Beschluss vom Landgericht Verden (Aller) (6. Zivilkammer) - 6 T 35/15

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Gläubigerin vom 30.01.2015 wird der Beschluss des Amtsgerichts Verden (Aller) vom 13.01.2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - über den Antrag der Gläubigerin vom 22.10.2014 an das Amtsgericht Verden (Aller) zurückverwiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

1

Die Gläubigerin betreibt gegen die Schuldnerin die Zwangsvollstreckung aufgrund vollstreckbarer öffentlich-rechtlicher Ansprüche des Landes Niedersachsen (Kassenzeichen 1481900128769 und 1482800618765) in Höhe von insgesamt 109 €. Am 24.4.2014 erteilte sie dem zuständigen Gerichtsvollzieher einen Vollstreckungsauftrag.

2

Auf Antrag der Gläubigerin erließ das Amtsgericht Verden (Aller) am 16.7.2014 einen Haftbefehl gemäß § 802g ZPO (Bl. 4 d.A.). Die Gläubigerin beauftragte den Gerichtsvollzieher am 30.7.2014 mit der Vollstreckung des Haftbefehls (Bl. 2 d.A.).

3

Durch Schreiben vom 13.10.2014 (Bl. 3 d.A.) teilte der Gerichtsvollzieher der Gläubigerin mit, dass er die Schuldnerin bei mehrfachen Versuchen zu verschiedenen Tageszeiten nicht angetroffen habe. Er habe auch Vollstreckungsversuche kurz vor und kurz nach der Nachtzeit unternommen. Zur Fortsetzung der Verhaftung sei daher ein richterlicher Beschluss gemäß § 758a Abs. 4 ZPO erforderlich.

4

Daraufhin beantragte die Gläubigerin durch Schreiben vom 22.10.2014 (Bl. 1 d.A.) beim Amtsgericht Verden (Aller) den Erlass eines Beschlusses nach § 758a Abs. 4 ZPO zur Vollstreckung des Haftbefehls zur Nachzeit.

5

Durch Schreiben vom 5.12.2014 (Bl. 15 f. d.A.) teilte das Amtsgericht der Gläubigerin mit, dass es rechtliche Bedenken gegen den beantragten Beschluss habe. Zur Begründung führte es aus, dass die Verhaftung der Schuldnerin bereits aufgrund des bestehenden Haftbefehls möglich sei, ohne dass es dazu eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses bedürfe, wie sich aus § 758a Abs. 2 ZPO ergebe. Ein Durchsuchungsbeschluss nach § 758a Abs. 1 oder Abs. 4 ZPO diene nicht der Verhaftung, sondern der Vollstreckung der Forderung. Ein Durchsuchungsbeschluss für die Nachtzeit sei vorliegend angesichts der geringen Höhe der Forderung unverhältnismäßig, zudem sei nicht dargelegt, dass eine Vollstreckung zur Tagzeit nicht erfolgversprechend sei. Es komme daher nur ein Beschluss nach § 758a Abs. 1 ZPO in Betracht, jedoch sei kein entsprechender Antrag gestellt worden. Verhaftung und Vermögensauskunft seien noch gar nicht erfolgt, so dass derzeit nicht beurteilt werden könne, ob bei der Durchsuchung mit dem Auffinden pfändbarer Gegenstände zu rechnen sei.

6

Die Gläubigerin nahm durch Schreiben vom 6.1.2015 (Bl. 20 f. d.A.) dahingehend Stellung, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zum jetzigen Zeitpunkt nicht erfolgen dürfe, da diese Frage bereits bei Erlass des Haftbefehls geprüft worden sei.

7

Durch Beschluss vom 13.1.2015 (Bl. 18 f. d.A.) wies das Amtsgericht den Antrag der Gläubigerin aufgrund der im Schreiben vom 5.12.2014 mitgeteilten Erwägungen zurück.

8

Gegen diesen Beschluss, der der Gläubigerin am 20.1.2015 (Bl. 17 d.A.) mit einfacher Post übersandt wurde, hat die Gläubigerin am 30.1.2015 (beim Amtsgericht eingegangen am selben Tage) sofortige Beschwerde eingelegt (Bl. 22 d.A.) und zur Begründung auf ihre Stellungnahme vom 6.1.2015 verwiesen.

9

Mit Beschluss vom 4.2.2015 (Bl. 25 d.A.) hat das Amtsgericht der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und zur Begründung ausgeführt, der Vollstreckungsantrag sei "zur Vollstreckung des Haftbefehls" unzulässig und "zwecks Auffinden pfändbarer Habe" angesichts der geringen Forderungshöhe unverhältnismäßig.

II.

10

Die sofortige Beschwerde ist zulässig gemäß §§ 793, 567 ff. ZPO, insbesondere auch form- und fristgerecht eingelegt worden.

III.

11

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

12

Das Amtsgericht hat den Antrag der Gläubigerin auf Erlass eines Beschlusses nach § 758a Abs. 4 ZPO zu Unrecht zurückgewiesen.

1.

13

Der Antrag der Gläubigerin ist zulässig.

14

a) Es besteht ein Rechtsschutzinteresse für den Erlass des beantragten Beschlusses.

15

Richtig ist zwar grundsätzlich, dass ein bestehender Haftbefehl nach § 802g ZPO bereits die richterliche Gestattung für den Gerichtsvollzieher mitumfasst, die Wohnung des Schuldners zum Zwecke der Verhaftung zu betreten. Einer gesonderten richterlichen Anordnung, die das Betreten der Wohnung des Schuldners gestattet, um diesen zu verhaften, bedarf es daher nicht, wie § 758a Abs. 2 ZPO ausdrücklich normiert.

16

Etwas anderes gilt jedoch, wenn das Betreten der Wohnung des Schuldners zum Zwecke seiner Verhaftung zur Nachtzeit oder an Sonn- und Feiertagen geschehen soll.

17

§ 758a Abs. 4 ZPO ordnet insoweit an, dass jegliche Vollstreckungshandlungen in Wohnungen nur auf besondere Anordnung eines Richters durchgeführt werden dürfen. Die Vorschrift verlangt eine solche besondere Anordnung ausnahmslos für jede Vollstreckungshandlung zu den genannten Zeiten, und zwar unabhängig davon, ob außerhalb dieser Zeiten eine solche nach § 758a Abs. 1 und Abs. 2 ZPO erforderlich ist oder nicht. Insbesondere bezieht sich die Ausnahmeregelung des § 758a Abs. 2 ZPO, wonach für die Durchsuchung der Schuldnerwohnung im Rahmen der Vollstreckung eines Haftbefehls eine Anordnung des Richters entbehrlich ist, nach ihrem eindeutigen Wortlaut lediglich auf Abs. 1 der Vorschrift und nicht auf deren Abs. 4.

18

Nicht nur der Wortlaut, sondern auch Sinn und Zweck des § 758a Abs. 4 ZPO sprechen für diese Auslegung. Denn über den mit dem Vollzug des Haftbefehls allgemein verbundenen schwerwiegenden Eingriff in das Freiheitsrecht des Schuldners hinaus greift dessen  Vollstreckung in der Wohnung zur Nachtzeit oder an Sonn- und Feiertagen zusätzlich in eine rechtlich geschützte Sphäre des Schuldners ein. § 758a Abs. 4 ZPO ist Ausdruck einer vom Gesetzgeber gewollten gesteigerten Schutzwürdigkeit des Schuldners zu den genannten Zeiten, weil die Nachtzeit in der Regel zum Schlafen genutzt wird und Sonn- und Feiertagen gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV besonderer Schutz zukommt. Während dieser Zeiten sollen Vollstreckungsmaßnahmen nur in Ausnahmefällen erfolgen und daher eine nochmalige richterliche Überprüfung stattfinden, ob unter Abwägung der berechtigten gegenseitigen Interessen eine Vollstreckung zu den genannten Zeiten gerechtfertigt ist. Diese Frage wird vom Richter beim Erlass des Haftbefehls regelmäßig noch nicht geprüft (so BGH, NJW-RR 2005, 146).

19

Demnach ist für die Vollstreckung eines Haftbefehls zur Nachtzeit oder an Sonn- und Feiertagen in der Schuldnerwohnung eine besondere nochmalige Anordnung des Richters nach § 758a Abs. 4 ZPO erforderlich (BGH aaO.; Musielak/Lackmann, ZPO, § 758a Rn. 17; aA Zöller/Stöber, ZPO, § 758a Rn. 35).

20

b) Der Antrag der Gläubigerin ist auch nicht deshalb unzulässig, weil sie nicht das amtliche Formular nach § 1 ZVFV verwendet hat.

21

Gemäß § 758a Abs. 6 ZPO gilt die Formularpflicht nur für Anträge auf Erlass richterlicher Durchsuchungsanordnungen nach § 758a Abs. 1 ZPO, nicht aber für Anordnungen nach § 758a Abs. 4 ZPO. Die ZVFV sieht dementsprechend in § 1 i.V.m. Anlage 1 nur ein Formular für Anträge nach § 758a Abs. 1, nicht aber für Anträge nach § 758a Abs. 4 ZPO vor. Das als Anlage 1 der Verordnung beigefügte Formular ist für Anträge nach § 758a Abs. 4 ZPO auch untauglich, da es keinerlei Möglichkeit vorsieht, Angaben zu den besonderen Voraussetzungen für eine Durchsuchung zur Nachtzeit oder an Sonn- und Feiertagen zu machen.

22

Es handelt sich bei einem Beschluss nach § 758a Abs. 4 ZPO, der zur Vollstreckung eines Haftbefehls ergeht, auch nicht um eine Durchsuchungsanordnung, sondern vielmehr um eine Gestattung des Betretens der Wohnung zwecks Verhaftung des Schuldners, so dass auch aus diesem Grund kein Formularzwang nach § 758a Abs. 6 ZPO besteht (so auch AG Bad Segeberg, BeckRS 2014, 00340; BeckOK-ZPO, § 758a Rn. 11.2).

2.

23

Der Antrag des Gläubigers ist auch begründet, da die Voraussetzungen für eine Vollstreckung des Haftbefehls zur Nachtzeit und an Sonn- und Feiertagen vorliegen.

24

§ 758a Abs. 4 ZPO untersagt eine Vollstreckungshandlung zu den genannten Zeiten, wenn diese für den Schuldner eine unbillige Härte darstellt oder der zu erwartende Erfolg in einem Missverhältnis zu dem Eingriff steht.

25

Der Gläubiger hat daher darzulegen, dass die Vollstreckung zur Tagzeit erfolglos geblieben ist, oder die Vollstreckung zur Nachtzeit bzw. an Sonn- und Feiertagen wesentlich größeren Erfolg verspricht (Musielak/Lackmann, ZPO, § 758a Rn. 19). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die antragstellende Gläubigerin hat unter Bezug auf das an sie gerichtete Schreiben des Gerichtsvollziehers vom 13.10.2014 dargelegt, dass die Schuldnerin mehrfach zu unterschiedlichen Zeiten, auch kurz vor und nach der gesetzlichen Nachtzeit, nicht angetroffen wurde. Es entspricht zudem allgemeiner Lebenserfahrung, dass sich Bewohner gerade zur Nachtzeit mit höherer Wahrscheinlichkeit in ihrer Wohnung aufhalten als tagsüber, so dass die Vollstreckung des Haftbefehls zur Nachtzeit auch größeren Erfolg gegenüber den bisherigen Vollstreckungsversuchen verspricht.

26

Der Vollstreckung zur Nachtzeit bzw. an Sonn- und Feiertagen steht auch nicht die relativ geringe Höhe der Forderung entgegen, da anderenfalls der berechtigte Vollstreckungsanspruch der Gläubigerin nicht erfüllt würde (Musielak, aaO.). Im Vollstreckungsrecht gilt der Grundsatz, dass auch Bagatellforderungen vollstreckt werden können, da ansonsten ein im Erkenntnisverfahren erwirkter Titel nicht durchsetzbar wäre (Zöller/ Stöber, ZPO, § 753 Rn. 8). Im vorliegenden Fall ist zum einen zu berücksichtigen, dass es sich bei der - ausweislich des Verhaftungsantrages der Gläubigerin offenbar aus einem Strafverfahren resultierenden - Forderung von mehr als 100  € auch nicht um eine Bagatellforderung handelt. Würde man dies anders sehen und die Vollstreckung einer Forderung in dieser Höhe jedenfalls durch Verhaftung des Schuldners zur Nachtzeit für unverhältnismäßig erachten, könnten Schuldner in einer Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle durch entsprechendes Verhalten die Vollstreckung vereiteln. Zum anderen kann bei Abwägung der widerstreitenden Interessen von Gläubigerin und Schuldnerin auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Schuldnerin selbst die Vollstreckungsmaßnahme zur Nachtzeit hätte vermeiden können, wenn sie ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Abgabe der Vermögensauskunft gemäß § 802c ZPO nachgekommen wäre oder auf die im Schreiben des Gerichtsvollziehers an die Gläubigerin vom 13.10.2014 erwähnte schriftliche Benachrichtigung reagiert hätte.

IV.

27

Im Beschwerdeverfahren ist dem Beschwerdeführer sowie dem Beschwerdegegner grundsätzlich rechtliches Gehör zu gewähren, bevor eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung getroffen wird (Musielak/Ball, ZPO, § 572 Rn. 20, 21).

28

Der Beschwerdeführerin musste vorliegend jedoch keine weitere Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden, da das Beschwerdegericht ihrem Antrag stattgibt und sie somit durch die Entscheidung ohne vorheriges rechtliches Gehör nicht beschwert ist.

29

Der Beschwerdegegnerin war ebenfalls kein rechtliches Gehör zu gewähren. Denn im Verfahren auf Erlass eines Beschlusses nach § 758a ZPO wird der Schuldner nicht angehört, wenn der Vollstreckungserfolg dadurch gefährdet würde (Zöller/Stöber, § 758a Rn. 25). Abgesehen davon, dass teilweise vertreten wird, eine solche Gefährdung liege in der Praxis nahezu regelmäßig vor (Zöller/Stöber, aaO.), besteht im vorliegenden Fall auch konkret aufgrund des bisherigen Verhaltens der Schuldnerin die Befürchtung, dass sie sich der drohenden Verhaftung entziehen würde, wenn sie vorab Kenntnis über den beabsichtigten Beschluss nach § 758a Abs. 4 ZPO erlangen würde. Eine vorherige Anhörung der Schuldnerin ist daher auch im Beschwerdeverfahren entbehrlich, wenn dieses daraus resultiert, dass das Vollstreckungsgericht den Antrag des Gläubigers auf Erlass eines Beschlusses nach § 758a Abs. 4 ZPO zuvor abgelehnt hat.

V.

30

Die Sache war gemäß § 572 Abs. 3 ZPO an das Amtsgericht Verden (Aller) zurückzuverweisen, um für die Schuldnerin hinsichtlich der Haftanordnung die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsmittel vollständig zu erhalten.

31

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens war dabei dem Erstgericht zu übertragen (Zöller/Stöber, ZPO, § 572 Rn. 47).

VI.

32

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.

 


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