Beschluss vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (1. Senat) - L 1 R 21/16 B

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 28. Oktober 2015 wird aufgehoben.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.

1

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH).

2

Der Kläger bezieht eine Rente für Bergleute sowie ergänzend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II). Er lebt mit seinem Sohn in einem Eigenheim. Die Ehefrau des Klägers lebt nicht mit im Haushalt. Sie schloss mit der Allianz einen Vertrag über eine Lebensversicherung ohne Verwertungsausschluss.

3

Der Kläger hat für ein Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Halle (S 8 R 458/12) über Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI) am 25. Juni 2012 PKH beantragt. Dabei hat er angegeben, dass er verheiratet ist und seit 2003 getrennt von seiner Ehefrau lebt. Nicht mitgeteilt hat er, dass seine Ehefrau eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte.

4

Auf seinen Antrag hin hat das Sozialgericht ihm zunächst mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 ratenfreie PKH unter Beiordnung von Rechtsanwältin H. bewilligt.

5

Mit Urteil vom 9. Mai 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Am 27. Mai 2015 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers die Kostenfestsetzung in Höhe von 677,59 EUR beantragt. Das Sozialgericht hat mit Schreiben vom 1. Juli 2015 mitgeteilt, dass es die Überprüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen beabsichtige, und aktuelle Unterlagen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers abgefordert. Mit Schreiben vom 4. August 2015 hat es darauf hingewiesen, dass sämtliche Angaben zur Ehefrau fehlten. Dabei hat das Sozialgericht aufgrund der Vorlage aktueller Kontoauszüge Kenntnis von der Lebensversicherung der getrennt lebenden Ehefrau erlangt. Mit Schreiben vom 21. September 2015 hat das Sozialgericht weitere Unterlagen über die Lebensversicherung der Ehefrau angefordert. Der Rückkaufswert der Lebensversicherung hat zum 1. September 2015 6.290,40 Euro betragen.

6

Ohne weitere Anhörung des Klägers hat das Sozialgericht die Bewilligung von PKH mit Beschluss vom 28. Oktober 2015 aufgehoben. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hätten nicht vorgelegen. Der Kläger habe einen Unterhaltsanspruch gegen seine getrennt lebende Ehefrau. Der Rückkaufswert der Lebensversicherung liege über dem Schonvermögen.

7

Dagegen hat der Kläger am 20. November 2015 Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Er beziehe SGB II-Leistungen. Von der Lebensversicherung seiner getrennt lebenden Ehefrau habe er keine Kenntnis gehabt.

8

Der Kläger beantragt,

9

den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 28. Oktober 2015 aufzuheben.

10

Der Beschwerdegegner hat keinen Antrag gestellt.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte des Hauptsacheverfahrens zum Aktenzeichen S 8 R 458/12 und des Prozesskostenhilfeheftes, welche sämtlich Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen sind, Bezug genommen.

II.

12

Die Beschwerde ist nach § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, insbesondere ist sie frist- und formgerecht eingelegt worden, § 173 SGG.

1.

13

Die Beschwerde ist auch nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2a SGG ausgeschlossen.

14

Im vorliegenden Fall geht es nicht um die Ablehnung der Bewilligung von PKH, sondern um die nachträgliche Aufhebung einer bewilligenden PKH-Entscheidung nach § 73a SGG in Verbindung mit § 124 Zivilprozessordnung (ZPO), die vom Gesetzeswortlaut des § 172 Abs. 3 Nr. 2a SGG nicht umfasst wird. Eine entsprechende Anwendung einer den Rechtsschutz ausschließenden Ausnahmeverfahrensvorschrift ist nicht möglich (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. März 2016, L 4 AS 52/16 B; Beschluss vom 29. August 2014, L 2 AS 226/14 B; Bayerisches LSG, Beschluss vom 19. August 2015, L 11 AS 533/15 B PKH). Gegen eine analoge Anwendung dieser Norm spricht bereits, dass keine planwidrige Regelungslücke vorliegt (vgl. hierzu BT-Drs. 811/12 S. 65; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. März 2016, L 4 AS 52/16 B; Bayerisches LSG, Beschluss vom 12. April 2017, L 11 AS 248/17 B PKH). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die Beschwerde nur nach dem § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG ausgeschlossen werden. Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber neben der Ablehnung auch die Aufhebung einer PKH-Entscheidung von der Beschwerde ausschließen wollte, sind aus den Gesetzesmaterialien nicht abzuleiten. Während die Ablehnung lediglich die Nichtgewährung einer erstrebten Rechtsposition bedeutet, führt die Aufhebung zu einem Entzug einer bereits erlangten Rechtsposition und stellt damit den deutlich gravierenderen Eingriff dar (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 20. Februar 2014, L 3 AL 159/13 B PKH; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. März 2016, L 4 AS 52/16 B).

2.

15

Die Beschwerde ist begründet. Das Sozialgericht hat die Bewilligung von PKH zu Unrecht aufgehoben.

a.

16

Das Sozialgericht hat einen Verfahrensverstoß begangen. Es hat den Kläger vor der belastenden Aufhebungsentscheidung nicht angehört. Die gerichtlichen Schreiben vom 1. Juli 2015, 4. August 2015 und vom 21. September 2015 genügen den Anforderungen an eine Anhörung nicht. Aus den Aufforderungen, weitere Unterlagen vorzulegen, hat der Kläger nicht schließen können und müssen, dass das Gericht die Aufhebung der Bewilligung von PKH beabsichtige. Die fehlende Anhörung verstößt gegen die Grundsätze des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz sowie § 62 SGG und rechtfertigt grundsätzlich die Aufhebung des Beschlusses (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 62, Rn. 11; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. März 2016, L 4 AS 52/16 B). Ob mit Durchführen des Beschwerdeverfahrens und aufgrund des Vorbringens des Klägers bereits eine Heilung eingetreten ist, kann hier offen bleiben, denn der Beschluss ist bereits aus anderen Gründen aufzuheben.

b.

17

Das Sozialgericht hat bei seiner Aufhebungsentscheidung vom ... 2015 das ihm gebotene Ermessen nicht ausgeübt. Es ist zu Unrecht von einer gebundenen Entscheidung im Sinne der Neufassung des Gesetzes ausgegangen.

18

Dabei kann dahinstehen, ob die Neuregelung des § 124 Abs. 1 Nr. 3 ZPO in der Fassung ab dem 1. Januar 2014 durch das Gesetz zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts vom 31. August 2013 (BGBl. I, S. 3533) oder § 124 Abs. 1 Nr. 3 ZPO in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung (so jedenfalls LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. März 2016, L 4 AS 52/16 B) anzuwenden ist.

19

Nach beiden Rechtslagen war Ermessen auszuüben. Nach der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung ergab sich das Ermessen aus dem Wortlaut "kann". In der ab 1. Januar 2014 geltenden Fassung hat der Gesetzgeber den Begriff "kann" durch "soll" ersetzt. Dabei handelt es sich um ein intendiertes Ermessen, welches nur bei Vorliegen besonderer Umstände auszuüben ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. November 2017, L 15 AS 322/16). Von einem solchen atypischen Fall ist hier auszugehen. Der Kläger hatte bereits auf seinem Erstantrag auf Bewilligung von PKH am 25. Juni 2012 angegeben, dass er verheiratet ist und von seiner Ehefrau getrennt lebt. Für diesen Fall hätte das Sozialgericht bereits zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 die Vorschrift des § 1361 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Betracht ziehen und weitere Ermittlungen hinsichtlich des Einkommens und Vermögens der Ehefrau durchführen müssen. Nach § 1361 BGB kann bei getrennt lebenden Ehegatten ein Ehegatte von dem anderen den nach den Lebensverhältnissen und den Erwerbs- und Vermögensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt verlangen. In diesem Unterlassen weiterer Ermittlungen hinsichtlich des Einkommens und Vermögens der Ehefrau ist ein besonderer Umstand zu sehen. Auf das Nichtheranziehen des Einkommens oder Vermögens der Ehefrau bei der Berechnung seiner Hilfebedürftigkeit wie in der PKH-Bewilligungsentscheidung mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 konnte der Kläger zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung mit Beschluss vom 28. Oktober 2015 vertrauen. Die Frage, wem die unterbliebene Anrechnung der Lebensversicherung zuzurechnen ist - unrichtige Angaben des Klägers oder Unterlassen der gebotenen Ermittlungen durch das Gericht -, hätte im Rahmen der Ermessensausübung durch das Sozialgericht geprüft und die Interessen gegeneinander abgewogen werden müssen. Dabei wäre auch die Frage zu klären gewesen, ob § 124 Abs. 1 Nr. 3 ZPO die Fälle erfasst, in denen der Kläger die Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse richtig und vollständig gemacht hat und ob ein solcher Fall hier anzunehmen war. Schließlich hat das Sozialgericht auch nicht ermittelt, ob weitere Freibeträge und Unterhaltsverpflichtungen der Ehefrau (Selbstbehalt) bestanden haben.

20

Das hier gebotene aber unterbliebene Ermessen kann nicht nachgeholt werden. Der Beschluss vom 28. Oktober 2015 war aufzuheben.

3.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.

4.

22

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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