Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (6. Senat) - L 6 AS 194/15
Tenor
Die Berufung der Kläger wird zurückgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 27. August 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Höhe des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes unter Berücksichtigung höherer Unterkunftskosten für die Monate März und April 2012 und dabei insbesondere über die Höhe der zu berücksichtigenden Bedarfe für Unterkunft.
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Die am 1972 geborene Klägerin zu 1. bezog gemeinsam mit ihren 3 Kindern, der am 1999 geborenen Klägerin zu 2., dem 2002 geborenen Kläger zu 3. und der am 1997 geborenen Klägerin zu 4. beim Beklagten laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
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Die Kläger bewohnten im streitgegenständlichen Zeitraum und bewohnen noch heute eine 79,65 qm große Wohnung in H., einer ca. 3.200 Einwohner zählenden Gemeinde, die bis zum 31. Dezember 2016 dem Amt M. angehörte und seit 1. Januar 2017 dem Amt G. und M. S. angehört. Die monatliche Nettokaltmiete für die Wohnung betrug im streitigen Zeitraum 570,00 EUR; es waren Betriebskostenvorauszahlungen in Höhe von monatlich 80,00 EUR und Heizkostenvorauszahlungen in Höhe von monatlich 120,00 EUR zu leisten. Insgesamt betrug die monatliche Bruttokaltmiete im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum 650,00 EUR.
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Mit Schreiben vom 28. April 2011 wies der Beklagte die Kläger auf die Unangemessenheit ihrer Unterkunftskosten hin und forderte sie zur Kostensenkung auf.
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Mit Bescheid vom 7. Mai 2012 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Monat März 2012 in Höhe von 1003,02 EUR und für den Monat April in Höhe von 997,87 EUR. Dabei berücksichtigte der Beklagte neben den Regelbedarfen und einem Mehrbedarf für Alleinerziehende zugunsten der Klägerin zu 1. auch Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 674,78 EUR. Diese setzten sich zusammen aus einer anerkannten Bruttokaltmiete von 580,00 EUR und anerkannten Heizkosten in Höhe von 94,78 EUR. Auf die Bedarfe rechnete der Beklagte das um Freibeträge bereinigte Einkommen der Klägerin zu 1. aus abhängiger Beschäftigung, das Kindergeld für die Kläger zu 2. bis 4. und Unterhaltsvorschuss für den Kläger zu 3. an. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bewilligungsbescheid Bezug genommen.
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Den gegen diesen Bescheid am 7. Juni 2012 erhobenen, nicht inhaltlich begründeten Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 2012 als unbegründet zurück. Der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.
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Mit ihrer dagegen am Montag, den 13. August 2012, beim Sozialgericht Itzehoe erhobenen Klage haben die Kläger geltend gemacht, gegen den Beklagten Anspruch auf Berücksichtigung der vollen Miete in Höhe von 650,00 EUR bruttokalt zzgl. Heizkosten zu haben. Die Mietwerterhebungen des Beklagten genügten nicht den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept. Deshalb sei die Wohngeldtabelle ergänzend heranzuziehen. Bei Zugrundelegung der Mietstufe IV ergebe sich für 4-Personenhaushalte ein Wert von 600,00 EUR, der noch um einen zehnprozentigen Sicherheitszuschlag zu erhöhen sei. Die sich so ergebende Angemessenheitsgrenze von 660,00 EUR bruttokalt liege oberhalb der tatsächlichen Aufwendungen.
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Mit Urteil vom 27. August 2015 hat das Sozialgericht der Klage teilweise stattgegeben und den Beklagten verurteilt, den Klägern unter Abänderung der angefochtenen Bescheide höhere Leistungen unter Berücksichtigung einer Bruttokaltmiete in Höhe von 608,00 EUR zzgl. Heizkosten zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
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Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die vom Beklagten festgesetzte Angemessenheitsgrenze von 580,00 EUR bruttokalt schon deshalb nicht auf einem schlüssigen Konzept beruhe, weil der vom Beklagten gebildete, für die Beurteilung der Angemessenheit maßgebende Vergleichsraum höchstrichterlichen Anforderungen nicht standhalte. Als Vergleichsmaßstab sei im Ausgangspunkt die Miete am Wohnort heranzuziehen. Bei kleineren Gemeinden seien aber auch größere räumliche Bereiche in Betracht zu ziehen. Zwar sei insoweit die Wahl eines gesamten Kreisgebiets nicht generell ausgeschlossen. Die im Auftrag des Beklagten erstellte Clusteranalyse zeige aber gerade die Heterogenität des Wohnungsmarktes und der damit verbundenen Preisstruktur innerhalb des Kreises Pinneberg auf, der deshalb keinen einheitlichen Vergleichsraum bilden könne. Vielmehr sei im Ausgangspunkt an die vom Beklagten gebildeten Wohnungsmarkttypen anzuknüpfen. Bei der Bildung dieser Wohnungsmarkttypen habe der Beklagte aber in zu beanstandender Weise außer Acht gelassen, dass das Kreisgebiet durch ein Speckgürtelphänomen zur benachbarten Metropole Hamburg geprägt sei, wodurch sich das südliche Kreisgebiet – auch was die Anbindung an die regionale Infrastruktur anbelange – deutlich vom eher ländlich geprägten nördlichen Kreisgebiet abhebe. Deshalb könnten auch nicht alle Gemeinden und Ämter des vom Beklagten beschriebenen Wohnungsmarkttyps 1 als für die Gemeinde H. relevanter Vergleichsraum zugrunde gelegt werden, sondern allein die südlichen Gemeinden und Ämter unter Ausschluss der nördlichen Ämter H. und R. sowie der Stadt B.. Unter Berücksichtigung der vom Beklagten erhobenen Datengrundlage und in Anwendung der vom Dienstleister des Beklagten erarbeiteten und im Übrigen schlüssig begründeten Methodik ergebe sich für den so verkleinerten Wohnungsmarkttyp 1 ein Angemessenheitsrichtwert von 608,00 EUR bruttokalt. Soweit die Kläger noch höhere Leistungen begehrten, könnten sie diese auch nicht nach Maßgabe des § 22 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) verlangen, weil sie zur Kostensenkung aufgefordert worden seien, die Regelübergangsfrist abgelaufen sei und keine Gründe dargelegt worden seien, die die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Kostensenkung begründeten. Namentlich reiche die pauschale Behauptung mangelnder Verfügbarkeit angemessenen Wohnraums dafür nicht aus.
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Das Sozialgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen.
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Gegen dieses den Klägern am 13. Oktober 2015 und dem Beklagten am 9. Oktober 2015 zugestellte Urteil haben der Beklagte am 9. November 2015 und die Kläger am 13. November 2015 Berufung eingelegt.
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Zur Begründung nehmen die Kläger auf ihr erstinstanzliches Vorbringen Bezug. Zu Unrecht habe der Beklagte das gesamte Kreisgebiet als einheitlichen Vergleichsraum zugrunde gelegt. Aber auch die Korrekturen des Sozialgerichts erwiesen sich als rechtsfehlerhaft. Im Übrigen seien formelle Fehler zu rügen. So habe es an einer wirksamen Bekanntgabe des schlüssigen Konzepts durch den Beklagten gefehlt. Verwaltungsvorschriften mit unmittelbarer Außenwirkung seien bekannt zu machen eine selektive, erläuternde Wiedergabe ihres Inhalts sei nicht ausreichend.
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Das in der mündlichen Verhandlung am 31. Januar 2017 abgegebene Teilanerkenntnis des Beklagten dahingehend, für den streitigen Zeitraum Bedarfe für Heizung in Höhe von monatlich 120,00 EUR zu berücksichtigen, haben die Kläger angenommen und beantragen darüber hinaus,
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1. das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 27. August 2015 und den Bescheid des Beklagten 7. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Juli 2012 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihnen für den Zeitraum 1. März 2012 bis 30. April 2012 höhere Leistungen unter Berücksichtigung von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 770,00 EUR zu gewähren,
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2. die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
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Der Beklagte beantragt,
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1. das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 27. August 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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2. die Berufung der Kläger zurückzuweisen.
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Er ist der Auffassung, dass sein auf Grundlage von Mietwerterhebungen 2011 erstelltes Konzept zur Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht.
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Zur Vorbereitung auf den Termin am 30. und 31. Januar 2017 hat der Senat dem Beklagten mit Verfügung vom 17. Januar 2017 aufgegeben, auf der Datengrundlage für die „Mietwerterhebung zur Ermittlung der KdU-Kosten im Kreis Pinneberg 2011“ zu berechnen, auf welches Perzentil der Bestandsmieten jeweils bezogen auf Wohnungsmarkttyp und Wohnungsgröße iterativ hochgegangen werden müsse, damit der Anteil der Angebotsmieten, die kleiner bzw. gleich dem sich daraus errechneten Nettoquadratmeterpreis (Bestandsmieten) liegen, mindestens 10 % und der Anteil der Neuvertragsmieten, die </= dem sich daraus errechneten Nettoquadratmeterpreis (Bestandsmieten) liegen, mindestens 20 % beträgt, zu welchen Mietrichtwerten man auf dieser Berechnungsgrundlage jeweils bezogen auf Wohnungsmarkttyp und Wohnungsgröße gelangen und welche Werte sich daraus jeweils für (fiktive) Werte bei Bruttokaltmiete für ein bis fünf Personen ergeben. Die Firma A. & K. hat mit Schreiben vom 23. Januar 2017 mitgeteilt, dass beim Wohnungstyp 1 bei 5-Personenhaushalten erst beim 50%-Perzentil, beim Wohnungsmarkttyp 3 bei 5-Personenhaushalten beim 55%-Perzentil und beim Wohnungsmarkttyp 4 bei 3-Personenhaushalten beim 45%-Perzentil, bei 4-Personenhaushalten beim 65%-Perzentil und bei 5-Personenhaushalten beim 50%-Perzentil mindestens 10 % der Angebots- und 20 % der Neuvertragsmieten angemietet werden können. In Anwendung dieser Perzentilgrenzen auf die erhobenen Bestandsmieten hat die Firma . & K. für die betroffenen Wohnungsmärkte 1, 3 und 4 die abstrakt angemessenen Nettokaltmieten je Quadratmeter neu errechnet. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 23. Januar 2017 Bezug genommen.
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Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 30. und 31. Januar 2017 Beweis erhoben durch Vernehmung des sachverständigen Zeugen M. K.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift (Bl. 126 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.
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Die die Klägern betreffenden Akten haben dem Senat vorgelegen. Auf ihren Inhalt wird wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands Bezug genommen. Außerdem haben vorgelegen
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• die Mietwerterhebung zur Ermittlung der KdU-Kosten im Kreis Pinneberg, Endbericht, Januar 2011, des Kreises Pinneberg, Fachdienst Soziales, A. & K., B.gesellschaft für W., I. und T. mbH, G. Str., H. (Anlage 1 zur Niederschrift des Senats vom 30./31. Januar 2017),
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• die Indexfortschreibung zur Mietwerterhebung der KdU-Kosten im Kreis Pinneberg (Stand 30. Oktober 2012) des Kreises Pinneberg, Der Landrat, Fachdienst Soziales – Beratungs- und Prüfteam (Anlage 2 zur Niederschrift des Senats vom 30./31. Januar 2017),
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• das Konzept zur Ermittlung der Bedarfe für Unterkunft im Kreis Pinneberg, Bericht Januar 2015, des Kreises Pinneberg, Fachdienst Soziales, A. & K., B.gesellschaft für W., I. und T. mbH, G. Str., H. (Anlage 3 zur Niederschrift des Senats vom 30./31. Januar 2017),
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