Urteil vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (7. Senat) - L 7 VE 12/15
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. Juli 2015 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
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Die im Jahr 1963 geborene Klägerin betrieb in der ehemaligen DDR im Zeitraum von September 1976 bis April 1982 beim SC ... als sog. "Riemerin" Rudern als Hochleistungssport. Bis Juli 1979 besuchte sie parallel hierzu die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) in B.
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Vom 30. Juni bis 11. Juli 1980 wurde die Klägerin wegen einer Bandscheibenvorwölbung stationär behandelt. Gemäß der Epikrise habe sich eine Steilstellung der Lendenwirbelsäule (LWS) mit einer Einschränkung der Ventralflexion ohne Sensibilitätsstörung und ohne motorische Ausfälle gezeigt. Vom 24. Juli bis 17. August 2000 erfolgte eine stationäre Behandlung der Klägerin in der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie der M.-L.-Universität (MLU) H.-W. In der Epikrise wird eine schwer degenerativ veränderte Wirbelsäule diagnostiziert. Nach dem ergänzenden Befund von Professor Dr. B., Klinik für Neurochirurgie der MLU, vom 4. August 2000 leide die Klägerin außerdem an Nackenkopfschmerzen nach einer Halswirbelsäulen (HWS)-Manualtherapie, Migräne mit typischer Aura und rezidivierenden Lumboischialgien.
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In einem für die W.-Lebensversicherung gefertigten Gutachten (zur Frage der Berufsunfähigkeit) vom 16. Januar 2002 konstatierte Professor Dr. B. starke Schmerzen im HWS-Bereich im Sinne von Nackenschmerzen, die über den Hinterkopf in Richtung des gesamten Gesichtsschädels ausstrahlten und mit Übelkeit, Brechreiz, Sehstörungen und Schwindel verbunden seien. Es handele sich um Beschwerden im Sinne eines zervikocephalen Syndroms auf der Basis degenerativer Veränderungen der HWS. Die Kopfschmerzattacken sprächen zusätzlich für eine klassische zervikale Migräne. Das Schmerzerleben werde durch eine psychogene Komponente mitgeprägt. Über längere Sicht zeige sich eine Tendenz zur Verschlechterung der Beschwerden. Die Klägerin sei als selbstständige Handelsvertreterin und als Einkäuferin und Filialleiterin im Einzelhandel mit mehr als 50 % berufsunfähig.
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Ein ärztliches Gutachten des arbeitsmedizinischen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 1. März 2002 stellt bei der Klägerin gesundheitliche Einschränkungen in physischer und psychischer Hinsicht fest. Sie klage über Migräneanfälle, die bereits bei leichten Drehbewegungen der HWS ausgelöst würden. Die Kopfschmerzattacken seien mit vegetativen Störungen verbunden. Es lägen ein allgemeiner psychovegetativer Erschöpfungszustand und ein Wirbelsäulenleiden vor. Nach Aussteuerung durch ihre Krankenkasse sei sie noch nicht wieder in der Lage, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen.
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Die Klägerin stellte im Februar 2000 einen Antrag auf Feststellung von Behinderungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Mit Bescheid vom 7. Juli 2000 wurde wegen Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit Kopfschmerzen und Krampfadern zunächst ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt. Eine auf den Widerspruch der Klägerin hin eingeholte gutachterliche Stellungnahme vom 29. September 2000 gelangte zu dem Ergebnis, dass sie an einem schwerwiegenden HWS-Syndrom und einer degenerativen LWS mit erheblich ausstrahlenden Beschwerden leide. Die Beschwerden seien mit einem GdB von 40 zu bewerten. Für ein Krampfaderleiden sei mangels weiterer Funktionsbeeinträchtigungen ein GdB von 10 anzusetzen. Der Gesamt-GdB liege bei 40. Mit dem daraufhin erlassenen Teilabhilfebescheid wurde ab dem 28. Februar 2000 ein GdB von 40 festgestellt und der Widerspruch im Übrigen zurückgewiesen. In dem vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg geführten Klageverfahren einigten sich die Beteiligten auf eine zusätzliche Berücksichtigung der Migräne. Mit Bescheid vom 20. August 2004 erfolgte die Feststellung eines GdB von 50.
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Am 15. Januar 2003 stellte die Klägerin einen Antrag auf finanzielle Hilfe nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz (DOHG). Hierzu gab sie an, ihr seien während ihrer aktiven Zeit als Ruderin beim SC Dynamo B. Anabolika als angebliche "Vitamintabletten" verabreicht worden. Weiterhin habe sie Vitamin B 17 mit Eiweißzusatzstoffen zu sich nehmen müssen. Die genaue Zusammensetzung sei ihr nicht bekannt. 1981 sei ihr eine Infusion unbekannten Inhalts verabreicht worden.
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Im Gutachten vom 25. Februar 2003 gelangte der Facharzt für Neurochirurgie PD Dr. H., MLU, zu dem Ergebnis, die ausgeprägte Degeneration der mobilen Segmente der Wirbelsäule (HWS und LWS) sei nicht altersentsprechend. Die Klägerin habe vom 13. bis 19. Lebensjahr als Ruderin Leistungssport betrieben. Damit sei die gesamte Wirbelsäule täglich mehrstündigen Extrembelastungen in Form von Scherstress der Drehbewegungen ausgesetzt gewesen. Es habe sich dabei zusätzlich negativ ausgewirkt, dass sie sich in diesem Zeitraum in ihrer Hauptwachstumsperiode befunden habe. Der Gutachter könne nicht einschätzen, ob und in welcher Form der Klägerin "unterstützende Mittel" appliziert worden seien. Jedenfalls seien die mehrjährige Extrembelastung unter absolut unphysiologischen Bedingungen und die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verabreichten Dopingpräparate ursächlich für die überdurchschnittlichen reaktiv-degenerativen Veränderungen an der gesamten Wirbelsäule. Die Klägerin sei nur noch äußerst eingeschränkt belastbar und aktuell nicht mehr in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
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In einer ärztlichen Bescheinigung vom 5. November 2004 gab die Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe Dr. H. an, bei Einsichtnahme in die gynäkologische Behandlungskarte der Klägerin für den Zeitraum von November 1976 bis November 1981 habe sie Eintragungen zu Gaben von "7 mal" bzw. "24 mal T/m" festgestellt. Nach eigener Literaturrecherche habe das "T" in DDR-Dokumentationen bei Leistungssportlern für die Gabe von Testosteron, einem Anabolikum, gestanden. Das "m" bedeute insoweit "Monat". Eine Androgenisierung bestehe bei der Klägerin fort und äußere sich in tiefer Stimme, Hirsutismus/männlichem Behaarungstyp, Oligo-menorrhoe/seltener Regelblutung und maskulinem Muskelverteilungsmuster. Dies lasse sich als irreversible Folge einer Hormonbehandlung mit Androgenen im jugendlichen Alter gut vereinbaren. Der Klägerin wurden insgesamt Leistungen nach dem DOHG in Höhe von 13.938,71 EUR bewilligt.
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Im August 2008 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag nach dem SGB IX und stützte sich u. a. auf den Entlassungsbericht der T. Fachklinik B. über eine Rehabilitationsmaßnahme vom 31. Juli bis 21. August 2008. Hiernach könne die Klägerin aus orthopädischer Sicht nur weniger als drei Stunden täglich – mit diversen Leistungseinschränkungen – leichte körperliche Tätigkeiten verrichten und sei mit diesem Leistungsbild auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr einsetzbar. Aufgrund nicht gezahlter Beiträge zur Rentenversicherung habe sie indes keinen Anspruch auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
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Mit Bescheid vom 17. April 2009 wurde eine Neufeststellung des GdB abgelehnt. In einer auf den Widerspruch der Klägerin eingeholten gutachterlichen Stellungnahme vom 3. Oktober 2009 wurden die Minderbelastung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 40, die Migräne mit einem Einzel-GdB von 30 und die Krampfadern mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet, woraus sich ein Gesamt-GdB von 50 ergebe. In Bezug auf die HWS bestünden Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Einschränkungen und hinsichtlich der LWS mit mittelgradigen Einschränkungen. Nach Zurückweisung des Widerspruchs verurteilte das SG M. (Aktenzeichen: S 2 SB 21/10) den dortigen Beklagten mit Urteil vom 16. Oktober 2013 zur Feststellung eines GdB von 70 und stützte sich dabei auf ein Gutachten von PD Dr. R. Bei der Klägerin lägen schwerste Schädigungen aller drei Wirbelsäulenabschnitte mit teils deutlichen Bewegungseinschränkungen vor, was bereits einen Einzel-GdB von 70 rechtfertige.
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Die Klägerin stellte am 26. Februar 2007 einen Antrag auf Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem OEG: Sie sei sowohl vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) als auch vom Unternehmen J. als Dopingopfer anerkannt worden und habe Entschädigungsleistungen erhalten. Als Ruderin beim SC Dynamo B. habe sie zunächst "Vitamintabletten" einnehmen müssen und außerdem kleine Tütchen mit Pulver bekommen, bei dem es sich um das Vitamin B 17 gehandelt haben solle. Nach zwei weiteren Jahren habe sie unterstützende Mittel in Form von Zusatzeiweißgetränken verabreicht bekommen und unter strenger Kontrolle zu sich nehmen müssen. Dies habe sich täglich über einige Wochen hinweg fortgesetzt. Sie habe in dieser Zeit auch die ersten Veränderungen an sich bemerkt: Sie sei muskulöser geworden und habe mit einem kleinen Bart zu kämpfen gehabt. Ab dem Alter von 15 Jahren habe sie sich die Pille verordnen lassen müssen und schon zu dieser Zeit immer häufiger unter Rücken- und Kopfschmerzen gelitten. Mit etwa 16 Jahren habe sie – insbesondere zu Wettkämpfen – immer häufiger Spritzen erhalten und weiterhin Veränderungen an ihrem Körper bemerkt. Während einer Grippewelle habe sie bei sich eine Körpertemperatur von 40 °C festgestellt, ohne jedoch das Fieber überhaupt bemerkt oder irgendwelche Krankheitssymptome festgestellt zu haben. Der ihr verabreichte Eiweißtrunk sei in der Folge durch "Schokoladenpralinen" ersetzt worden, die mit einem grau-weißen Pulver gefüllt gewesen seien. Wegen der Behandlung ihres Bandscheibenvorfalls sei ihr lediglich mitgeteilt worden, dass sie angeblich an Muskelverspannungen gelitten habe. Kurz nach ihrem 18. Geburtstag sei sie offiziell zur Einnahme von Anabolika aufgefordert worden, da sie nunmehr Olympiakader sei. Im Mai 1982 habe sie ihre Ausbildung abgeschlossen und auf die Beendigung ihrer leistungssportlichen Laufbahn gedrängt.
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Im Verwaltungsverfahren holte der Beklagte ein medizinisches Sachverständigengutachten bei Professor Dr. N., Zentrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie des Universitätsklinikums Münster, ein. Nach dem Gutachten vom 22. August 2009 sei – nach mehreren Jahrzehnten – der Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Einnahme von Dopingmitteln und den erheblichen Gesundheitsschäden sehr schwierig zu führen. Hier komme erschwerend hinzu, dass die Dosierung der anabol-androgenen Steroide (AAS) nicht bekannt sei. Im damaligen Zeitraum sei das AAS Oral-Turinabol von der Firma J. verbreitet gewesen, welches vornehmlich anabol und nur mäßig androgen gewirkt habe: Es habe zu einer ausgeprägten Zunahme der Muskelmasse während intensiven Trainings geführt. Die geringe Androgenität habe zu einem verbreiteten Einsatz bei weiblichen Athletinnen geführt. Der Wirkstoff sei im Körper schnell abgebaut und beim Dopingtest 5 bis 7 Tage später nicht mehr nachweisbar gewesen. Die AAS hätten insbesondere die Hypertrophie der Skelettmuskulatur, die durch intensives Training zu Stande gekommen sei, verstärkt, den Fettanteil am Gesamtkörpergewicht und den Eiweißabbau verringert, eine positive Stickstoffbilanz sowie eine geringe Vermehrung der Erythrozyten und der Hämoglobinkonzentration bewirkt. Bei langjähriger Anwendung habe es theoretisch zur Entwicklung einer Arteriosklerose und – als deren Folge – zu einer koronaren Herzerkrankung kommen können. AAS könnten auch eine linksventrikuläre Myokardhypertrophie verursachen. Als Nebenwirkungen seien außerdem Leberstrukturveränderungen und eine beschleunigte Skelettreifung bei Jugendlichen nachgewiesen worden, ebenso wie androgene Auswirkungen (Akne, Haarausfall, Hirsutismus). Weiterhin seien eine gestörte Glukosetoleranz und depressive Verstimmungen beobachtet worden.
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Bei der Klägerin seien Arteriosklerose, Myokardhypertrophie, Leberveränderungen und Hirsutismus nicht nachzuweisen. Außerdem sei über einen regelmäßigen Zyklus berichtet worden. 1985 habe die Klägerin einen Sohn geboren. Die diskret vermehrte Gesichtsbehaarung hätte im Übrigen nach Absetzung der Anabolika verschwinden müssen. Der Fortbestand deute darauf hin, dass – wie bei vielen Frauen, die keine Anabolika eingenommen hätten – eine andere endogene Ursache vorliege. Im Rahmen der psychologischen Diagnostik habe sich eine schwere psychophysische Erschöpfung mit depressiven Verstimmungszuständen gezeigt.
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Der Gutachter konstatierte darüber hinaus, dass er bei der Recherche der einschlägigen medizinwissenschaftlichen Literatur keine Quelle gefunden habe über einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Anabolika und einer degenerativen Erkrankung der Wirbelsäule. Im Übrigen sei es "schwer definitiv zu sagen", ob die frühe Verabreichung von Oral-Turinabol allein zur Entwicklung einer Spinalkanalstenose geführt habe. Die Erhöhung der Knochendichte im Bereich der Wirbelsäule durch die Einnahme von Anabolika sei möglich. Bei der ausgeprägten Belastung der Wirbelsäule und der Rückenmuskulatur durch den Rudersport sei das Rückenverletzungsrisiko der Klägerin deutlich erhöht gewesen, was auch durch den Bandscheibenprolaps im Alter von 17 Jahren bestätigt werde. Die Fortsetzung des die Wirbelsäule stark belastenden Rudersports müsse sich ungünstig auf die Wirbelsäule ausgewirkt haben.
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Insgesamt sei für die Klägerin, deren Skelettsystem durch den Hochleistungssport außergewöhnlichen und zu Spätfolgen prädisponierenden Belastungen ausgesetzt gewesen sei, ein kausaler Zusammenhang zwischen der Zufuhr anaboler Steroide und den heute gegebenen Gesundheitsstörungen auszuschließen.
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Der Beklagte lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 15. Oktober 2009 ab: Es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der früheren Verabreichung von Dopingsubstanzen und den vorliegenden Gesundheitsstörungen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 5. November 2009 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 2010 zurück.
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Die Klägerin hat am 2. Februar 2011 Klage vor dem SG Magdeburg erhoben. Hierbei hat sie den Beklagten als "Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin" bezeichnet. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihr seien bereits im jugendlichen Alter – ohne ihr Wissen – Dopingmittel verabreicht worden. Dies und die darauf beruhende extreme Überlastung während ihrer aktiven Zeit als Sportlerin hätten zu zahlreichen Gesundheitsstörungen geführt, weshalb ihr ein Anspruch nach dem OEG zustehe. Leistungen seien rückwirkend ab September 2003 zu gewähren, da sie bereits im August 2003 einen Antrag auf Rehabilitierung nach dem Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz – VwRehaG) gestellt habe, der mit Bescheid vom 9. August 2004 vom Beklagten abgelehnt worden sei. Sie hätte bereits zu diesem Zeitpunkt über die Möglichkeit der Gewährung von Leistungen nach dem OEG informiert werden müssen.
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Das SG hat zunächst eine ergänzende Stellungnahme von Professor Dr. N. vom 10. April 2012 eingeholt: Gynäkologische Schädigungsfolgen seien nicht nachgewiesen. Aus der gynäkologischen Behandlungskarte gehe ein regelmäßiger Zyklus mit und ohne Pille hervor. Auch im Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik B. vom August 2008 zeigten sich keine gynäkologischen Auffälligkeiten. Dort seien auch keine Zeichen einer Hyperandrogenisierung erwähnt worden. Bezüglich der Auswirkungen von AAS auf das Skelettsystem sei auch nach der aktuellen wissenschaftlichen Literatur kein Kausalzusammenhang herzustellen. Es würden sich in der Literatur vielmehr Hinweise auf eine schützende und anti-entzündliche Wirkung von Androgenen auf das Gelenkgewebe und bei rheumatischer Arthritis finden. Training und Wettkämpfe im Rudern hätten eine ungeheure Belastung für das Skelettsystem und die gesamte Wirbelsäule bedeutet. Eine aktuelle Untersuchung unter American-Football-Spielern habe häufigere Verletzungen des Muskel- und Skelettapparates bei Spielern ergeben, die regelmäßig AAS eingenommen hätten. American Football sei jedoch nicht mit dem Rudern vergleichbar. American Football habe ohnehin ein höheres Verletzungsrisiko. Außerdem seien die dort verabreichten Dosen deutlich höher gewesen. Die Erhebung sei daher insgesamt nicht aussagekräftig.
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Das SG hat ein Gutachten vom 13. Mai 2013 eingeholt bei PD Dr. R., Institut für Sportwissenschaft der Universität W. (Beweisanordnung vom 25. September 2012). Nach dessen Feststellungen hätten sich weder in der englischsprachigen Literatur bis zum Jahr 2009 noch in den darauf basierenden deutschsprachigen Doping-Fachbüchern klare Hinweise auf Korrelationen zwischen Wirbelsäulenschäden und der Einnahme von anabolen Steroiden finden lassen.
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Der Sachverständige hat auf eine Untersuchung von PD Dr. S., H.-U. B., aus den Jahren 2004 und 2007 verwiesen: Dort sei aus einer Gesamtgruppe von vermutlich 1000 schwerbeschädigten DDR-Sportlern eine Stichprobe von 52 Personen aus 24 Disziplinen gezogen worden. 92 % der Befragten hätten dabei Skeletterkrankungen angegeben. Bei einer schwedischen Untersuchung von 4000 Anabolikakonsumenten aus der Bodybuilding Szene seien hingegen Skeletterkrankungen nicht angegeben worden.
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Nach den Publikationen von PD Dr. S. gehe aus den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR hervor, dass ein beim SC Dynamo B. tätiger Mediziner 1988 angegeben habe, dort hätten gegenwärtig alle Sportlerinnen des Spitzenbereichs der Sektion Turnen erhebliche Schäden vor allem im Wirbelsäulenbereich. Eine Weiterführung in der bisherigen Form würde Dauerschäden nach sich ziehen.
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Auch bei einer umfangreichen Studie über mehr als 2500 ehemalige amerikanische Profi-Footballspieler von 2009 habe sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Bandscheibenvorfällen und der Einnahme anaboler Steroide ergeben. Im Hinblick auf den konkreten Wirkmechanismus werde vermutet, dass wegen der Muskelhypertrophie und der damit verbundenen höheren Kräfte die anderen Strukturen des Bewegungsapparates bezüglich der Belastungstoleranz nicht Schritt halten könnten und hierdurch entsprechende Sportschäden entstünden.
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Beim Rudern handele es sich grundsätzlich um eine Sportart mit geringem akutem Verletzungsrisiko. Die häufigsten Überlastungsschäden träten im Bereich der unteren Wirbelsäule auf. Bei der Klägerin ließen sich insbesondere die starken Veränderungen an der HWS nach den einschlägigen sporttraumatologischen Lehrbüchern nicht mit der speziellen Biomechanik des Ruderns erklären. Die Wirbelsäulenschädigungen der Klägerin seien in erster Linie als Folge einer unphysiologischen Überlastung durch gewaltige Trainingsvolumina und Trainingsintensitäten zu bewerten, die der noch in der Wachstumsphase befindliche jugendliche Körper der Klägerin nur durch die Gabe anaboler Steroide habe durchhalten können.
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Bei der Klägerin bestünde eine Wirbelsäulenschädigung im Sinne eines LWS-, HWS- und Brustwirbelsäulen (BWS)-Syndroms. Außerdem sei die diagnostizierte Ulkuskrankheit letztlich Folge der schmerzbedingten Einnahme nicht-steroidaler Antirheumatika. Auch der Nackenkopfschmerz mit zervikaler Migräne, der psychophysische Erschöpfungszustand mit depressiven Verstimmungszuständen bei chronischem Schmerzsyndrom, der Hirsutismus und eine septale linksventrikuläre kardiale Hypertrophie seien kausal auf die Einnahme anaboler Steroide zurückzuführen. Die Wirbelsäulenbeschädigung sei mit einem Grad der Schädigung (GdS) von 70, die Ulkuskrankheit mit einem GdS von 10, der Nackenkopfschmerz mit der zervikalen Migräne mit einem GdS von 60, der psychophysische Erschöpfungszustand mit einem GdS von 70, der Hirsutismus mit einem GdS von 10 und die septale linksventrikuläre kardiale Hypertrophie mit einem GdS von 10 zu bewerten. Hieraus folge ein Gesamt-GdS von 100. Professor Dr. N. habe bei seiner Begutachtung insbesondere die Untersuchung von PD Dr. S. nicht berücksichtigt. Außerdem sei nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass sich bei der Klägerin nicht die üblicherweise zu erwartenden Wirbelsäulenschäden im BWS- und LWS-Bereich gezeigt hätten, sondern besonders gravierend im HWS-Bereich. Weiterhin sei das Fehlen von Wirbelsäulenbeschwerden im näheren Familienkreis relevant, welches gegen eine familiäre Disposition spreche.
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Der Beklagte hat zum Gutachten von PD Dr. R. eine weitere gutachterliche Stellungnahme von Professor Dr. N. vom 19. Januar 2014 eingeholt: Der in Bezug genommenen Studie von PD Dr. S. habe keine medizinische Untersuchung zu Grunde gelegen, sondern lediglich eine einfache Befragung. Es sei völlig offen, wie viele der 52 befragten Teilnehmer weibliche Ruderinnen gewesen seien. Ebenso habe eine adäquate Kontrollgruppe gefehlt. Die Studie habe keinerlei Aussagekraft. Wegen der Studie zu American-Football-Spielern sei zu berücksichtigen, dass diese Sportart von aggressivem Körperkontakt mit hohem Verletzungsrisiko geprägt sei, was mit dem Rudersport nicht vergleichbar sei. Es habe sich um eine retrospektive Befragung gehandelt. Viele Spieler hätten erst nach einer Verletzung AAS eingenommen, um schneller fit zu werden. Zudem seien dort um ein vielfaches höhere Dosen verabreicht worden. Auch bei Ruderern sei die HWS nicht von möglichen Schäden ausgenommen. Die Diagnose des Hirsutismus durch den gerichtlich bestellten Gutachter sei zu beanstanden. Eine vermehrte Gesichtsbehaarung sei hierfür nicht ausreichend; sonstige Zeichen einer Virilisierung (Vermännlichung) seien nicht beschrieben worden. Die Diagnose einer Myokardhypertrophie könne ebenso wenig bestätigt werden. Die im Echokardiogramm beschriebene Septumdicke von 12,4-13 mm bei sonst normweiten Herzbinnendiametern und ohne diastolische Funktionseinschränkungen trage diese Diagnose nicht.
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Darüber hinaus legte der Beklagte eine fachpsychiatrische Stellungnahme des Sozialmediziners Dr. S., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 21. Februar 2014 vor. Dr. S. wandte sich gegen die Beschreibung der zervikalen Migräne bzw. des Nackenkopfschmerzes als eigenständige neurologische Erkrankungen. Diese seien vielmehr als Begleitsymptomatik des HWS-Syndroms zu bewerten. Selbst als eigenständige neurologische Erkrankung könne hieraus aber allenfalls ein GdS von 30 resultieren. Die Diagnose einer psychisch-physischen Erschöpfung sei fachfremd erfolgt. Hierfür hätte es eines psychiatrischen Kausalitätsgutachtens bedurft.
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Schließlich legte der Beklagte eine fachchirurgisch-versorgungsärztliche Stellungnahme der Sozialmedizinerin Dr. H., Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie, vom 24. September 2014 vor. Hiernach seien die schweren degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule Ausdruck von Verschleißprozessen, die den über mehrere Jahre andauernden enormen Belastungen des Stütz- und Bewegungsapparates durch den Hochleistungssport geschuldet seien. Aus den Gutachten gehe außerdem hervor, dass der klinische Befund bezüglich der Wirbelsäule äußerst kurz sei. Detaillierte Funktionsbefunde für die Wirbelsäule seien nicht dokumentiert. Die GdS-Bewertung mit 70 sei daher nicht nachvollziehbar. Hierzu bedürfe es einer fachchirurgisch-orthopädischen Begutachtung.
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Das SG hat am 25. Juli 2014 eine weitere Beweisanordnung erlassen bezüglich der Einholung eines chirurgischen Sachverständigengutachtens bei Professor Dr. M., Medizinisches Gutachteninstitut D. Nach dem Gutachten von Professor Dr. M. vom 4. Januar 2015 liege bei der Klägerin eine hochgradige Funktionseinschränkung der HWS nach Bandscheibenersatz und Fusion, eine Funktionseinschränkung der LWS, eine endgradige Funktionseinschränkung beider Kniegelenke und Übergewicht vor. Zwischen der Einnahme anaboler Steroide und den Wirbelsäulenschäden bestehe kein kausaler Zusammenhang. Vielmehr seien diese das Ergebnis des früher ausgeübten Hochleistungssports mit außergewöhnlichen und zu Spätfolgen prädisponierenden Belastungen. Es lägen mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor. Diese seien mit einem Einzel-GdS von 40 zu bewerten. Die Bewertung mit einem GdS von 70 sei nicht mit den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) zu vereinbaren. Große Teile der Wirbelsäule seien nicht versteift. Es sei auch keine anhaltende Ruhigstellung durch eine Rumpfendoprothese, die drei Wirbelsäulenabschnitte erfasse, erfolgt. Ebenso wenig liege eine Skoliose mit einem Winkel nach COBB von 70° und mehr vor: Die Befunderhebung im Gutachten von PD Dr. R. sei nicht ausreichend. Darüber hinaus ist Professor Dr. M. der Bewertung des Nackenkopfschmerzes und der zervikalen Migräne mit einem GdS von 60 entgegengetreten.
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Am 15. Januar 2015 hat das SG den Sachverständigen Professor Dr. M. auf die nicht vollständige Beantwortung der Beweisfragen hingewiesen. Es wurde um Mitteilung gebeten, ob eine Ergänzung des neurologisch-psychiatrischen Teils sowie eine Beurteilung der Ulkuskrankheit, des Hirsutismus und der linksventrikulären kardialen Hypertrophie möglich sei. Eine Beauftragung des Medizinischen Gutachteninstituts sei gerade wegen des Angebots einer fachübergreifenden Begutachtung erfolgt.
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Hierauf hat Professor Dr. M. mitgeteilt, die am Gutachteninstitut tätige Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie erstatte keine Gutachten mehr für Sozialgerichte in Sachsen-Anhalt. Er hat für den neurologisch-psychiatrischen Teil des Gutachtens die Beauftragung eines mit dem Gutachteninstitut kooperierenden Mediziners in D. (Dr. P.) empfohlen. Daraufhin hat das SG eine weitere Beweisanordnung vom 6. Februar 2015 bezüglich Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens bei Dr. P. erlassen. In der Folge hat der Sachverständige darüber informiert, dass die Klägerin nicht bereit sei, sich begutachten zu lassen. Auf ein diesbezügliches Hinweisschreiben des SG vom 10. April 2015 hat die Klägerin mitgeteilt, da (weitere) Behandlungen und Untersuchungen mit erheblichen Schmerzen verbunden seien, lehne sie diese ab. Im Übrigen seien die vorliegenden "prozessrelevanten Unterlagen" (einschließlich der bereits eingeholten Gutachten) ausreichend. Darüber hinaus hat sie ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Fachgutachten/Therapiebericht von Dr. L., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, L., vom 19. Februar 2015 übersandt, nach welchem bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung gegeben sei. Aktueller Auslöser für die jetzige Therapie sei das zunehmende Empfinden, einen regelrechten Missbrauch am eigenen Körper erlebt zu haben im Sinne der Ausnutzung von Fremdbestimmung und Schutzlosigkeit. Diese Art von Ohnmacht gegenüber einem System, das der Klägerin als Schwerbeschädigter die ihr zustehende Opferrente bis heute verweigere, verunmögliche ihr die eigenständige Nachreifung einer gesunden Autonomie. Sie definiere sich in den letzten Jahren überwiegend über den juristischen Kampf um Anerkennung und Rehabilitation.
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Mit Urteil vom 10. Juli 2015 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 15. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2010 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin unter Anerkennung einer hochgradigen Funktionseinschränkung der HWS nach Bandscheibenersatz und Fusion mit Nackenkopfschmerz und zervikaler Migräne mit typischer Aura und einer Funktionseinschränkung der LWS mit einem Einzel-GdS von 50 sowie einer Ulkuskrankheit mit einem Einzel-GdS von 10 als Schädigungsfolgen ab dem 1. Februar 2007 eine Beschädigtenversorgung nach einem Gesamt-GdS von 60 zu gewähren, wobei der Anspruch ab dem 1. Oktober 2007 mit 4 v. H. zu verzinsen sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach § 10a Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Sie sei in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis ... 1990 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG geworden. Die vorsätzliche Verabreichung von Dopingsubstanzen an Sportler könne eine vorsätzliche Beibringung von Gift darstellen. Allein die Gabe des Präparates Oral-Turinabol sei ausreichend für das Vorliegen eines tätlichen Angriffs. Die Verabreichung dieser Substanz während der aktiven Zeit der Klägerin als Hochleistungssportlerin von September 1976 bis April 1982 sei jedenfalls im Sinne von § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) glaubhaft gemacht. Insoweit sei auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin Leistungen nach dem DOHG und eine Entschädigung vom Unternehmen J. pharm erhalten habe. Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 OEG seien nicht gegeben. Es seien keine Anhaltspunkte erkennbar für eine Einwilligung der Klägerin in die Einnahme der Dopingsubstanzen. Im Übrigen wäre eine solche Einwilligung angesichts des damals jugendlichen Alters der Klägerin unbeachtlich.
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Als Schädigungsfolgen seien eine hochgradige Funktionseinschränkung der HWS nach Bandscheibenersatz und Fusion mit Nackenkopfschmerz und zervikaler Migräne bei typischer Aura und eine Funktionseinschränkung der LWS sowie eine Ulkuskrankheit anzuerkennen, die jeweils auf die Gabe anaboler Steroide in der Zeit von September 1976 bis April 1982 zurückzuführen seien. Hinsichtlich des Kausalzusammenhangs zwischen den Wirbelsäulenschäden und der Einnahme anaboler Steroide folge das SG den Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. R. im Gutachten vom 13. Mai 2013 und den Ausführungen von PD Dr. H. im Gutachten vom 25. Februar 2003. PD Dr. R. habe überzeugend dargelegt, dass die Wirbelsäulenschädigung primär als Folge einer unphysiologischen Überlastung durch gewaltige Trainingsvolumina und -intensitäten anzusehen sei, die der – noch in der Wachstumsphase befindliche – jugendliche weibliche Körper nur durch die Gabe anaboler Steroide habe durchhalten können. Auch PD Dr. H. habe ausgeführt, dass die mehrjährige Extrembelastung unter absolut unphysiologischen Bedingungen und bei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verabreichten Dopingpräparaten zur Leistungssteigerung ursächlich für die überdurchschnittlichen reaktiv-degenerativen Veränderungen an der gesamten Wirbelsäule seien. Die medizinischen Sachverständigen (einschließlich der Gutachter Professor Dr. M. und Professor Dr. N., die im Ergebnis eine Ursächlichkeit der Dopinggabe verneint haben) seien sich weitgehend einig, dass die Extrembelastung durch den Rudersport für die Schäden an der Wirbelsäule verantwortlich sei. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese Schäden ohne die Einnahme von Oral-Turinabol nicht oder nicht in dieser Schwere aufgetreten wären. Professor Dr. N. habe zu den allgemeinen Wirkungen von Oral-Turinabol ausgeführt, dass hierdurch vor allem die durch intensives Training zu Stande kommende Hypertrophie der Skelettmuskulatur verstärkt werde. Es komme zu einem Muskelmassezuwachs, der ohne die Einnahme von Oral-Turinabol nicht zu verzeichnen wäre. Jedenfalls könnten sich Sportler durch die Anwendung von Oral-Turinabol stärker belasten und fühlten sich nach hohen Belastungen schneller wiederhergestellt. PD Dr. R. habe hierzu angemerkt, hinsichtlich der Schäden am Bewegungsapparat werde ein Wirkmechanismus dahingehend vermutet, dass wegen der Muskelhypertrophie und der damit verbundenen höheren Kräfte die anderen Strukturen des Bewegungsapparates bezüglich der Belastungstoleranz nicht Schritt halten könnten und so entsprechende Wirbelsäulen-Sportschäden entstünden. Insoweit könne die Extrembelastung während der Zeit als Hochleistungssportlerin nicht von der Einnahme des Oral-Turinabol getrennt werden. Die Klägerin habe auch anschaulich das deutlich herabgesetzte Schmerzempfinden geschildert. Die von PD Dr. R. in Bezug genommene Untersuchungen wiesen auf einen direkten Zusammenhang zwischen der Gabe von anabolen Steroiden und Wirbelsäulenschädigungen hin. Auch wenn es sich bei den Erhebungen von PD Dr. S. nicht um eine verwertbare Studie handele, so beinhalte diese zumindest ein Indiz für einen Kausalzusammenhang. Entsprechendes gelte auch für die zitierte Studie aus dem Jahr 2009 zur Untersuchung von mehr als 2500 ehemaligen American-Football-Spielern, die einen signifikanten Zusammenhang von Rückenschmerzen und der Einnahme von Anabolika zeigten. Nach den Ausführungen von PD Dr. R. träten beim Rudern Überlastungsschäden im Bereich der unteren Wirbelsäule auf, während bei der Klägerin die HWS am stärksten betroffen sei. Die Migräne mit typischer Aura und Nackenkopfschmerz sei keine eigenständige Schädigungsfolge, sondern der Schädigung im HWS-Bereich zuzuordnen.
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Als weitere Schädigungsfolge sei die Ulkuskrankheit anzuerkennen. PD Dr. R. habe hierzu nachvollziehbar dargelegt, dass dies letztlich Folge der Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika sei, die die Klägerin wegen der massiven Schmerzen habe einnehmen müssen. Insoweit sei die Erkrankung Folge der Schmerzmitteleinnahme, die wiederum durch die dopingverursachten Wirbelsäulenschäden notwendig geworden sei.
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Ein Hirsutismus sei demgegenüber bei der Klägerin nicht als Schädigungsfolge anzuerkennen, da erhebliche Zweifel an der entsprechenden Diagnose bestünden. Professor Dr. N. habe hierzu in seiner Stellungnahme vom 19. Januar 2014 angegeben, es handele sich um ein definiertes Krankheitsbild mit vermehrter Haaransammlung im Bereich der Oberlippe, der Wangen, des Kinns, der Brust sowie der Linea albea. Entsprechendes sei in den bis dahin vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht dokumentiert. Diese Einschätzung habe sich auch durch den persönlichen Eindruck des SG in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Soweit heute noch eine leicht vermehrte Gesichtsbehaarung bestehen sollte, könne diese nicht mehr im Zusammenhang mit einer Einnahme von anabolen Steroiden vor 30 Jahren stehen.
- 36
Auch die Diagnose einer Myokardhypertrophie sei zu beanstanden. Wenn im Echokardiogramm eine Septumdicke von 12,4-13 mm bei sonst normweiten Herzbinnendiametern und ohne diastolische Funktionseinschränkung beschrieben werde, seien diese Befunde mit der Diagnose nicht vereinbar. Von pathologischer Myokardhypertrophie könne erst bei einer Dicke des Septums von mehr als 13 mm mit erweitertem Herzbinnendiametern und einer diastolischen Funktionseinschränkung ausgegangen werden.
- 37
Hinsichtlich einer chronischen Varikosis (beidseits nach mehreren Operationen) sei ein Kausalzusammenhang nicht belegt.
- 38
Die Diagnose einer psychophysischen Erschöpfung mit depressiven Verstimmungszuständen bei chronischem Schmerzsyndrom sei von PD Dr. R. fachgebietsfremd gestellt worden; Entsprechendes gelte für die Annahme eines Kausalzusammenhangs mit der Verabreichung anaboler Steroide. Die für den Nachweis von Schädigungsfolgen beweisbelastete Klägerin habe sich indes geweigert, einen Termin zwecks Anfertigung eines psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgutachtens beim hierzu bestellten gerichtlichen Gutachter wahrzunehmen, was zu ihren Lasten gehe. Soweit die Klägerin auf das von ihr übersandte psychiatrisch-psychotherapeutische Fachgutachten von Dr. L. vom 19. Februar 2015 Bezug nehme, enthalte dieses keine Ausführungen zu einem möglichen Kausalzusammenhang zwischen einer psychiatrischen Erkrankung und der Verabreichung von Dopingsubstanzen.
- 39
Die hochgradige Funktionseinschränkung der HWS nach Bandscheibenersatz und Fusion mit Nackenkopfschmerz und zervikaler Migräne mit typischer Aura und einer Funktionseinschränkung der LWS sei mit einem Einzel-GdS von 50 zu bewerten (vgl. Nr. 18.9 VMG). Professor Dr. M. habe im Gutachten vom 4. Januar 2015 überzeugend dargelegt, dass eine hochgradige Funktionseinschränkung an der HWS bestehe, die einer funktionellen Versteifung gleichkomme. Die komplexen Bewegungen von BWS und HWS seien überhälftig reduziert. Es lägen mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor. Ein GdS von 70 komme indes nicht in Betracht: Große Teile der Wirbelsäule seien nicht versteift; es erfolge keine Ruhigstellung durch eine Rumpfendoprothese, die drei Wirbelsäulenabschnitte erfassen würde; auch eine schwere Skoliose liege nicht vor. Die Wirbelsäulenschäden seien für sich mit einem Einzel-GdS von 40 zu bewerten. Da der Nackenkopfschmerz und die zervikale Migräne mit typischer Aura dieser Funktionseinschränkung zuzuordnen seien, ergebe sich insgesamt ein GdS von 50. Für die Ulkuskrankheit sei auf der Grundlage der Ausführungen von Dr. R. ein Einzel-GdS von 10 anzusetzen, was indes nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdS führe. Dennoch sei der Gesamt-GdS gemäß § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit auf 60 zu erhöhen. Nach dem Gutachten von Dr. B. vom 16. Januar 2002 (für eine private Berufsunfähigkeitsversicherung) sei die Klägerin wegen der Beschwerden im Sinne eines zervikocephalen Syndroms auf Basis degenerativer Veränderungen der HWS nicht mehr in der Lage, ihren Beruf als Handelsvertreterin bzw. Einkäuferin und Filialleiterin im Einzelhandel auszuüben. Aufgrund der HWS-Erkrankung sei sie seit dem 11. April 2000 arbeitsunfähig. Mit dem sich aus dem Entlassungsbericht zur Rehabilitationsmaßnahme von Juli/August 2008 ergebenden Leistungsbild sei sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsetzbar. Sie erhalte lediglich eine private Berufsunfähigkeitsrente von ca. 780,00 EUR. Nach alldem sei die Klägerin im Sinne von § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG in Verbindung mit § 31 Abs. 2 BVG schwer beschädigt und auch bedürftig im Sinne von § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 10a Abs. 2 OEG. Der Leistungsbeginn sei im Hinblick auf die Antragstellung am 26. Februar 2007 nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG auf den 1. Februar 2007 festzulegen. Die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, aus dem sich ggf. ein früherer Leistungsbeginn ableiten ließe, seien nicht nachgewiesen worden.
- 40
In dem Urteil ist der Beklagte bezeichnet worden als "Land Brandenburg, vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin". Die Zustellung des Urteils erfolgte an das "Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin". Ein unterzeichnetes Empfangsbekenntnis hierzu findet sich nicht in der Akte.
- 41
Der Beklagte hat am 3. September 2015 (mit handschriftlich unterzeichnetem Schriftsatz vom 27. August 2015) "gegen das am 10.07.2015 verkündete und am 03.08.2015 zugestellte Urteil" Berufung eingelegt: Gemäß der fachchirurgischen versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 24. August 2015 sei ein Kausalzusammenhang zwischen den geltend gemachten Schädigungsfolgen und der Verabreichung von Dopingsubstanzen zu verneinen. Das SG habe sich hinsichtlich der Kausalität auf ein fachfremdes Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin und für Innere Medizin PD Dr. R. gestützt. Demgegenüber habe der orthopädische und vom Gericht bestellte Gutachter Professor Dr. M. in seinem Gutachten vom 4. Januar 2015 chirurgisch-orthopädische Schädigungsfolgen verneint. Im Übrigen sei auch die Bildung des GdS nicht korrekt. Eine Begründung der Ursächlichkeit für das Migräneleiden sei dem Gutachten von PD Dr. R. nicht zu entnehmen. Demgemäß könne die Migräne mangels Kausalität den GdS für das Wirbelsäulenleiden nicht erhöhen. Darüber hinaus habe sich bislang noch keine der an Spitzensportlern durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen mit der Frage beschäftigt, welche Folgewirkungen durch übermäßiges Training im Hochleistungssport (hier: Rudersport von Frauen) entstünden und inwieweit zusätzliche bzw. weitergehende Schäden (welche hier allein maßgeblich sein könnten) bei Hochleistungssportlern entstünden, die Dopingmittel erhielten.
- 42
Der Beklagte beantragt,
- 43
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. Juli 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
- 44
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- 45
die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Berufung zurückzuweisen.
- 46
Sie ist der Auffassung, die Berufung sei "nicht rechtskräftig, wegen fehlender Unterschrift". Im Übrigen sei "Beklagter im Urteil" des SG das Land Brandenburg. Dieses habe aber keine Berufung eingelegt. In der Sache sei durch zahlreiche Gutachten nachgewiesen worden, dass die seit 2000 bestehende volle Erwerbsunfähigkeit ihre Ursache allein im "Doping-Schaden an der Wirbelsäule" habe. Es bestünden außerdem ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch und eine "rückwirkende Schadensersatzpflicht" wegen "Nichtbeachtung durch die zuständigen BRD-Behörden ab August 2003" auf Grundlage des Antrages auf Versorgung nach dem VwRehaG.
- 47
Mit Schreiben vom 2. November 2015 hat das Land Brandenburg – Landesamt für Soziales und Versorgung – beim SG beantragt, "das Rubrum in dem Urteil vom 10.07.2015 ( ) zu ändern". Am 9. Februar 2016 hat das SG das Passivrubrum des Urteils vom 10. Juli 2015 gemäß § 138 Sozialgesetz (SGG) dahingehend geändert, dass es "Land Berlin" heiße. Die hiergegen von der Klägerin eingelegte Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 12. Juli 2016 als unbegründet zurückgewiesen (Aktenzeichen: L 7 VE 2/16 B).
- 48
Der Senat hat der Klägerin mit Schreiben vom 28. Januar 2016 mitgeteilt, dass zur Aufklärung des Sachverhaltes Ermittlungen hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens, der Migräne und der Ulkuskrankheit über den Zeitraum von 2014 bis heute angezeigt seien. Sie ist deshalb gebeten worden, eine Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sowie einen Fragebogen zu den durchgeführten medizinischen Behandlungen auszufüllen und unterschrieben zurückzusenden. Hierauf hat die Klägerin, die sich nunmehr als Bürgerin des "Freistaates Preußen" bezeichnet, mit Schreiben vom 2. Februar 2016 reagiert. Hierin hat sie ausgeführt, dass es sich beim LSG "um kein staatliches Gericht" handele und es daher auch "keine richterlichen staatlichen Hoheitsbefugnisse Preußens" habe, sondern "nur für juristische Personen der BRD zuständig" sei. Darüber hat sie erneut geltend gemacht, das "Landesamt für Soziales und Versorgung Cottbus" (also das Land Brandenburg) habe "bis heute keine Berufung eingelegt".
- 49
Mit Schreiben vom 14. November 2016 hat der Senat die Klägerin gemäß § 106a SGG aufgefordert, binnen einer Frist von sechs Wochen mitzuteilen, ob sie im vorliegenden Verfahren Auskunft über die sie behandelnden und untersuchenden Mediziner erteile und diese von ihrer ärztlichen Schweigepflicht entbinde und hierzu ggf. um Rücksendung der mit gerichtlichem Schreiben vom 28. Januar 2016 übermittelten – unterschriebenen – Unterlagen gebeten. Die Klägerin wurde über die sich aus dem fruchtlosen Ablauf der Frist gemäß § 106a Abs. 3 SGG ergebenden rechtlichen Folgen belehrt. Auch hierauf hat die Klägerin am 24. Dezember 2016 wiederum mit Verweis auf die nach ihrer Auffassung fehlende Zuständigkeit des Senats für "Staatsangehörige des Freistaates Preußen" reagiert. Das vom Senat "rechtswidrig geführte Verwaltungsverfahren" sei unverzüglich einzustellen.
- 50
Mit gerichtlichem Schreiben vom 28. Dezember 2016 hat der Senat der Klägerin mitgeteilt, ihr Begehren auf "Einstellung des Verfahrens" könnte ggf. dahin verstanden werden, dass sie die Klage zurücknehmen wolle, da nur auf diese Weise eine von ihr herbeigeführte Verfahrensbeendigung erfolgen könnte. Sie möge dabei berücksichtigen, dass (vorläufige) Grundlage der derzeit an sie gezahlten monatlichen Leistungen der Beschädigtenversorgung das (noch nicht rechtskräftige) erstinstanzliche Urteil des SG vom 10. Juli 2015 sei, welches indes bei Klagerücknahme wirkungslos würde. Die Klägerin ist in diesem Zusammenhang um Klarstellung ihres prozessualen Begehrens gebeten worden. Auch hierauf hat sie im Wesentlichen auf das nach ihrer Auffassung fehlende Vorliegen einer Berufung und eine vermeintliche Unzuständigkeit des Senats für eine Entscheidung verwiesen.
- 51
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe
- 52
Der Senat konnte den Rechtsstreit in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, weil diese ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG.
- 53
Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß § 143 SGG auch statthafte Berufung des Beklagten ist begründet.
- 54
1. Insbesondere ist die Berufung durch den richtigen Beklagten (und Berufungskläger) eingelegt worden, das Land Berlin (vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales). Die Klägerin hat ihren Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG beim zuständigen Berliner Landesamt gestellt, bei dem sodann das gesamte Verwaltungsverfahren geführt worden ist. Sie hat – entgegen dem hier maßgeblichen Rechtsträgerprinzip – die Klage nicht ausdrücklich gegen das Land Berlin gerichtet, dessen Behörde (Landesamt für Gesundheit und Soziales) den angegriffenen Verwaltungsakt erlassen hat, sondern gegen die Behörde als rechtlich unselbstständiger Verwaltungseinheit. Das SG hat gleichwohl – zu Recht – unter entsprechender Anwendung der Prinzipien des § 123 SGG (bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes) die Klage zu Gunsten der Klägerin dahin ausgelegt, dass sie sich gegen den "richtigen Beklagten" wendet, also das Land Berlin als dem Rechtsträger des Landesamtes für Gesundheit und Soziales, wobei das Landesamt das beklagte Land lediglich vertritt.
- 55
Da sich die Erfassung des Beklagten beim SG zunächst offenbar an der Bezeichnung der Beteiligten im Klageschriftsatz orientiert hatte, hat das SG sämtliche Schreiben im erstinstanzlichen Verfahren an den Beklagten lediglich unter der Bezeichnung als (Berliner) "Landesamt" gerichtet. Es sind indes keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Gericht oder die Beteiligten davon ausgegangen wären, dass das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin – entgegen der föderalstaatlichen Verwaltungsorganisation der Bundesrepublik Deutschland – etwa ein anderes Bundesland vertreten würde als seinen eigenen Rechtsträger. Wenn sodann in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2015 und in dem in dieser Verhandlung ergangenen Urteil der Beklagte (erstmals) bezeichnet wird als "Land Brandenburg, vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin", handelt es sich um eine ohne Weiteres erkennbare offenbare Unrichtigkeit. Bei dem – von der Klägerin selbst während des gesamten Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahrens in Anspruch genommenen – Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin kann es sich (wie bereits aus der Behördenbezeichnung unzweifelhaft zu entnehmen ist) nur um eine Behörde des Landes Berlin handeln, nicht um eine solche des Landes Brandenburg. Demgemäß war auch für die Klägerin evident erkennbar, dass ihre Klage gegen das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin gegen einen Bescheid eben dieses Berliner Landesamtes ausschließlich zu einer Verurteilung des Landes Berlin führen konnte, die Benennung eines anderen Bundeslandes im Rubrum des Urteils also einen offenkundigen Fehler im Ausdruck des Willens des Gerichts beinhalten musste, zumal sich in den Entscheidungsgründen auch keine Ausführungen dazu finden, dass und weshalb eine Berliner Behörde hier ggf. ein anderes Land hätte vertreten sollen. Aus diesen Gründen hat das SG auch eine entsprechende Rubrumsberichtigung gemäß § 138 Satz 1 SGG mit Beschluss vom 9. Februar 2016 vorgenommen und das LSG die hiergegen gerichtete Beschwerde der Klägerin mit Beschluss vom 12. Juli 2016 zurückgewiesen. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es mithin für die Zulässigkeit der Berufung unerheblich, dass das Land Brandenburg keine Berufung eingelegt hat. Denn das Land Brandenburg war offensichtlich zu keiner Zeit Beteiligter des Verfahrens.
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2. Das SG hat den Bescheid des Beklagten vom 15. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2010 zu Unrecht aufgehoben und den Beklagten verurteilt, unter Anerkennung der im Urteil näher bezeichneten Schädigungsfolgen ab dem 1. Februar 2007 eine Beschädigtenversorgung nach einem Gesamt-GdS von 60 zu gewähren und diesen Anspruch ab dem 1. Oktober 2007 zu verzinsen. Demgegenüber hatte der Beklagte mit den angegriffenen Bescheiden zu Recht die Anerkennung von Schädigungsfolgen und eine hierauf beruhende Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt.
- 57
a) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 58
aa) Als tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt. Der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zeichnet sich durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein.
- 59
bb) Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zu Grunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Für den Beweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Ergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG bzw. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände viel für diese Möglichkeit spricht.
- 60
Von den in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R, juris; Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R, juris; Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B, juris).
- 61
b) Zwar hat die Klägerin den geltend gemachten Angriff (Verabreichung von Dopingsubstanzen) nicht im Geltungsbereich des OEG (Bundesrepublik Deutschland) erlitten, sondern in einem Zeitraum von September 1976 bis April 1982 auf dem Gebiet der damaligen DDR. Gemäß § 10a Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 OEG erhalten jedoch auch Personen eine Versorgung, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (ehemalige DDR) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum ... 1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie (nunmehr) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Demgemäß steht der räumliche Geltungsbereich des Gesetzes wegen der Regelungen des § 10a Abs. 1 OEG einem möglichen Anspruch der Klägerin nicht entgegen.
- 62
c) Das allgemeine Tatbestandsmerkmal des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, wonach ein Entschädigungsanspruch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff voraussetzt, ist vorliegend gegeben. Dabei ist die Gabe von Dopingmitteln wegen der die Gesundheit zerstörenden Wirkung der verabreichten Dopingsubstanz unter den Tatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG zu subsumieren. § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG steht das vorsätzliche Beibringen von Gift einem tätlichem Angriff gleich. Deshalb kann die Frage, ob bei der Gabe von Dopingmitteln die für den tätlichen Angriff nach § 1 Abs. 1 OEG vorausgesetzte "feindliche Willensrichtung" des Täters (hier: in der Regel des Trainers) vorliegt oder nachzuweisen ist, dahinstehen (so auch SG B., Urteil vom 27. September 2013 – S 181 VG 167/07, juris).
- 63
Davon, dass der Klägerin tatsächlich Dopingsubstanzen (hier: Oral-Turinabol) verabreicht worden sind, ist zur Überzeugung des Senats jedenfalls auf der Grundlage einer hinreichenden Glaubhaftmachung im Sinne von § 15 KOVVfG in Verbindung mit § 6 Abs. 3 OEG auszugehen. Denn die Angaben der Klägerin zur Verabreichung von entsprechenden Substanzen sind glaubhaft.
- 64
Sie hat die Zeitpunkte und die Umstände der Verabreichung von entsprechenden Substanzen in Form angeblicher "Vitamintabletten", "Schokoladenpralinen" oder "Eiweißgetränke" nachvollziehbar und detailliert geschildert. Dass sie dabei keine spezifizierten Angaben machen konnte zu den im Einzelnen konkret verabreichten Mitteln und Dosierungen steht dem nicht entgegen. Vielmehr lag es gerade "in der Natur der Sache", dass unter den Verhältnissen einer – sich (nach der offiziellen DDR-Staatspropaganda) vorgeblich als dem "Wohl des Volkes" verpflichtet gerierenden – totalitären Diktatur die Verabreichung von erheblich gesundheitsschädigenden Substanzen an Kinder und Jugendliche systematisch "im Geheimen" ablief. Es entsprach der sportpolitischen Ideologie der verantwortlichen SED-Partei- und Sportfunktionäre, das internationale Ansehen der DDR u. a. durch Erfolge im Weltsport (insbesondere bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften) positiv zu beeinflussen. Dem aus ideologischen Gründen angestrebten – und auch tatsächlich erzielten – Erfolg bei den großen internationalen Sportereignissen (z. B. Platz 2 in der Medaillenwertung der letzten Olympischen Sommerspiele mit DDR-Beteiligung im Jahr 1988 mit 102 Medaillen, davon 37 Goldmedaillen) waren die Rechte und Belange des einzelnen Menschen (einschließlich der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen) vollständig untergeordnet. Dies galt auch und gerade mit Blick auf die Zuführung von leistungssteigernden, aber die Gesundheit gefährdenden Mitteln. Diese Linie wurde schwerpunktmäßig in besonders "medaillenträchtigen" Sportarten verfolgt, in der aufgrund der Vielzahl von Disziplinen und Wettbewerben eine große "Medaillenausbeute" zu erzielen war. Hierzu zählte neben dem Schwimmen, der Leichtathletik oder dem Kanurennsport nicht zuletzt das Rudern. Insofern korrespondieren die Angaben der Klägerin ohne Weiteres mit den zur "Dopingpraxis" in der ehemaligen DDR gerichtsbekannten Umständen.
- 65
Die Überzeugung des Senats wird im Übrigen auch gestützt durch eine Anleitung der "Forschungsgruppe Zusätzliche Leistungsreserven" des "Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport" zur "Anwendung von unterstützenden Mitteln im Trainingsprozess sowie bei der Vorbereitung von Wettkämpfen (Materialien für die Weiterbildung von Ärzten und Trainern)" vom Mai 1982 über den Einsatz von "unterstützenden Mitteln", insbesondere "in dem Vorbereitungsprozess auf sportpolitische Höhepunkte". Zu den aufgezählten "Pharmaka", die zum Einsatz kommen sollten, zählte beispielsweise neben Testosteron oder Oxytozin (B 17) auch Oral-Turinabol. Die Anleitung spricht insoweit ausdrücklich von anabolen Steroiden und Androgenen. Als dabei besonders relevante Sportarten werden u. a. der Kanurennsport und das Rudern benannt. Die Materialien setzen sich darüber hinaus damit auseinander, dass sich innerhalb des DDR-Sports "eine fast fetischistische Auffassung zu den unterstützenden Mitteln entwickelt" habe: Ihnen werde eine universelle Wirkung nachgesagt und in einigen Fällen würden sie als letzte Rettung gesehen, um unbefriedigende Leistungen spontan beeinflussen zu können. Dies äußere sich darin, dass unterstützende Maßnahmen, die (an sich) für sportliche Höhepunkte vorgesehen seien, zur alltäglichen Norm würden, indem etwa die Dosierung der Mittel "unbegründet erhöht und hektisch nach neuen unterstützenden Mitteln gefahndet" würde. Auf der Ebene der DDR-Sportpolitik wurde also zumindest intern eingeräumt, dass anabole Steroide nicht nur unmittelbar vor größeren Wettkämpfen zum Einsatz kamen, sondern vor allem in den Sportarten, in denen "bestimmte Komponenten des zellulären Energiestoffwechsels (Kanurennsport, Rudern) von Bedeutung sind", geradezu selbstverständlich und alltäglich zum Einsatz gekommen sind.
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Dass dies im konkreten Einzelfall der Klägerin anders gewesen sein sollte, kann somit praktisch ausgeschlossen werden, zumal sie ihren Hochleistungssport als Ruderin beim SC Dynamo B. betrieben hat: Der SC Dynamo B. war das Zentrum leistungssportlicher Förderung der Sportvereinigung Dynamo, deren Träger das Ministerium des Innern bzw. die "Deutsche Volkspolizei" sowie das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR waren. Er war daher durch eine besonders intensive "Verflechtung" mit dem politischen System der DDR geprägt. Dass gerade dort die gesundheitlichen Belange des einzelnen Menschen den politisch-ideologischen Zielsetzungen des Staates untergeordnet waren, liegt auf der Hand.
- 67
Darüber hinaus hat die Klägerin auch typische Folgen der Einnahme von Anabolika (z. B. die subjektive "Unempfindlichkeit" gegenüber Erkrankungen und Schmerzen) nachvollziehbar beschrieben, beispielsweise eine mit Fieber von 40 °C verbundene Grippeerkrankung 1978, die bei ihr jedoch kein adäquates Krankheitsempfinden ausgelöst habe.
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Weiterhin enthält die gynäkologische Behandlungskarte der Klägerin wegen der dort befindlichen "doping-typischen" Anmerkungen für die Jahre 1976 und 1977 ganz erhebliche Hinweise zumindest auf die Verabreichung von Testosteron.
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Die Überzeugung des Senats von der Verabreichung gesundheitsschädlicher Dopingsubstanzen an die Klägerin korrespondiert im Übrigen auch mit der Gewährung von Entschädigungsleistungen zu Gunsten der Klägerin nach dem DOHG sowie durch das Unternehmen J.pharm, welches das Anabolikum Oral-Turinabol entwickelt und vertrieben hatte.
- 70
d) Hingegen steht es nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass die vom SG angenommenen Schädigungsfolgen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit kausal auf der Verabreichung von anabolen Steroiden (insbesondere Oral-Turinabol) beruhen.
- 71
aa) Dies gilt zunächst für die zentrale – vom SG mit einem Einzel-GdS von 50 bewertete – hochgradige Funktionseinschränkung der HWS nach Bandscheibenersatz und Fusion mit Nackenkopfschmerz und zervikaler Migräne mit typischer Aura und einer Funktionseinschränkung der LWS.
- 72
Das SG hat sich insoweit im Wesentlichen auf die Feststellungen der Sachverständigen PD Dr. R. und PD Dr. H. gestützt. Danach seien die Wirbelsäulenschädigungen der Klägerin primär Folge einer unphysiologischen Überlastung durch enorme Trainingsvolumina und -intensitäten, die der (noch in der Wachstumsphase befindliche) jugendliche Körper der Klägerin nur durch die Gabe anaboler Steroide durchgehalten habe. PD Dr. H. bezeichnet ebenfalls sowohl den Hochleistungssport als auch das Doping (offenbar gerade in dieser Kombination) als ursächlich.
- 73
Der Senat schließt sich insoweit der Auffassung des SG und der Sachverständigen an, dass von einer Schädigungsfolge im Sinne des Opferentschädigungsrechts nicht etwa nur dann ausgegangen werden kann, wenn die der Klägerin verabreichten Substanzen durch ihre unmittelbaren (biochemischen) Wirkmechanismen bestimmte gesundheitliche Schäden verursacht haben. Vielmehr muss es gemäß dem Schutzzweck des OEG im Grundsatz ausreichen, dass die Klägerin nur durch die Gabe anaboler Steroide eine körperliche Leistungsfähigkeit erreicht hätte, die es ihr überhaupt ermöglicht hat, die letztlich zu den Wirbelsäulenschädigungen führenden immensen Trainingsintensitäten zu absolvieren. Auch eine solche mittelbare Folge wäre jedenfalls in einer ununterbrochenen Kausalkette auf die Verabreichung der Substanzen zurückzuführen. Entsprechendes gilt im Hinblick auf den nach den Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. R. vermuteten generellen Wirkmechanismus. Dieser geht davon aus, dass wegen der durch die anabolen Steroide hervorgerufenen Muskelhypertrophie und der damit verbundenen höheren Kräfte die anderen Strukturen des Bewegungsapparates hinsichtlich der Belastungstoleranz nicht Schritt halten könnten. Damit würden faktisch auch aufgrund der besonderen Leistungsfähigkeit, die sich jedoch schwerpunktmäßig nur an bestimmten "Stellen" des Körpers auswirkt, Schäden hervorgerufen in Bezug auf andere Teile des Körpers, auf die sich die leistungssteigernde Wirkung der Dopingsubstanzen nicht in vergleichbarer Weise bezieht.
- 74
Der Senat ist allerdings nicht davon überzeugt, dass hier tatsächlich von solchen mittelbaren Schädigungsfolgen ausgegangen werden kann. Denn sowohl der bereits im Verwaltungsverfahren von der Beklagten beauftragte Sachverständige Professor Dr. N. als auch der gerichtlich bestellte Gutachter Professor Dr. M. haben einen Kausalzusammenhang verneint. Auch Dr. H. hat die Verschleißprozesse durch den Hochleistungssport als solchen als kausal angesehen.
- 75
Professor Dr. N. hat ausgeführt, nach Auswertung der wissenschaftlichen Medizinliteratur seien keine Quellen ersichtlich über einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Anabolika und degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule. Bereits dies deute darauf hin, dass kein gehäuftes Auftreten der Symptomatik und damit der Erkrankung wegen der Einnahme anaboler Steroide festzustellen seien. Es sei schwer feststellbar, ob die frühe Verabreichung von Oral-Turinabol allein zur Entwicklung einer Spinalkanalstenose geführt habe. Professor Dr. N. hält es für möglich, dass durch die Anabolikaeinnahme eine Erhöhung der Knochendichte im Bereich der Wirbelsäule entstanden sei. Auch verstärkten anabole Steroide die Hypertrophie der Skelettmuskulatur, die auf intensivem Training beruhe. Dies führe indes zu einer Stabilisierung der Wirbelsäule und unterstütze insgesamt das Skelettsystem. Er spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem schützenden Effekt. Der Sachverständige geht insofern also von einer eher positiven Wirkung aus und nimmt – anders als PD Dr. R. – auch keine mittelbaren negativen Folgen im Hinblick auf andere Strukturen des Bewegungsapparates an. Vielmehr stellt er darauf ab, dass der Rudersport als solcher zu einer ausgeprägten Belastung der Wirbelsäule und der Rückenmuskulatur führe, woraus wiederum ein erhöhtes Rückenverletzungsrisiko resultiere. Wenn die Klägerin dann zunächst den die Wirbelsäule stark belastenden Rudersport trotz ihres bereits im Alter von 17 Jahren erlittenen Bandscheibenprolaps fortgesetzt habe, habe sich dies ungünstig auf die Wirbelsäule auswirken müssen. Das Skelettsystem der Klägerin sei durch den Hochleistungssport außergewöhnlichen und zu Spätfolgen prädisponierenden Belastungen ausgesetzt gewesen. Ein kausaler Zusammenhang der geltend gemachten Gesundheitsstörungen gerade mit der Einnahme anabole Steroide könne indes ausgeschlossen werden. Der Sachverständige stellt also wesentlich auf die Auswirkungen des Ruderns als Hochleistungssport als solchem ab. Aus diesen Ausführungen folgt gerade nicht, dass ein zu Wirbelsäulenschäden führender Trainingsumfang überhaupt nur wegen der Einnahme von Oral-Turinabol möglich gewesen wäre. Vielmehr lässt sich den Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. N. entnehmen, dass sich letztlich in den gesundheitlichen Folgen das dem "Hochleistungs-Rudern" selbst innewohnende Risiko für die Wirbelsäulenregion verwirklicht habe, unabhängig von der (zusätzlichen) Einnahme anaboler Steroide.
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Der Sachverständige Professor Dr. M. verneint ausdrücklich einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme anaboler Steroide und den Wirbelsäulenschäden. Auch er geht vielmehr davon aus, dass die festzustellenden Folgezustände das Ergebnis des Hochleistungssports selbst mit außergewöhnlichen und zu Spätfolgen prädisponierenden Belastungen seien. Wegen der Feststellungen von PD Dr. R. auf orthopädischem Gebiet weist er – zu Recht – darauf hin, dass diese fachfremd durch einen Facharzt für Allgemeinmedizin und Innere Medizin erfolgt seien.
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Der Senat vermag nicht aus eigener medizinischer Sachkunde festzustellen, dass trotz der gegenteiligen Feststellungen der Sachverständigen Professor Dr. N. und Professor Dr. M. (sowie Dr. H.) den Schlussfolgerungen von PD Dr. R. (und PD Dr. H.) zu folgen wäre. Gerade bei medizinischen Fragen, die über die bloße Feststellung bestehender Gesundheitsschäden hinausgehen und stattdessen höchst komplexe Kausalitätsfragen betreffen, ist in aller Regel trotz der langjährigen Befassung des Senats mit medizinischen Fragen eine fundierte medizinisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung durch sachverständige Fachärzte erforderlich, auf deren Grundlage der Senat die gebotenen medizinischen und rechtlichen Schlüsse ziehen kann.
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Etwas anderes folgt auch nicht aus den von PD Dr. R. wiedergegebenen Untersuchungen, auf die wiederum in den Publikationen von PD Dr. S. verwiesen wurde. Der Senat folgt den Einwendungen von Professor Dr. N., wonach von einer hinreichend relevanten Aussagekraft der Erhebungen für weibliche Ruderinnen nicht ausgegangen werden kann. Die Befragungen von letztlich nur 52 ehemaligen DDR-Sportlern lassen nicht erkennen, ob und inwieweit sich hierunter eine für statistische Erhebungen ausreichende Zahl von Ruderinnen befunden hat. Die Erhebungen unter schwedischen Bodybuildern würden sogar eher gegen einen kausalen Zusammenhang sprechen. Auch der Senat sieht zur Sportart des American Football so gravierende Unterschiede in der Art der Belastung in Training und Wettkampf, dass eine Heranziehung der hierzu gefundenen Ergebnisse nicht in Betracht kommt. Hinzu kommen die wohl deutlich höheren Dosen, die den US-Profisportlern verabreicht worden sind und die Gefahr von "Zirkelschlüssen", da offenbar ein wesentlicher Anteil der getesteten Athleten anabole Steroide gerade zum Zwecke der schnelleren Regeneration nach erlittenen Verletzungen eingenommen hat. Wenn außerdem ein Mediziner des SC Dynamo 1988 angegeben hat, dass dort gegenwärtig alle Sportlerinnen zumindest der Sektion Turnen unter erheblichen Schäden im Wirbelsäulenbereich litten, kann hieraus kein zwingender Rückschluss auf die Ursächlichkeit gezogen werden, weil – ähnlich wie der Rudersport – auch das Turnen selbst bereits mit einer außergewöhnlichen Belastung für die Wirbelsäule verbunden ist. Dies gilt jedenfalls für die Trainingsintensitäten im Bereich des Hochleistungssports unter den Bedingungen der ehemaligen DDR.
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Darüber hinaus hält der Senat das Gutachten von PD Dr. R. hinsichtlich der von ihm hergestellten Zusammenhänge und Schlussfolgerungen jedenfalls nicht in der Weise für überzeugend, dass er seine Entscheidung hierauf stützen könnte. Nach den – insoweit nachvollziehbaren – Ausführungen des Sachverständigen wirke sich die typische Extrembelastung des Ruderns nicht primär im Bereich der HWS, sondern in den anderen Wirbelsäulenabschnitten aus. Dass die Klägerin in erster Linie gesundheitliche Schädigungen im HWS-Bereich habe, spreche deshalb gegen eine Kausalität des Rudersports als solchem, was – nach Auffassung von PD Dr. R. – wiederum auf eine Ursächlichkeit der Dopinggabe hindeute. Diese Schlussfolgerung ist aus Sicht des Senats aber nicht zwingend. Denn abgesehen davon, dass sich der Sachverständige nicht mit etwaigen weiteren Konkurrenzursachen auseinandersetzt, korrespondieren diese Rückschlüsse nach dem Verständnis des Senats nicht mit dem nach den eigenen Ausführungen des Sachverständigen vermuteten generellen Wirkmechanismus. Diesen beschreibt PD Dr. R. dahingehend, dass wegen der (dopingbedingten) Muskelhypertrophie und der damit verbundenen höheren Kräfte die anderen Strukturen des Bewegungsapparates bezüglich der Belastungstoleranz nicht Schritt halten könnten und durch Überlastung entsprechende Wirbelsäulen-Sportschäden entstünden. Nach dem Verständnis des Senats müsste dieser Wirkmechanismus aber zur Folge haben, dass die hiernach (zumindest mittelbar) auf die Gabe von anabolen Steroiden zurückzuführenden gesundheitlichen Schädigungen primär in den Wirbelsäulenabschnitten auftreten müssten, die typischerweise den Extrembelastungen des Rudersports besonders ausgesetzt sind. Denn gerade dort würden sich die Muskelhypertrophie und die damit einhergehenden größeren Kräfte auswirken, ebenso wie der Umstand, dass andere Strukturen des Bewegungsapparates mit dieser Belastungstoleranz nicht Schritt halten könnten. Demnach würde die Konstellation, dass die Klägerin zwar auch gesundheitliche Beeinträchtigungen an der LWS aufweist, der Schwerpunkt der Wirbelsäulenbeschädigungen indes im Bereich der HWS liegt, eher gegen als für einen kausalen Zusammenhang mit der Gabe von Dopingsubstanzen sprechen.
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Auch aus dem noch während der aktiven Zeit als Ruderin beim SC Dynamo B. 1980 erlittenen Bandscheibenprolaps ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die nunmehr geltend gemachten gesundheitlichen Schäden auf der Verabreichung von Dopingsubstanzen beruhen würden. Denn die damaligen Beeinträchtigungen betrafen eine Bandscheibenvorwölbung bzw. Steilstellung der LWS, die nicht – insbesondere nicht im Sinne eines etwaigen Brückensymptoms – in einem hinreichenden Zusammenhang mit den nunmehr geltend gemachten Beschwerden gesehen werden kann, die sich zumindest schwerpunktmäßig auf die HWS beziehen.
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Darüber hinaus hätte es auch deshalb weiterer Ermittlungen zur gesundheitlichen Situation bedurft, weil sich aus den Akten nahezu keine Hinweise auf die "Krankengeschichte" der Klägerin im Zeitraum von 1980 bis 2000 entnehmen lassen. Entsprechendes gilt für die sonstigen Lebensumstände der Klägerin in diesem Zeitraum, die aus den vorliegenden Materialien allenfalls rudimentär hervorgehen. Daher kann der Senat ohne weitere Befunderhebungen und ggf. hierauf beruhenden Begutachtungen weder Feststellungen zu etwaigen Brückensymptomen innerhalb dieses ca. 20-jährigen Zeitraums zwischen den bekannten stationären Aufenthalten der Klägerin treffen noch zu den sonstigen Lebensumständen und deren etwaiger Relevanz im Hinblick auf gesundheitliche Schädigungen, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule.
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Aus diesem Grunde hat der Senat der Klägerin bereits mit gerichtlichem Schreiben vom 28. Januar 2016 mitgeteilt, dass weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts (u. a. hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens) angezeigt sind. In Vorbereitung einer in Betracht kommenden Einholung eines weiteren (chirurgisch-orthopädischen) Gutachtens war insoweit die Einholung aktueller Befundberichte erforderlich, wozu es entsprechende Angaben der Klägerin zu den sie behandelnden Medizinern und einer Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht bedurft hätte. Eine solche Mitwirkung hat die Klägerin indes mit mehreren Schreiben ausdrücklich zurückgewiesen, zuletzt in Reaktion auf die gerichtliche Aufforderung gemäß § 106a SGG vom 14. November 2016. Dies stimmt im Übrigen mit ihrem Verhalten im Verfahren vor dem SG überein, in dem sie bereits im April 2015 die erforderliche Mitwirkung im Hinblick auf ambulante Untersuchungen zur Erstellung weiterer Gutachten ausdrücklich abgelehnt hatte.
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Obwohl es hinsichtlich der Kausalität nicht des Vollbeweises im engeren Sinne bedarf, sondern eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend ist, liegt auch insoweit die objektive Beweislast bei der Klägerin, d. h., sie trägt das Risiko bzw. den Nachteil, dass sich eine Tatsache (oder eine hinreichende Wahrscheinlichkeit) nicht beweisen und feststellen lässt (non liquet; vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 5 RS 4/16 R, juris). Ohne weitere spezifische Befunderhebungen sowie eine vom Senat in Auftrag gegebene weitere orthopädische Begutachtung zur Klärung der Frage, welchen der bislang vorliegenden (sich im Ergebnis widersprechenden) Gutachten zu folgen ist (und mit der Möglichkeit spezifischer Nachfragen des Senats zu den konkreten Differenzen der bisher vorliegenden medizinischen Bewertungen auf der Grundlage aktueller Befunde), kann sich der Senat jedoch die Überzeugung von einer solchen hinreichenden Wahrscheinlichkeit in Bezug auf eine außergewöhnlich komplexe Kausalitätsbetrachtung zu bis zu mehr als 40 Jahren zurückliegenden Zeiträumen nicht bilden. Wegen der objektiven Beweislast geht dies zu Lasten der Klägerin. Dies gilt neben den unmittelbaren Funktionseinschränkungen von HWS und LWS auch für die Migräne mit typischer Aura und den Nackenkopfschmerz, da der Senat diese Beeinträchtigungen im Ergebnis der eingeholten Gutachten und Befundberichte – dem SG folgend – nicht als eigenständige Schädigungsfolge ansieht, sondern den Wirbelsäulenschädigungen im HWS-Bereich zuordnet.
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bb) Wegen der Ulkuskrankheit als Schädigungsfolge hat sich das SG ebenfalls maßgeblich auf das Gutachten von PD Dr. R. gestützt. Der Sachverständige geht von einer Folge der Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika aus, die die Klägerin aufgrund massiver Schmerzen habe einnehmen müssen. Das SG stellt – PD Dr. R. folgend – darauf ab, dass die Erkrankung Folge der durch die dopingverursachten Wirbelsäulenschäden notwendigen Schmerzmitteleinnahme war. Da nach Auffassung des Senats jedoch die Ursächlichkeit der Verabreichung von Dopingsubstanzen für die Wirbelsäulenschäden und mithin der hierdurch verursachten Schmerzen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststeht, kann auf dieser Grundlage auch nicht von einer Ursächlichkeit für die Ulkuskrankheit ausgegangen werden.
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cc) Hinsichtlich der nicht in Betracht kommenden Anerkennung des Hirsutismus, einer Myokardhypertrophie, einer chronischen Varikosis (Krampfaderleiden) und eines psychophysischen Erschöpfungszustandes mit depressiven Verstimmungszuständen bei chronischem Schmerzsyndrom als Schädigungsfolgen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des SG, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt.
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Mangels anzuerkennender gesundheitlicher Schädigung infolge des (gegebenen) tätlichen Angriffs im Sinne von § 1 Abs.1 Satz 1 und 2 OEG kommt es auf die Frage der Bemessung eines konkreten GdS (einschließlich der Auswirkungen einer etwaigen besonderen beruflichen Betroffenheit) nicht mehr an. Entsprechendes gilt für die besonderen Voraussetzungen eines Versorgungsanspruchs gemäß § 10a Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 OEG.
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Referenzen
- 181 VG 167/07 1x (nicht zugeordnet)
- 2 SB 21/10 1x (nicht zugeordnet)
- 9 V 23/01 1x (nicht zugeordnet)
- § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG 3x (nicht zugeordnet)
- § 6 Abs. 3 OEG 2x (nicht zugeordnet)
- BVG § 60 1x
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- § 1 Abs. 1 OEG 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 143 1x
- § 15 Satz 1 KOVVfG 2x (nicht zugeordnet)
- § 10a Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 OEG 2x (nicht zugeordnet)
- § 2 Abs. 1 OEG 1x (nicht zugeordnet)
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- § 1 Abs.1 Satz 1 und 2 OEG 1x (nicht zugeordnet)
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- SGG § 160 1x
- SGG § 106a 3x
- SGG § 138 1x
- BVG § 1 1x
- SGG § 153 1x
- § 10a Abs. 2 OEG 1x (nicht zugeordnet)
- 7 VE 2/16 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 123 1x
- § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG 1x (nicht zugeordnet)
- § 15 KOVVfG 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 110 1x
- BVG § 30 1x
- SGG § 193 1x
- 9 V 1/12 1x (nicht zugeordnet)