Urteil vom Landgericht Hamburg - 306 O 355/16

Tenor

1. Der Klagantrag zu 1. ist unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 30% dem Grunde nach gerechtfertigt.

2. Der Klagantrag zu 2. ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

3. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den zukünftigen materiellen Schaden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 10.10.2015 in H., J.- L.-Str./ H. Str., in Höhe einer Haftungsquote von 70% zu erstatten, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen sind oder übergehen werden.

4. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den zukünftigen, nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 10.10.2015 in Hamburg, J.- L.-Str./ H. Str., unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 30%, zu erstatten.

5. Der Klagantrag zu 5. ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

6. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

2

Am 10.10.2015 gegen 23:50 Uhr überquerte die Klägerin auf ihrem ohne funktionstüchtige Beleuchtung ausgestatteten Fahrrad die J.- L.-Straße an der Kreuzung H. Str. im Bereich der dortigen Fahrradfurt, aus Richtung der H. Str. kommend.

3

Die Beklagte zu 1) befuhr ihrerseits mit einem PKW vom Typ Renault Twingo, amtl. Kennzeichen ... , zum Unfallzeitpunkt gehalten von der H. M. GmbH und haftpflichtversichert bei der Beklagten zu 2), die J.- L.-Straße in westlicher Fahrtrichtung, Richtung L., im linken von insgesamt zwei Richtungsfahrstreifen. Wegen der örtlichen Gegebenheiten an der Unfallstelle wird im Übrigen auf die Lichtbilder der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. verwiesen (dort insbesondere Bl. 7-13).

4

Unter im Einzelnen streitigen Umständen kam es zu einer Kollision, bei der die auf ihrem Fahrrad fahrende Klägerin beim Queren der vorbenannten Fahrradfurt – aus Sicht der Beklagten zu 1) von links kommend – seitlich von dem von der Beklagten zu 1) geführten Pkw getroffen wurde.

5

Die Klägerin erlitt durch den Unfall schwerste Verletzungen und wurde zunächst von der Unfallstelle in die Asklepios Klinik A. gebracht, wo sie bis zum 30.10.2015 behandelt wurde. Als Hauptdiagnosen stellte man dort ausweislich des Arztberichtes vom 30.10.2015 (vgl. insoweit auch Anlage K2) ein offenes Schädel-Hirn-Trauma, eine traumatische Subarachnoidalblutung und ein Subduralhämatom fest. Aufgrund eines erhöhten Hirndrucks wurde eine Hemikraniektomie (links) durchgeführt. Weiter wurden insbesondere diagnostiziert eine Hemiparese rechts schlaff, ein neurologischer Neglect, eine Aphasie, eine Dysphagie, Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz, eine sehr schwere motorische Funktionseinschränkung, Kreislaufversagen, eine akute Blutungsanämie, ein epileptischer Anfall mit Bewusstseinsstörungen sowie eine beidseitige Weber-A-Fraktur der Sprunggelenke. Am 30.10.2015 wurde die Klägerin in das Zentrum für Rehabilitationsmedizin im BG-Krankenhaus B. verlegt, wo sie zunächst bis zum 9.2.2016 und sodann weiter vom 15.2.2016 bis zum 30.06.2016 behandelt wurde. Zwischenzeitlich war die Klägerin vom 9.2.2016 bis zum 15.2.2016 zurück in die Asklepios Klinik A. verlegt worden, wo ihr der Knochendeckel reimplantiert wurde (vgl. insoweit der Arztbericht, Anlage K7).

6

Ausweislich des Rehabilitationberichtes des BG-Krankenhauses B. (Anlage K6) erfolgte die Behandlung dort, da die Klägerin in der Folge der unfallbedingten Verletzungen an einem schweren, beaufsichtigungspflichtigen organischen Psychosyndrom mit schwerer Orientierungs- und Verhaltensstörung, psychomotorischer Unruhe, schwerer motorischer Funktionseinschränkung mit Verlust der Selbstständigkeit, einer Kommunikationsstörung bei schwerer, beaufsichtigungspflichtiger Aphasie sowie weiter an einer Dysphagie und Harn- und Stuhlinkontinenz litt. Sie erhielt eine multimodale frührehabilitative Behandlung in den Bereichen Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, physikalische Therapie und Neuropsychologie sowie aktivierende therapeutische Pflege, wobei sie ausweislich des Rehabilitationberichtes während des gesamten Aufenthaltes in allen Aktivitäten des täglichen Lebens, der Grundpflege, der Nahrungsaufnahme und den sozialen Kontakten auf intensive Unterstützung durch die Pflege angewiesen war. Eine vom Amtsgericht angeordnete Fixierung wurde zum 26.5.2016 beendet. Eine PEG-Sonde zur Sicherstellung ausreichender Ernährung der Klägerin wurde zum 1.6.2016 entfernt.

7

Vom 30.6.2016 bis zum 7.9.2016 befand sich die Klägerin zur stationären Reha-Behandlung im Neurologischen Zentrum der S. Kliniken. Ausweislich des dort erstellten Arztberichtes vom 6.9.2016 (Anlage K8) war die Klägerin bei der Aufnahme dort unter Supervision gehfähig, litt aber weiterhin an einer motorisch betonten, schweren Aphasie („Sie befolgt etwa 40% der einfachen Aufforderungen. Sie redet überwiegend sinnlose Wörter. Es gibt ab und an 2-3 Wörter, die als adäquate Antwort bewertet werden können.“). Am 1.7.2016, am 19.7.2016 und am 17.8.2016 erlitt die Klägerin epileptische Anfälle. Ausweislich des Arztberichtes zeigte die Klägerin während der Behandlung in den S. Kliniken „Fortschritte bezüglich der Aphasie, sie konnte situativ deutlich mehr.“ Seit dem 7.9.2016 befindet sich die Klägerin in der stationären Eingliederungseinrichtung A. N. W.. Mit Bescheid vom 26.9.2016 stellte die zuständige Behörde der Stadt H. fest, dass der Grad der Behinderung der Klägerin 100 beträgt und sie unter anderem die Merkmale „außergewöhnliche Gehbehinderung“ und „Hilflosigkeit“ erfülle (Anlage K9).

8

Die Mutter der Klägerin, Frau M. T., wurde vom Amtsgericht H.- A. als Betreuerin bestellt, auch für die Rechtsangelegenheiten im Zusammenhang mit dem hier streitgegenständlichen Verkehrsunfall (vgl. Anlage K4).

9

Die Klägerin arbeitete vor dem Unfall als Sozialpädagogin bei dem Verein G. e.V., wo sie zuletzt 1.779,80 € (netto) verdiente (vgl. Anlagenkonvolut K11). Ab dem Unfall erhielt die Klägerin monatlich ein Krankengeld in Höhe von 1.289,70 € (30 Tage à 42,99 €, vgl. Anlage K12) bis April 2017. Die monatliche Differenz des Netto-Gehaltes zum Krankengeld in Höhe von 490,10 € macht die Klägerin für die Monate Dezember 2015 bis einschließlich Dezember 2016 geltend (13 x 490,10 € = 6.371,30 €), wovon sie 5% ersparte Eigenaufwendungen in Abzug bringt sowie einen Mitverschuldensanteil in Höhe von 30%, so dass ein geltend gemachter Betrag von 4.236,92 € verbleibt. Seit April 2017 bezieht die Klägerin Arbeitslosengeld (vgl. Anlagenkonvolut K17).

10

Die Klägerin bewohnte vor dem Unfall eine 2-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von etwa 50 m2. Zum 1.8.2016 wurde die Wohnung untervermietet. Für den Zeitraum von Januar bis einschließlich Juli 2016 beansprucht die Klägerin fiktiven Haushaltsführungsschaden, den sie mit monatlich 8 Stunden bemisst, da sie sich in dieser Zeit in stationärer Behandlung befand und sich der fiktive Schaden insoweit auf die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen beschränkte. Sie errechnet den Schaden bei dem Stundensatz einer fiktiven Haushaltskraft von 10,00 € wie folgt: 7 Monate x 8 Stunden x 10,00 € = 560,00 €; davon 70% = 392,00 €.

11

Der Klägervertreter wurde auch vorgerichtlich für die Klägerin gegenüber der Beklagten zu 2) tätig, die eine Regulierung jedoch ablehnte. Für die der Klägerin dadurch entstandenen Kosten in Höhe von 2.874,92 €, beruhend auf einem zugrunde gelegten Gegenstandswert von ca. 164.000,00 €, beansprucht sie ebenfalls Ersatz von den Beklagten. Die Klage ist am 27.2.2017 zugestellt worden.

12

Die Klägerin behauptet, dass sie bei für sie „grün“ anzeigender Lichtzeichenanlage die Fahrradfurt überquert habe, auf deren Höhe sich der Unfall ereignete, während die für die Beklagte zu 1) geltende Lichtzeichenanlage „rot“ anzeigte. Die Beklagtenseite hafte daher grundsätzlich zu 100%; einzig aufgrund des Fehlens von funktionierenden Beleuchtungseinrichtungen an ihrem Fahrrad lasse sie sich bezüglich der von ihr geltend gemachten Ansprüche ein Mitverschulden von 30% anrechnen. Die zuletzt aktenkundigen Beeinträchtigungen stellten Dauerfolgen dar, insbesondere sei die Kommunikation mit der Klägerin immer noch erschwert, so dass ein Schmerzensgeld – unter Berücksichtigung des vorgenannten Mitverschuldens – in Höhe von mindestens 150.000,00 € gerechtfertigt sei, dessen Höhe aber im Übrigen in das Ermessen des Gerichts gestellt werde. Auch die konkret bezifferten Schadenspositionen seien in dieser Höhe ersatzfähig.

13

Die Klägerin beantragt

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1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

15

2. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 4.628,92 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

16

3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den zukünftigen materiellen Schaden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 10.10.2015 in Hamburg, J.- L.-Str./ H. Str., im Rahmen einer Haftungsquote von 70% zu erstatten, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen sind oder übergehen werden.

17

4. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den zukünftigen, immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 10.10.2015 unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 30% zu erstatten, sofern dieser nicht vorhersehbar im Sinne der BGH-Rechtsprechung ist.

18

5. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin vorprozessuale Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.874,92 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

19

Die Beklagten beantragen

20

Klagabweisung.

21

Sie bestreiten die Aktivlegitimation der Klägerin, da jene unter der Betreuung ihrer Mutter steht und daher fraglich sei, ob die Klägerin sich in diesem Verfahren wirksam artikulieren könne. Die Beklagten behaupten, dass die Beklagte zu 1) an jenem Abend mit dem Renault Twingo als erstes Fahrzeug an der Ampel wartend aus der G. Allee gekommen und beim Umspringen der dortigen Lichtzeichenanlage auf "grün" nach links in die J.- L.-Straße eingebogen sei. Die Beklagte zu 1) sei dann auf der linken der beiden Geradeausfahrstreifen in Fahrtrichtung L. mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 45 km/h gefahren. Bei Erreichen der Unfallstelle habe die für die Beklagten zu 1) geltende Lichtzeichenanlage „grün“ anzeigt, während die Klägerin dementsprechend die für sie geltende Lichtzeichenanlage grob fahrlässig bei Rotlicht überfahren habe. Geschätzte drei Meter vor dem Aufprall habe die Beklagte zu 1) einen Schatten (gemeint: die Klägerin) linksseitig gesehen und habe möglicherweise noch kurz reaktiv gebremst. Der Zusammenstoß sei für die Beklagte zu 1) unabwendbar gewesen. Im Übrigen ergebe sich ein weiteres Mitverschulden der Klägerin nicht nur daraus, dass das Fahrrad nicht vorschriftsmäßig beleuchtet war, sondern auch, weil es – unstreitig – nur mit einer Bremse, namentlich der Rücktrittbremse, ausgestattet war. Aufgrund der auf dem Mittelstreifen befindlichen Litfaßsäule habe die Klägerin außerdem damit rechnen müssen, dass die Sicht auf kreuzende Radfahrer für die Beklagte zu 1) beschränkt war. Schließlich begründe auch der Umstand, dass die Klägerin keinen Fahrradhelm trug, ein zusätzliches Mitverschulden; zum Unfallzeitpunkt im Herbst 2015 habe sich bereits ein entsprechendes Verkehrsbewusstsein dahingehend gebildet, dass das Tragen eines Helms zum eigenen Schutz erforderlich ist, was sich unter anderem aus den entsprechenden Statistiken der Bundesanstalt für Straßenwesen für 2016 ergebe. Eine Haftung der Beklagten, auch nur für die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs, entfalle daher vollständig. Das geltend gemachte Schmerzensgeld sei zu hoch bemessen. Im Hinblick auf den bezifferten Verdienstausfall müsse sich die Klägerin Steuerersparnisse und ersparte berufsbedingte Aufwendungen, d.h. einen pauschalen Abzug in Höhe von insgesamt 10% des Netto-Einkommens anrechnen lassen, u.a. für Fahrtkosten zur Arbeitsstätte, Verpflegungsmehrkosten und Kosten für Arbeitskleidung. Ein Haushaltsführungsschaden könne zudem für den Zeitraum nicht geltend gemacht werden, in dem die Klägerin gar keinen Haushalt geführt hatte.

22

Das Gericht hat die Akte der Staatsanwaltschaft H., Az... , zum Verfahren beigezogen, die Klägerin und die Beklagte zu 1) persönlich angehört und die Zeuginnen M. T. und S. M. vernommen. Ferner wurden zu dem Einmündungsbereich G. Allee/J.- L.-Straße und zum Kreuzungsbereich J.- L.-Straße/H. Str. von der zuständigen Verkehrsdirektion die zum Unfallzeitpunkt geltenden Signalschaltpläne beigezogen; der Sachverständige H. hat zu deren fallbezogener Erläuterung ein mündliches Gutachten erstattet. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Terminsprotokolle vom 11.07.2017 und 21.11.2017 verwiesen.

23

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlage verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

24

Über die zulässige Klage entscheidet das Gericht zunächst bezüglich der bezifferten Leistungsanträge (Klaganträge 1., 2. und 5.) nur dem Grunde nach sowie im Wege des Teil-Endurteils bezüglich der nicht-bezifferten Feststellungsanträge (Klaganträge 3. und 4.), da insoweit der Erlass nur eines Grundurteils nach ständiger Rechtsprechung unzulässig ist (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 22.07.2009, Rz. 10 (juris) m.w.N.).

II.

25

Die Klage ist im Rahmen des Entscheidungsumfangs, wie er unter Ziff. I. dargelegt wurde, vollumfänglich begründet.

1.

26

Dem Grunde nach kann die Klägerin von den Beklagten als Gesamtschuldnern Ersatz der ihr unfallbedingt entstandenen Schadenspositionen jedenfalls in Höhe der von ihr beantragten 70% beanspruchen gemäß den §§ 7, 18 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG.

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Der Unfall ereignete sich im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs, dessen Fahrerin zum Unfallzeitpunkt die Beklagte zu 1) war. Daher haften grundsätzlich sowohl die Beklagte zu 1) als Fahrerin gemäß den §§ 18 Abs. 1 S. 1, 7 StVG als auch die Beklagte zu 2), die als Haftpflichtversicherer für Fahrer und Halter eintrittspflichtig ist, für die der Klägerin aufgrund der unfallbedingt erlittenen Verletzungen entstandenen Schäden.

2.

28

Zweifel bezüglich der von Beklagtenseite bestrittenen Aktivlegitimation der Klägerin als unmittelbar durch den Unfall verletzter Person ergeben sich für das Gericht nicht. Dass die Klägerin – als Konsequenz der unfallbedingten Verletzungen – unter der Betreuung ihrer Mutter steht und sie daher „insgesamt Schwierigkeiten haben [dürfte], eigene Entscheidungen zu treffen“, steht der materiell-rechtlichen Anspruchsinhaberschaft nicht entgegen, sondern ist allenfalls eine Frage der (fehlenden) Prozessfähigkeit; dieser Voraussetzung ist jedoch hier dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass die Klägerin im Rahmen des Prozesses, wie auch von Beginn an von Klägerseite dargestellt und entsprechend im Rubrum angeführt, durch ihre Mutter als gesetzlicher Betreuerin vertreten wird (vgl. insoweit auch Anlage K4).

3.

29

Die grundsätzlich gegebene Haftung der Beklagten (s.o. 1.) entfällt nur, wenn der streitgegenständliche Unfall - wie hier nicht - durch höhere Gewalt verursacht wurde (§ 7 Abs. 3 StVG) oder soweit der Klägerin ein Mitverschulden an dem Unfall nachgewiesen werden kann, §§ 9 StVG, 254 BGB; die Haftung der Beklagten zu 1) kann außerdem entfallen, wenn sie nachweist, dass der Schaden nicht durch ihr Verschulden verursacht wurde, § 18 Abs. 1 S. 2 StVG. Diese Nachweise sind der Beklagtenseite indes – über den von der Klägerin bereits aufgrund des Fehlens funktionierender Beleuchtungseinrichtungen an ihrem Fahrrad in Abzug gebrachten Mitverschuldensanteil von 30% hinaus – nicht gelungen.

a.

30

Insbesondere konnte sich das Gericht nicht die Überzeugung verschaffen, dass die Klägerin bei „rot“ über die für sie geltende Lichtzeichenanlage an der J.- L.-Straße fuhr, was als grober Verkehrsverstoß in einem erheblichen Mitverschuldensanteil der Klägerin resultieren würde – und nach Auffassung des Gerichts in der hier vorliegenden Fallkonstellation sogar zu einem vollständigen Wegfall der Haftung der Beklagtenseite führen würde.

31

Insoweit gilt das Beweismaß des § 286 ZPO. Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten ist. Dieses Beweismaß ist nicht bereits dann erreicht, wenn die zu beweisende Tatsache hinreichend plausibel oder gar in einem naturwissenschaftlich-mathematischen Sinn „mit an Sicherheit grenzend“ überwiegend wahrscheinlich ist. Vielmehr muss der Richter die volle Überzeugung von der Wahrheit der zu beweisenden Tatsache gewinnen. Andererseits darf der Richter nicht die absolute Wahrheit zur Voraussetzung seiner Entscheidungsfindung machen (vgl. Katzenmeier, ZZP 117, S. 195 f., 201 f.). Entscheidend ist vielmehr die subjektive Überzeugung des Richters, die keine absolute, über jeden denkbaren Zweifel erhabene Gewissheit verlangt. Der Richter darf und muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGHZ 53, 254, 256; 61, 165, 169 f.; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 286 Rdnr. 19).

32

Die Beklagten stützen sich für ihre entsprechende Behauptung im Wesentlichen auf die Angaben der Beklagten zu 1) in ihrer persönlichen Anhörung sowie auf die eingeholten Informationen zu den zum Unfallzeitpunkt im Einmündungsbereich G. Allee/J.- L.-Straße und im Kreuzungsbereich J.- L.-Straße/H. Str. geltenden Signalschaltplänen.

aa.

33

Dabei sieht sich das Gericht zunächst nicht gehindert, die Angaben der Beklagten zu 1) aus ihrer persönlichen Anhörung für die hier erforderliche Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen zu verwerten. Die Klägerseite hat insoweit eingewandt, dass sich die Anhörung der Beklagten zu 1) schon aus Gründen der Waffengleichheit verbiete, da die durch den Unfall schwer in ihrer Gesundheit beeinträchtigte Klägerin selbst keinerlei Angaben mehr zu dem Unfall (bzw., wie sich im Termin vom 11.07.2017 zeigte, auch nur zu irgendeiner Frage des Gerichts) machen kann. Dieser Auffassung folgt das Gericht indes nicht. Die hiesige Konstellation unterscheidet sich nämlich nicht von der auch sonst häufig auftretenden prozessualen Ausgangslage, in der eine Partei sich zu einem Vorgang – meist, weil sie nicht dabei war – nicht bzw. nicht mehr äußern kann. Dies hindert das Gericht gleichwohl nicht, wie von § 141 Abs. 1 ZPO grundsätzlich vorgesehen, den Versuch zu unternehmen, den Sachverhalt durch persönliche Anhörung auch nur einer Partei weiter aufzuklären. Bleiben dabei Tatsachen streitig, wird sich das Gericht im Rahmen der Überzeugungsbildung zwar nur in wenigen Fällen – ohne das Hinzutreten weiterer objektiver Umstände oder ggf. zu erhebenden Beweisen – die Überzeugung verschaffen können, dass der dann nur von einer Seite persönlich geschilderte Vortrag der zutreffende ist. Ein Verbot der persönlichen Anhörung an sich erwächst daraus jedoch nicht.

bb.

34

Jedoch verbleibt auch unter entsprechender Würdigung der Anhörung der Beklagten zu 1) und Berücksichtigung der beigezogenen Signalschaltpläne einschließlich der Erläuterungen des Sachverständigen H. und der zuletzt schriftsätzlich erfolgten Darlegungen der Beklagtenseite zum möglichen Fahrthergang der Beklagten zu 1) vor der Kollision die – wenngleich nicht sehr wahrscheinliche, so doch nicht außerhalb aller Lebenswahrscheinlichkeit liegende – Möglichkeit, dass die Klägerin keinen Rotlichtverstoß beging, weshalb die Beklagtenseite für den von ihr zu beweisenden Verkehrsverstoß der Klägerin beweisfällig bleibt.

35

(1) Das Gericht hat dabei zunächst berücksichtigt, dass es jedenfalls nach allgemeiner Lebenserfahrung bereits eher wahrscheinlicher sein dürfte, dass ein Radfahrer einen Rotlichtverstoß begeht als ein Pkw-Fahrer, da von dem Pkw, zumal wenn er bei Rotlicht in einen größeren Kreuzungsbereich einfährt, eine erhebliche höhere Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeht und das Überfahren einer roten Ampel mit einem Pkw im Zweifel schwerere Sanktionen nach sich ziehen kann als derselbe Verstoß eines Fahrradfahrers.

36

(2) Auch im vorliegenden Fall dürfte ein Rotlichtverstoß der Klägerin wahrscheinlicher, im Ergebnis sogar sehr wahrscheinlich sein. Denn sie befuhr die besagte Kreuzung nachts – hochwahrscheinlich bei geringer Verkehrsdichte an einem Samstag kurz vor Mitternacht – und ging möglicherweise davon aus, dass ein Überfahren einer für sie roten Fahrrad-/Fußgängerampel gefahrlos möglich wäre, zumal ausweislich der Lichtbilder aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. ihre Einsicht in den Teil der J.- L.-Straße, aus dem die Beklagten zu 1) kam, durch eine Litfaßsäule, parkende Autos und den Umstand, dass der dort befindliche Laternenmast defekt war, eingeschränkt gewesen sein dürfte und es insoweit eine naheliegende Vermutung ist, dass sie das herannahende Fahrzeug der Beklagten zu 1) schlicht nicht hinreichend wahrnahm.

37

(3) Hinzu kommt, dass ausweislich der beigezogenen Signalschaltpläne die für die Beklagte zu 1) an der Kreuzung J.- L.-Straße/H. Str. geltende Signalgruppe K2, bestehend aus drei separaten Lichtzeichenanlagen – links, rechts und über der Fahrbahn (vgl. Bl. 8 der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft) –, nach der Grünphase zunächst für drei Sekunden Gelblicht abstrahlt (vgl. Signalzeitenplan 4, Sekunden 22-24) und noch weitere zwei Sekunden Rotlicht folgen (Sekunden 25 und 26), bis die für die Fahrtrichtung der Klägerin geltende Signalgruppe (F9) ihrerseits Grünlicht anzeigt. Die Beklagte zu 1) hätte also, wenn man von dem ordnungsgemäßen Verhalten der Klägerin dahingehend ausgeht, dass sie ihrerseits die J.- L.-Straße erst bei Grünlicht überquerte, nicht nur eine dreisekündige Gelbphase, sondern auch noch (mindestens) eine bereits seit zwei Sekunden andauernde Rotphase missachten müssen, was einen vergleichsweise schweren Verkehrsverstoß darstellt, der noch dazu bedeutet hätte, dass die Beklagte zu 1) nicht nur (wie die Klägerin im Falle eines Rotlichtverstoßes) eine einzelne Fahrbahn bei Rotlicht überfahren hätte, sondern bei Rotlicht in einen großräumigen Kreuzungsbereich eingefahren wäre. Zudem sind nach Einschätzung des Gerichts auf dem mindestens etwa 100 Meter langen Fahrtweg der Beklagten zu 1) auf die Unfallstelle zu keine Hindernisse oder sonstigen Umstände zu erkennen, die einen etwaigen Fahr- bzw. Wahrnehmungsfehler begünstigen könnten. Zum einen befanden sich in Fahrtrichtung der Beklagten zu 1), z.B. im Bereich hinter der Kreuzung, keine anderweitigen Lichtzeichenanlagen, auf die die Beklagte zu 1) möglicherweise versehentlich ihre Aufmerksamkeit hätte lenken können. Zum anderen dürften mindestens zwei der drei Lichtzeichenanlagen (rechts und über der Fahrbahn) der Signalgruppe K2 für die Beklagte zu 1) bereits aus der Ferne gut wahrnehmbar gewesen sein.

38

(4) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte zu 1) in ihrer persönlichen Anhörung angab, dass sie vor dem Unfall mit ihrem Fahrzeug in der G. Allee (südlicher Teil) als erstes Fahrzeug an der dortigen Haltelinie der Lichtzeichenanlage stand und nach Umschalten der Lichtzeichenanlage auf „grün“ nach links auf die J.- L.-Straße abgebogen sei und unter normaler Beschleunigung auf etwa 45 km/h die Lichtzeichenanlage an der Kreuzung, in deren Bereich sich der Unfall ereignete, erreichte, als diese noch für sie „grün“ abstrahlte. Diese Angaben lassen sich, wie sich auch aus dem mündlich erstatteten, vom Gericht als nachvollziehbar und schlüssig erachteten Gutachten des Sachverständigen H. sowie dem ergänzenden schriftsätzlichen Vortrag der Beklagtenseite und dem von ihr eingeholten Privatgutachten des Dipl.-Ing. R. ergibt (vgl. Anlage B2), mit den zum Unfallzeitpunkt geltenden Signalschaltplänen in Einklang bringen. Danach läuft die Grünphase an der Einmündung G. Allee/J.- L.-Straße für die von der Beklagten zu 1) angegebene Fahrtrichtung (Signalgruppe K5 bzw. 11/12) von den Sekunden 8 bis 17 im selben Umlauf wie die dazu in Abhängigkeit geschalteten, vorgenannten Signalgruppen an der Kreuzung J.- L.-Straße/H. Str.. Die Distanz zwischen beiden Signalgruppen beträgt (einschließlich der zunächst erforderlichen Kurvenfahrt von der G. Allee auf die J.- L.-Straße) etwa 125 Meter. Soll die Klägerin bei Überfahren der J.- L.-Straße bereits wieder „grün“ gehabt haben (nach Sekunde 26) hätte die Beklagte zu 1) für diese Wegstrecke also – unterstellt, sie wäre direkt bei „grün“ aus der G. Allee losgefahren – mindestens 18 Sekunden benötigt (Sekunde 8 bis Sekunde 26), was für eine Strecke von 125 Metern, auch bei der zunächst erforderlichen Kurvenfahrt und Fahrzeugbeschleunigung, selbst für einen Kleinwagen ungewöhnlich lang wäre; nach den von Klägerseite im Einzelnen nicht widersprochenen Darstellungen des Dipl.-Ing. R. (Anlage B2) benötigt das Fahrzeug der Beklagtenseite für diese Strecke nur etwa 12 Sekunden. Auch dies spricht im Ergebnis dafür, dass die Beklagte zu 1) die Unfallstelle jedenfalls erreichte, als die für die Klägerin geltende Lichtzeichenanlage noch „rot“ anzeigte.

39

(5) Letztlich verbleiben jedoch auch unter Einbeziehung der vorgenannten Gesichtspunkte letzte, nicht hintanzustellende Zweifel des Gerichts daran, dass für die Klägerin beim Überqueren der J.- L.-Straße mit dem Fahrrad die für sie geltende Signalgruppe noch „rot“ abstrahlte. Denn das Gericht hat auch zu berücksichtigen, dass sich der Unfall zur Nachtzeit ereignete und es für den – von Klägerseite bestrittenen – Fahrtweg der Beklagten zu 1) keinerlei unmittelbare, objektive Beweismittel, z.B. unbeteiligte Zeugen, gibt. Es bleibt daher für das Gericht – wenn auch nicht sehr wahrscheinlich – die Möglichkeit, dass die Beklagte zu 1) entgegen ihrem Vorbringen, das in diesen Einzelheiten erstmals bei ihrer persönlichen Anhörung dargestellt wurde, tatsächlich nicht direkt als erstes Fahrzeug aus der G. Allee fuhr, sondern sich möglicherweise noch Fahrzeuge vor ihr befanden, als sie dort an der zunächst roten Ampel wartete, die dann möglicherweise zunächst vor ihr nach rechts in die J.- L.-Straße abbogen, wodurch sich die Fahrtzeit der Beklagten zu 1) von der besagten Einmündung bis zur Unfallstelle verlängerte. Ebenfalls ist – alternativ oder zusätzlich – denkbar, dass die Beklagte zu 1), die nach ihren Angaben zu dieser späten Uhrzeit von der Arbeit kam, nicht direkt losfuhr, als die Lichtzeichenanlage an der G. Allee für sie „grün“ anzeigte, sondern sie zunächst, z.B. weil sie erschöpft oder abgelenkt war, unbewusst einige Sekunden verstreichen ließ, bevor sie losfuhr. Die tatsächliche Geschwindigkeit der Beklagten zu 1) beim Anfahren, Kuppeln/Schalten, bei der Kurvenfahrt und auf der geraden Strecke bis zur Unfallstelle lassen sich ebenfalls nicht mehr im Einzelnen nachvollziehen. Dass dabei insgesamt eine Verzögerung dergestalt eintrat, dass die Beklagte zu 1) die Unfallstelle erst erreichte, als die für die Klägerin geltende Fahrrad-/Fußgängerampel (Signalgruppe F9) bereits grün anzeigte, und die Beklagte zu 1) im Übrigen den oben dargestellten, schweren Fahrfehler beging, ist für das Gericht in der Summe zwar sehr unwahrscheinlich, aber nicht im Sinne des oben genannten Beweismaßes zu vernachlässigen, zumal dem Gericht als Verkehrszivilkammer bekannt ist, dass zuweilen auch grobe Fahrfehler begangen werden. Dabei übersieht das Gericht nicht, dass es für die vorgenannten, zum Vortrag der Beklagten zu 1) in Abweichung stehenden Alternativverläufe keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte gibt. Hinzu kommt, dass das Gericht bei der persönlichen Anhörung der Beklagten zu 1) keinerlei Anhaltspunkte dafür hatte, dass der von ihr berichtete Geschehensablauf erkennbar ausgedacht oder an entscheidenden Stellen unwahr war. Dies gilt insbesondere, als zum Zeitpunkt der persönlichen Anhörung der Beklagten zu 1) die zum Unfallzeitpunkt geltenden Signalschaltpläne noch nicht Bestandteil der Akten waren und es daher unwahrscheinlich ist, dass die Beklagte zu 1) ihre Angaben bewusst wahrheitswidrig an eben jenen Signalschaltplänen und den sich ggf. daraus ableitbaren Schlussfolgerungen orientierte. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass ihr die Ampelschaltungen an den beiden fraglichen Stellen (Einmündung G. Allee/J.- L.-Straße einerseits, Kreuzung J.- L.-Straße/H. Str. andererseits) grundsätzlich bekannt waren, zumal die Beklagte zu 1) selbst erklärte „[n]ormalerweise, wenn ich dort links abbiege, sehe ich dann ja immer gleich auf die Ampel. Und die war da eben grün.“ und sie daher – sei es bewusst oder unbewusst – ihre Angaben an ihre „üblichen“ Wahrnehmungen anpasste. Ausweislich der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft äußerte sie sich auch direkt nach dem Unfall nur dahingehend, dass sie bei Überfahren der Unfallstelle „grün“ hatte, nicht jedoch auch weiter dahingehend – was das Gericht ggf. als Validierung der Angaben ihrer persönlichen Anhörung hätte heranziehen können –, wie sich ihr Fahrtweg davor gestaltete.

b.

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Darüber hinaus wird auch dadurch kein Mitverschulden der Klägerin im Sinne von § 254 BGB begründet, dass sie zum Zeitpunkt des Unfalls keinen Fahrradhelm trug.

41

Mangels gesetzlicher Normierung einer entsprechenden Tragepflicht könnte sich entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (zuletzt Urteil vom 17.6.2014, Az. VI ZR 281/13, Rz. 9 ff.) ein derartiges Mitverschulden allenfalls daraus ergeben, dass für Radfahrer das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit im Jahr 2015 nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich war. Anknüpfungspunkt für das Bestehen eines solchen Verkehrsbewusstseins – die bloße Kenntnis eines Verletzungsrisikos reicht nicht aus – können "Umfrageergebnisse, Statistiken und amtliche oder nichtamtliche Erhebungen" sein (vgl. BGH, a.a.O., der ein allgemeines Verkehrsbewusstsein für das Jahr 2011 bei einer Helmtragequote über alle Altersgruppen hinweg von 11% verneinte). Die insoweit von der Beklagtenseite nach Hinweis des Gerichts auf die vorgenannte Rechtsprechung eingereichte Statistik (Bl. 103-106 d.A.) spricht jedoch gerade dagegen, dass sich das vom Bundesgerichtshof angesprochene Verkehrsbewusstsein von dem bei jener Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (2011) bis zum hier streitgegenständlichen Unfall im Oktober 2015 maßgeblich gewandelt hätte. Denn nach den von Beklagtenseite vorgetragenen Zahlen tragen in der hier maßgeblichen Altersgruppe der Radfahrer – die Klägerin war zum Unfallzeitpunkt 31 Jahre alt – etwa 15% einen Fahrradhelm (vgl. Diagramm auf S. 3 des Schriftsatzes der Beklagtenseite vom 6.7.2017, Bl. 105 d.A.). Für keine der dort angegebenen Erwachsenen-Altersgruppen liegt die Tragequote bei mehr als 21%. Die Tragequote über alle Altersgruppen hinweg lag bei 17%. Vor diesem Hintergrund, dass offenkundig allenfalls etwa ein Fünftel des maßgeblichen Verkehrskreises einen Helm trägt, kann das Gericht sich nicht die Überzeugung verschaffen, dass sich in der Allgemeinbevölkerung ein derartiges Verkehrsbewusstsein herausgebildet hätte, dass das Tragen von Schutzhelmen zum eigenen Schutz des Fahrradfahrers erforderlich wäre. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass diese Quote bei Kindern und Jugendlichen deutlich höher ausfällt (6-10 Jahre: 76%; 11-16 Jahre: 34%). Denn diese höheren Quoten basieren offenkundig und naheliegend auf dem besonderen Schutzbedürfnis jüngerer Verkehrsteilnehmer, die aufgrund fehlender Erfahrung ihnen drohende Gefahren häufig nicht erkennen und auf diese nicht situationsadäquat reagieren können, die für andere Verkehrsteilnehmer überraschend reagieren oder schlicht (gerade bei Kleinkindern) übersehen werden. Möglicherweise würde das Gericht für die Gruppe der 6-10jährigen von einem derartigen Verkehrsbewusstsein ausgehen; da diese Gruppe aufgrund der vorgenannten, altersspezifischen Erwägungen jedoch mit der hier jedenfalls maßgeblichen Gruppe der erwachsenen Fahrradfahrer nicht vergleichbar ist, genügt dies nicht, um das vom Bundesgerichtshof geforderte allgemeine Verkehrsbewusstsein in diesem Fall zu belegen.

c.

42

Die Beklagtenseite kann sich für ein unfallursächliches Mitverschulden auch nicht darauf berufen, dass das Fahrrad der Klägerin zum Unfallzeitpunkt nur mit einer Rücktrittbremse ausgestattet war. Das Fahrrad mag zwar daher nicht vorschriftsmäßig im Sinne des § 65 Abs. 1 S. 2 StVZO gewesen sein, da es nicht zwei voneinander unabhängige Bremsen hatte. Es steht jedoch zur Überzeugung des Gerichts nicht fest, dass sich dieser Verkehrsregelverstoß auch unfallursächlich ausgewirkt hat. Denn es bleibt jedenfalls möglich (s.o. unter a.), dass die Beklagte zu 1) die Unfallstelle bei für sie geltendem Rotlicht passierte, die Klägerin hingegen "grün" hatte. In dieser Konstellation wäre die Klägerin jedoch berechtigt gewesen, ohne zu bremsen die Fahrradfurt über die J.- L.-Straße zu passieren. Wenn sie in dieser Konstellation seitlich von dem von der Beklagten zu 1) geführten Fahrzeug erfasst wird, ist es zur Überzeugung des Gerichts naheliegend, dass sich der Unfall ebenso abgespielt hätte, wenn die Klägerin zwei unabhängige Bremsen am Fahrrad gehabt hätte, da sie in der vorbenannten Situation schlicht keinen Anlass hatte, überhaupt zu bremsen.

d.

43

Schließlich konnte auch die Beklagte zu 1) nicht den ihr gemäß § 18 Abs. 1 S. 2 StVG obliegenden Beweis erbringen, dass der Unfall nicht auf ihrem Verschulden beruhte. Denn wenn aufgrund der oben dargelegten Umstände offen bleibt (s.o. unter a.), ob die Klägerin die für sie geltende Ampel bei „rot“ überfuhr, bleibt es ebenso möglich, dass die Beklagte zu 1) ihrerseits die für sie geltende Ampel bei Rotlicht passierte.

4.

44

Über die Leistungsanträge hat das Gericht mit diesem Urteil zunächst nur dem Grunde nach entschieden. In den konkret bezifferten Anträgen (Klagantrag zu 2. und zu 5.) hat die Klägerin dabei den von ihr angerechneten Mitverschuldensanteil bereits berücksichtigt. Im der Höhe nach offen gehaltenen Schmerzensgeldantrag (Klagantrag zu 1.), den die Klägerin aber auf mindestens 150.000,00 € beziffert, hat sie ausweislich der Klagschrift, dort S. 7, ebenfalls eine Haftungsquote der Beklagtenseite von 70%, mithin ein Mitverschulden von 30% in Ansatz gebracht, was das Gericht zur Klarstellung im Tenor zum Ausdruck gebracht hat.

45

Der Höhe nach soll die Entscheidung über diese Anträge dem Betragsverfahren vorbehalten bleiben, da insbesondere beabsichtigt ist, zur Bestimmung der Schmerzensgeldhöhe noch ein medizinisches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, welche der von der Klägerin erlittenen Verletzungen und Beeinträchtigungen auch dauerhaft bestehen bleiben werden bzw. inwieweit über den weiteren Verlauf eine Besserung eingetreten ist oder eintreten wird.

5.

46

Über die unbezifferten Feststellungsanträge (Klaganträge zu 3. und zu 4.) hat das Gericht, da ein Grundurteil insoweit unzulässig ist, abschließend durch Teil-Endurteil entschieden. Die Feststellungsanträge sind auch begründet. Die Beklagtenseite stellt ihre Haftung für den Unfall in Abrede. Dass der Klägerin aufgrund der Schwere der Verletzungen neben den mit den Leistungsanträgen geltend gemachten Positionen in materieller Hinsicht noch weitere ersatzfähige Schadenspositionen (z.B. nicht erstattungsfähige Heilbehandlungs- oder Pflegekostenkosten) entstehen können, liegt auf der Hand und wurde von Beklagtenseite nicht in Abrede gestellt. Gleiches gilt für weitere immaterielle Schäden, da - ebenfalls angesichts der Schwere des Verletzungsbildes und der Beeinträchtigungen - es ohne weiteres möglich erscheint, dass es künftig zu solchen Verletzungsfolgen kommt, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Schmerzensgeldantrag noch nicht eingetreten waren und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar war, mit denen also nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden musste (und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt bleiben mussten), vgl. insoweit auch BGH, Urteil vom 20.01.2015, Az. VI ZR 27/14, Rz. 8.

II.

47

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten (vgl. dazu auch Zöller, 31. Aufl., § 301 Rn. 11; § 304 Rn. 26). Eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit war nicht zu treffen. Soweit es sich um ein Grundurteil handelt, findet eine Zwangsvollstreckung daraus nicht statt, § 704 ZPO, soweit es sich – im Hinblick auf die Feststellungsanträge – um ein (Teil-)Endurteil handelt, hat dieses als bloßes Feststellungsurteil, hier: ohne eigene Kostenentscheidung, keinen vollstreckungsfähigen Inhalt (vgl. Zöller, a.a.O., § 704, Rn. 2; vor § 300, Rn. 8).

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