbereitschaft), zu unterscheiden. Auf der Stufe der Lizenzbitte ist allein sein allgemeiner Wille, Lizenznehmer zu werden, bedeutsam und zu verifizieren. Seine konkrete Lizenzwilligkeit steht demgegenüber erst zur Debatte, wenn das Lizenzangebot des Patentinhabers als FRAND identifiziert worden ist.
4839 Die Kammer folgt daher nicht der Auffassung (LG München, Urteil v. 10. September 2020, 7 O 8818/19; LG Mannheim, Urteil v. 18. August 2020, 2 O 34/19), dass im Rahmen der Prüfung des Willens des Patentverletzers zum Abschluss eines Lizenzvertrages zu FRAND-Bedingungen das Gegenangebot mit in den Blick zu nehmen und insbesondere die dort angebotene Lizenzgebühr als Maßstab für die Lizenzwilligkeit des Lizenzsuchers mit heranzuziehen ist.
49III.
5040 Der Kammer ist bewusst, dass für sie keine Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV hat die Kammer jedoch insbesondere in den Blick genommen, dass Art. 102 AEUV mehrere, für einen kundigen Juristen vernünftigerweise gleichermaßen mögliche Auslegungen zulässt und die entscheidungserheblichen Fragen nicht bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof waren, insbesondere nicht abschließend durch die Entscheidung „Huawei/ZTE“ beantwortet wurden.
5141 Die Beantwortung der vorgelegten Fragen hat überdies weitreichende Bedeutung. In Europa und insbesondere in Deutschland werden derzeit eine Vielzahl von Patentverletzungsklagen aus standardessentiellen Patenten geführt, bei denen hinter dem vermeintlichen Patentverletzer eine mehr oder weniger komplexe Wertschöpfungskette bestehend aus einer Vielzahl von Zulieferern steht. Welche kartellrechtlichen Anforderungen an den SEP-Inhaber in solchen Fällen zu stellen sind, vor allem in welchem Umfang bzw. an wen er FRAND-Lizenzen zu erteilen hat, ist derzeit umstritten. Auch die Europäische Kommission hat nach den Beschwerden der Beklagten sowie einiger Zulieferer Auskunftsersuchen und –verlangen an die Beteiligten gestellt. Endgültige Klarheit kann nur eine Entscheidung des Gerichtshofs bringen. Die Vorlage der Fragen zur Auslegung des Art. 102 AEUV bereits durch ein erstinstanzliches Gericht führt zu einer zeitnahen Klärung durch den Gerichtshof, die im Interesse aller Beteiligten liegt.
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Referenzen
- PatG § 139 1x
- ZPO § 148 Aussetzung bei Vorgreiflichkeit 1x
- BGB § 242 Leistung nach Treu und Glauben 1x
- 7 O 8818/19 1x (nicht zugeordnet)
- 2 O 34/19 1x (nicht zugeordnet)