Urteil vom Landgericht Stuttgart - 5 S 79/21

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 08.04.2021 (12 C 4838/20) wie folgt abgeändert:

Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschluss

Der Berufungsstreitwert beträgt 400,00 EUR.

Gründe

 
I.
Die Klägerin macht aus abgetretenem Recht für zwei Passagiere eine Ausgleichszahlung à je 200,00 EUR gemäß Artikel 5, 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und Rates vom 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen (im weiteren als Fluggastrechteverordnung bezeichnet) geltend.
Die Passagiere hatten für den 14.03.2020 den Flug LX 2083 von Lissabon nach Zürich - der ordnungsgemäß durchgeführt wurde - und LX 1174 von Zürich nach Stuttgart gebucht. Da der letzte Teilflug annulliert wurde, mussten sie mit dem Zug nach Stuttgart reisen und kamen dort circa zweieinhalb Stunden verspätet an.
Grund für die Annullierung ist laut der Beklagten die Corona-Pandemie.
Das Amtsgericht Nürtingen hat der Klage stattgegeben, da die Beklagte ihrer Beweislast, dass die Annullierung aufgrund der Corona-Pandemie erfolgt sei, nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sei. Hierzu wäre substantiierter Vortrag der Beklagten notwendig gewesen, welche Flüge man noch durchgeführt und welche Flüge man annulliert habe und wann die Umplanungen vorgenommen worden seien.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.
Sie habe ausreichenden Vortrag dazu gehalten, dass die Annullierung aufgrund der Corona-Pandemie erfolgt sei und dass ihr nicht zumutbar gewesen sei, den streitgegenständlichen Flug durchzuführen.
Auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen. Auf die Darstellung des Berufungsvorbringens wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a ZPO verzichtet.
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und mit einer Begründung versehenen Berufung der Beklagten hat Erfolg.
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts geht die Kammer davon aus, dass die Beklagte substantiiert dargelegt hat, dass sie aufgrund der Corona-Pandemie den Flug Stuttgart-Zürich annulliert hat und ihr die Durchführung dieses Fluges nicht zumutbar war, so dass vom Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes gemäß Artikel 5 Absatz 3 Fluggastrechteverordnung auszugehen ist und die Beklagte keine Ausgleichszahlung gemäß Artikel 7 dieser Verordnung schuldet.
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Am 11.03.2020 rief die WHO das Vorliegen einer Pandemie aus. Es drohte ein exponentielles Wachstum an Ansteckungen mit einer potentiell sehr gefährlichen oder sogar tödlichen Krankheit. Zu diesem Zeitpunkt gab es weder einen Impfstoff zur Bekämpfung des Coronavirus noch hatte sich ein Testsystem etabliert. Somit lagen am 14.03.2020 außergewöhnliche Umstände vor.
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Welche Maßnahmen einem Luftverkehrsunternehmen zuzumuten sind, um zu vermeiden, dass außergewöhnliche Umstände zu einer Annullierung führen, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Zumutbarkeit ist situationsabhängig zu beurteilen, wobei darauf zu achten ist, dass das Luftfahrtunternehmen nicht zu Opfern veranlasst wird, die zum jeweiligen Zeitpunkt nicht tragbar sind (EuGH, Urteil vom 12.05.2011, C - 294/10 sowie Urteil vom 4.05.2017, C - 315/15).
12 
Die Kammer geht davon aus, dass diese Situation die Beklagte berechtigte, an ihrem bisherigen Flugplan nicht mehr festzuhalten und die Anzahl der Flüge zu reduzieren und somit auch den streitgegenständlichen Flug zu annullieren.
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Die Beklagte hat bereits in erster Instanz vorgetragen, dass sie einen Sonderflugplan errichtet hat, der laufend angepasst wurde. Die Buchungen seien im März 2020 aufgrund der Pandemie um 92 % im Vergleich zu den Buchungen im Vorjahr im März 2019 zurückgegangen. Bei Errichtung des Sonderflugplanes sei berücksichtigt worden, wie häufig Strecken beflogen würden, Flüge mit hoher Umsteigerelevanz seien bevorzugt worden. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte habe man dann Flüge zusammengelegt bzw. annulliert. Dies sei zum einen notwendig geworden, um die Anzahl der Flugbewegungen zu reduzieren, einerseits zum Schutz der Crew, aber auch, um das Risiko der Ausbreitung der Pandemie zu vermeiden. Zudem sei es unwirtschaftlich und im Rahmen der Umweltbelastungen nicht vertretbar, Flüge mit wenigen Passagieren durchzuführen.
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Die Kammer erachtet diesen Vortrag der Beklagten als ausreichend. Eine konkrete Darlegung, warum dieser streitgegenständliche Flug, andere Flüge jedoch nicht, annulliert wurde, obliegt der Beklagten nicht. Insoweit ist auf Rechtsprechung des BGH zu verweisen, die der Fluggesellschaft einen weiten Ermessensspielraum einräumt, wenn aufgrund außergewöhnlicher Umstände der bisherige Flugplan aufgegeben werden muss und eine Reorganisation der Flüge zu erfolgen hat. So führt der BGH in seinem Urteil vom 21.08.2012 (X ZR 138/11) aus, dass das Luftfahrtunternehmen darauf hinzuwirken hat, dass die Beeinträchtigung der Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfällt und dass die Nichtdurchführung eines einzelnen Fluges in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden kann, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können. In Anbetracht der komplexen Entscheidungssituation, bei der eine Vielzahl von Flügen sowie deren Verknüpfung untereinander zu berücksichtigen sind, sei dem Luftfahrtunternehmen vielmehr der erforderliche Spielraum bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen zuzubilligen. Es liege im eigenen Interesse des Luftfahrtunternehmens, die Auswirkungen - dort des Streiks - und die dadurch bedingte Beeinträchtigung der Fluggäste so gering wie möglich zu halten.
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Auch die europäische Kommission in ihrer Bekanntmachung vom 18.03.2020 geht davon aus, dass der Fluggesellschaft eine Einschätzungsprärogative zuzugestehen ist.
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Somit sind außergewöhnliche Umstände kausal für die Annullierung geworden und die Beklagte hat durch die Errichtung eines Sonderflugplans nach den oben genannten Kriterien die ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen. Damit ist sie von ihrer Verpflichtung zur Zahlung eines Ausgleichsbetrages gemäß Artikel 5, 7 Fluggastrechteverordnung befreit.
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Die Klage war daher abzuweisen und das Urteil des Amtsgerichts entsprechend abzuändern.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 709, 711, 713 ZPO.
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Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 ZPO bestehen nicht, da es sich um eine Einzelfallabwägung handelt.

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