Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - III-3 Ausl 108/14
Tenor
1. Die Auslieferung des Verfolgten an die italienische Regierung zum Zwecke der Vollstreckung der gegen ihn durch Urteil des Appellationsgerichts Florenz vom 27. März 1992, rechtskräftig seit dem 6. Juni 1992 (Aktenzeichen Nr. 1279/92 R.Sent; Nr. 1348/91 R.G.), wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitz von Kokain verhängten Freiheitsstrafe von dreißig Jahren ist zulässig.
2. Die Einwendungen des Verfolgten gegen den Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 14. August 2014 und den Haftfortdauerbeschluss vom 10. Oktober 2014 werden zurückgewiesen.
1
G r ü n d e :
2I.
3Der Senat hat gegen den Verfolgten mit Beschluss vom 14. August 2014 die Auslieferungshaft angeordnet und mit Beschluss vom 10. Oktober 2014 entschieden, dass diese fortdauert.
4Das Auslieferungsersuchen der italienischen Justizbehörden stützt sich auf den Europäischen Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Florenz vom 31. Juli 2014 (Aktenzeichen Nr. 1/89 Registro Estradizione), dem zugrunde liegt der Vollstreckungshaftbefehl des Appellationsgerichts Florenz vom 26. August 1992 (Aktenzeichen Nr. 278/1992). Durch den Europäischen Haftbefehl – ergänzt durch den nicht datierten Vermerk „Darstellung der gegen den Verfolgten zur Last gelegten strafbaren Handlungen“ der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Florenz – soll die Verhaftung des Verfolgten zur Vollstreckung der gegen ihn durch Urteil des Appellationsgerichts Florenz vom 27. März 1992, rechtskräftig seit dem 6. Juni 1992 (Aktenzeichen Nr. 1279/92 R.Sent; Nr. 1348/91 R.G.), wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitz von Kokain verhängten Freiheitsstrafe von dreißig Jahren gesichert werden.
5In dem Urteil werden folgende Taten des Verfolgten festgestellt:
6Der Verfolgte war in der Zeit von jedenfalls September 1988 bis April 1989 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung in Rom und Florenz an der Beschaffung von Kokain aus den Niederlanden, Spanien und Südamerika beteiligt, das nach Italien (Florenz) eingeführt wurde, um damit in mehreren italienischen Städten über ein verzweigtes Vertriebsnetz unerlaubt Handel zu treiben. Unter anderem war der Verfolgte an folgenden (versuchten) Taten der Einfuhr und des Handeltreibens beteiligt: 5,17 kg Kokain, die in Florenz am 20. September 1988 von der Polizei beschlagnahmt wurden, sowie weitere 45 kg Kokain, die am 18./19. Oktober 1988 in Spanien von den Ermittlungsbehörden beschlagnahmt wurden.
7Der Verfolgte hat sich mit der Auslieferung im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden erklärt. Auch hat er auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet.
8II.
9Die Auslieferung des Verfolgten an die italienische Regierung zur Vollstreckung der gegen ihn durch Urteil des Appellationsgerichts Florenz vom 27. März 1992, rechtskräftig seit dem 6. Juni 1992, verhängten Freiheitsstrafe ist zulässig.
101.
11Der Europäische Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Florenz vom 31. Juli 2014 genügt den formellen Voraussetzungen des § 83a Abs. 1 Nr. 1 bis 6 IRG.
122.
13Die materiellen Auslieferungsvoraussetzungen sind erfüllt.
14a)
15Der Verfolgte unterliegt gemäß den §§ 78, 2 Abs. 1 und 3 IRG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG der Auslieferung. Er ist nicht Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG, sondern nach den Angaben in dem Europäischen Haftbefehl und seinen Angaben bei der richterlichen Vernehmung Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika.
16b)
17Die Straftaten, wegen derer die Auslieferung erfolgen soll, sind auslieferungsfähig. Sie sind auch nach deutschem Recht (§ 129 StGB, §§ 29 ff. BtMG) strafbar, § 3 Abs. 1 IRG, und die Dauer der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe übersteigt das nach § 81 Nr. 2 IRG erforderliche Mindestmaß von vier Monaten.
18c)
19Sonstige Umstände, die der Auslieferung zum Zweck der Strafverfolgung nach §§ 83 IRG, 78, 6 Abs. 2, § 9 oder § 73 Satz 2 IRG entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich.
20aa)
21Insbesondere ist die Auslieferung mit Blick auf das Vorliegen eines Abwesenheitsurteils nicht gemäß § 83 Nr. 3 IRG unzulässig. Nach den ergänzenden Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 geht der Senat davon aus, dass der Verfolgte nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren hat, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, und hinsichtlich dessen ihm ein Recht auf Anwesenheit eingeräumt wird. Der insoweit zu beachtende Maßstab ergibt sich aus den zu § 73 IRG entwickelten Grundsätzen. Danach ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils unzulässig, wenn der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des ihn betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm die Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (BGHSt 47, 120 ff. – juris; BVerfG NStZ-RR 2004, 308). Dies folgt aus dem Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, dessen wesentlicher Kern von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard gehört, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (BVerfG a.a.O.), ebenso wie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK (BGH a.a.O., Böse in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl., 27. Lfg., Juli 2012, IRG, § 83 Rn. 17, jeweils unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 12.2.1985, Colozza./.Italien, Ser. A Nr. 89, §§ 29, 31). Erforderlich ist die Gewährleistung eines allein vom Willen der verurteilten Personen abhängigen, eine umfassende Überprüfung des Anklagevorwurfs ermöglichenden, neuen Verfahrens, das nicht nur im Ermessen des zuständigen Gerichts steht (vgl. Hackner in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., 2012, IRG, § 83 Rn. 11 m.w.N.).
22Nach den ergänzenden Angaben der italienischen Justizbehörden ist eine solche Überprüfung des Anklagevorwurfs durch den dem Verfolgten zustehenden Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 Abs. 2 und Abs. 2 bis CPP in der dort mitgeteilten Fassung gewährleistet. Die von dem Verfolgten hiergegen erhobenen Einwendungen greifen nicht durch.
23Insbesondere trägt die neue Fassung der Vorschrift den vom BGH (a.a.O.) und vom BVerfG (a.a.O.) gegen die frühere Fassung des Art. 175 CPP formulierten Bedenken in ausreichender Weise Rechnung mit der Folge, dass eine Auslieferung des Verfolgten auch unabhängig von einer seinerzeit geforderten Zusicherung des italienischen Staats nach Art. 3 Abs. 1 S. 2 des 2. ZP-EuAlÜbk zulässig ist. Anders als nach Art. 175 CPP a. F. sind in der nunmehr geltenden Fassung weder die Frist zur Stellung des Antrags auf Wiedereinsetzung noch die Beweislastverteilung im Hinblick auf deren Voraussetzungen zu Ungunsten des Verfolgten ausgestaltet. Während Art. 175 CPP a. F. dem Verfolgten eine Frist von lediglich zehn Tagen ab Kenntniserlangung von dem Urteil für die Antragstellung gewährte und Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung überdies der dem Verfolgten obliegende Beweis von Negativtatsachen („Nichtkenntnis“ von dem Urteil, „Nichtverschulden“ der Unkenntnis und „Nichtentziehung“ vor dem Verfahren) war, enthalten Art. 175 Abs. 2 und Abs. 2 bis CPP in der nunmehr geltenden Fassung sowohl eine mit 30 Tagen – ausreichend – bemessene Frist zur Antragstellung als auch eine Umkehr der Beweislast zu Gunsten des Verfolgten. Danach wird der Verurteilte “auf seinen Antrag in die Rechtsmittel- oder Einspruchsfristen wieder eingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung war und freiwillig auf Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet hat“. Entgegen der vom Verfolgten vertretenen Auffassung ist vorliegend nicht ersichtlich, dass die Wiedereinsetzung an einer „Kenntnisfiktion“ infolge einer sog. Unerreichbarkeitsfeststellung im italienischen Zustellungsrecht scheitern könnte, da den italienischen Justizbehörden etwa der ihnen obliegende Beweis gelingen könnte, dass der Verfolgte seinerzeit Kenntnis von dem Verfahren hatte. Es kann insoweit insbesondere dahinstehen, ob dem Verfolgten seinerzeit überhaupt ein Pflichtverteidiger wegen sog. Unerreichbarkeit beigeordnet worden war und ob das italienische Zustellungsrecht die „Kenntnisfiktion“ in seiner aktuellen Ausgestaltung auch dann zulässt, wenn keinerlei tatsächlicher Kontakt zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Verfolgten bestand, wovon hier aufgrund der Angaben des Verfolgten im Auslieferungsverfahren ausgegangen werden muss. Jedenfalls ist weder von dem Verfolgten vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sich eine derartige „Kenntnisfiktion“ auch auf einen freiwilligen Verzicht auf Einspruch oder Rechtsmittel erstrecken könnte. Der Nachweis eben eines solchen freiwilligen Verzichts des Verfolgten obliegt den italienischen Justizbehörden nach der aktuellen Fassung des Art. 175 Abs. 2 S. 1 CPP indes kumulativ zum Nachweis seiner Kenntnis von dem Verfahren bzw. von der Verfügung. Dafür, dass ein solcher Nachweis gelingen könnte, ist nichts ersichtlich.
24Ist mithin davon auszugehen, dass dem Verfolgten vorliegend ein tatsächlich wirksamer, von seinem Antrag abhängiger und nicht im Ermessen der italienischen Justizbehörden stehender Rechtsbehelf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung steht, ist damit gleichzeitig gewährleistet, dass eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfindet.
25Offen bleiben kann, ob diese im Rahmen einer Berufungshauptverhandlung oder in einem neuen erstinstanzlichen Verfahrens stattfindet. Es ist schon in erheblichem Maße fraglich, ob der Einwand des Verfolgten, das Berufungsverfahren nach italienischem Recht biete keine umfassende Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG, vom Grundsatz her überhaupt durchgreifen kann. Selbst wenn – wie von dem Verfolgten vorgetragen – im Rahmen des italienischen Berufungsverfahrens (appello, Art. 593 ff. CPP) in der Hauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfindet, so handelt es sich dennoch um ein Rechtsmittel, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen werden (vgl. Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Daraus ergibt sich, dass in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfindet, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme jedenfalls nicht ausgeschlossen ist. Ein solches Verfahren genügt dem Maßstab des § 83 Nr. 3 IRG. Die Vorschrift geht auf Art. 5 Nr. 1 RB-EUHb zurück. Durch dessen Umsetzung in das deutsche Recht sind (zwar) die Voraussetzungen, unter denen ein Abwesenheitsurteil Grundlage der Auslieferung sein kann, an die von Rechtsprechung und Schrifttum zu § 73 IRG entwickelten Grundsätze angenähert worden (vgl. Hackner, a.a.O., § 83 Rn. 11 m.w.N.). Aus eben diesen zu § 73 IRG entwickelten Grundsätzen ergibt sich indes gerade nicht – wie von dem Verfolgten angeführt – ein Anspruch auf ein neues Gerichtsverfahren im Sinne einer vollständigen ersten Tatsachen- und Rechtsinstanz. Vielmehr reicht die wirksame Möglichkeit, sich nach Erlangung der Kenntnis von dem Urteil nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (vgl. BVerfG a.a.O., m.w.N.; BGH a.a.O.). Dass mit der Einführung von § 83 Nr. 3 IRG eine Anhebung des zu § 73 IRG entwickelten Standards verbunden sein sollte, ist nicht ersichtlich (Böse, a.a.O, § 83 Rn. 16 m.w.N.).
26Unabhängig von diesen Erwägungen ergibt sich hier nämlich die umfassende Überprüfung des Vorwurfs gegen den Verfolgten in einem neuen Gerichtsverfahren hinreichend deutlich aus dem Antwortschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2010. Danach (Seite 1 unter Buchstabe d) besteht für den Fall der Wiedereinsetzung ausdrücklich ein Anspruch des Verfolgten auf eine neue Hauptverhandlung und eine erneute Ladung, und sein Verteidigungsrecht wird dem Verfolgten ohne Vorbehalt zugesichert.
27Auf die weiteren Einwendungen des Verfolgten, insbesondere die Frage, ob er gegebenenfalls einen Anspruch auf Nichtigkeitsfeststellung und/oder auf eine Wiederaufnahme gemäß Art. 603 Abs. 4 CPP hat, kam es nach alledem gleichfalls nicht mehr an. Die Einholung eines Rechtsgutachtens zur aktuellen Rechtslage in Italien war nicht erforderlich.
28bb)
29Im Hinblick auf den zwischen Verurteilung (rechtskräftig seit Juni 1992) und dem Erlass des Europäischen Haftbefehls (vom 31. Juli 2014) liegenden Zeitraum ergibt sich kein Verstoß gegen die in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards und den deutschen ordre public. Ein solcher Verstoß könnte nur dann angenommen werden, wenn der Zeitraum zwischen der Verurteilung und dem Eingang des Auslieferungsersuchens, der Entscheidung hierüber und der Überstellung des Verfolgten unter Berücksichtigung von Art und Höhe der verhängten Strafe so außergewöhnlich wäre, dass er jedes hinnehmbare Maß überschritte. Im Hinblick darauf, dass selbst nach deutschem Strafrecht eine Vollstreckungsverjährung hinsichtlich der Verurteilungen noch nicht eingetreten ist (§ 79 Abs. 3 Nr.1 StGB), ist ein solcher Ausnahmefall hier nicht gegeben (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. Februar 2009 – 2 BvR 257/09 –, juris, m.w.N.).
30cc)
31Das Strafmaß führt gleichfalls nicht zu durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Auslieferung. Eine Auslieferung kann zwar nicht erfolgen, wenn die ihr zugrunde liegenden Akte mit den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar sind, § 73 Abs. 1 IRG. Hierzu zählt der Kernbereich der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips. Dieser ist indes nicht schon dann betroffen, wenn eine Strafe, die den Verfolgten im ersuchenden Staat erwartet, unter Anlegung der Maßstäbe der deutschen Rechtsordnung von maß- und sinnvollem Strafen als zu hart angesehen wird. Die Auslieferung wird vielmehr erst durch eine Strafe gehindert, die unerträglich hart ist und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erscheint, oder die als solche grausam, unmenschlich oder erniedrigend ist. Dies ist hier nicht der Fall. Die dem Verfolgten zur Last gelegten Taten weisen einen hohen Unrechtsgehalt auf. Mit dem Konsum von Kokain sind große Gesundheitsgefahren verbunden. Der regelmäßige Konsum dieser Droge bewirkt eine schwere psychische Abhängigkeit und kann – neben zahlreichen körperlichen Folgeschäden – zum Tod führen. Wer durch die Einfuhr dieser Droge eine Vielzahl von Menschen solchen erheblichen Gefahren aussetzt, handelt verwerflich, seine Schuld wiegt schwer und rechtfertigt regelmäßig auch eine sehr strenge Bestrafung (BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. März 1994 – 2 BvR 2037/93 –, juris, m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 31. März 1987 – 2 BvM 2/86 – juris = BVerfGE 75, 1 ff., 16 ff.; OLG Köln, Beschluss vom 15. August 2006 – 6 Ausl 19/06 – juris; Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15. August 2006 – 2 BvR 1160/06 – juris sowie das dieser Entscheidung zu Grunde liegende Urteil des BGH vom 27. April 2006 – 4 StR 572/05 –, juris = NStZ 2006, 500 f.).
32dd)
33Die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Vollstreckung der über 25 Jahre liegenden zeitigen Freiheitsstrafe verstößt auch im Übrigen nicht gegen den deutschen ordre public (§ 73 S. 2 IRG), demzufolge es zu den elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen der Menschenwürde gehört, dass der Verfolgte bei drohender Vollstreckung einer zeitigen Freiheitsstrafe im Mindestmaß von 25 Jahren grundsätzlich die Chance haben muss, deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren. Auf § 83 Nr. 4 IRG kommt es insoweit nicht an. § 83 Nr. 4 IRG, der die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstraf voraussetzt, ist bereits dem Wortlaut nach nicht einschlägig, zumal im materiellen Strafrecht (§ 38 Abs. 1 StGB) zwischen der zeitigen Freiheitsstrafe und der lebenslangen Freiheitsstrafe unterschieden wird. Eine Sanktion in der hier gegen den Verfolgten verhängten Höhe ist im Übrigen auch faktisch nicht als lebenslange Freiheitsstrafe zu werten.
34Bei der Prüfung, ob der Verfolgte grundsätzlich die Chance hat, deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren, kommt es nicht auf ein justizförmiges Gnadenverfahren an. Ausreichend ist vielmehr, dass das Recht des ersuchenden Staates die Möglichkeit einer Strafrestaussetzung, Begnadigung oder Strafvollzugslockerung mit Freigang, insbesondere bei hohem Alter oder schwerer Erkrankung, kennt und dass hiervon in der Rechtspraxis Gebrauch gemacht wird (vgl. Lagodny in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 73 Rn. 60a m.w.N.). Von einer solchen Möglichkeit und deren Gebrauch in der Rechtspraxis ist vorliegend auszugehen. Der dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Europäische Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Florenz vom 31. Juli 2014 enthält unter „h)“ den Hinweis auf das Gesetz Nr. 354 vom 26. Juli 1975 in der geltenden Fassung, welches auch unter Berücksichtigung der Vorstrafen der verurteilten Person eine Reihe von alternativen Maßnahmen zur Strafhaft vorsehe, die im Hinblick auf die bereits verbüßte Strafzeit, den Gesundheitszustand und das Haftverhalten der verurteilten Person angewendet würden. Wie der offiziellen, amtlichen Internetseite des italienischen Justizministeriums (vgl. www.giustizia.it), insbesondere der dort auch in deutscher Sprache abrufbaren „Charta der Rechte und Pflichten der Gefangenen und Internierten“ gemäß Dekret der Justizministerin vom 5. Dezember 2012 („Carta dei diritti e dei doveri dei detenuti e degli internati – Allegato al decreto 5 dicembre 2012“; http://www.giustizia.it/resources/cms/documents/Carta_dei_diritti_tedesco.pdf) gemäß Anhang 2, ordentliches Gesetz, zu entnehmen ist, handelt es sich bei dem Gesetz Nr. 354 vom 26. Juli 1975 um die „Bestimmungen über die Strafvollzugsordnung und die Vollstreckung der freiheitsentziehenden und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“. Diese sehen unter anderem die Möglichkeit einer deutlichen Strafvollzugslockerung durch Verlegung in den offenen Strafvollzug bei Verurteilung zu einer Strafe von mehr als sechs Monaten nach Verbüßung der Hälfte der Strafe und die bedingte Entlassung bei einer noch nicht verbüßten Reststrafe von bis zu fünf Jahren vor (vgl. S. 17 der deutschen Fassung der genannten Charta) und genügen damit den vorstehend aufgezeigten Anforderungen. Diesbezüglich bedurfte es auch keiner ergänzenden Angaben durch die italienischen Justizbehörden mehr, nachdem der Senat sich aus allgemein zugänglichen Quellen die erforderlichen Angaben zu dem Gesetz Nr. 354 vom 26. Juli 1975 zuverlässig selbst beschaffen konnte. Dass diese Regelungen in der Rechtspraxis auch zur Anwendung kommen, ergibt sich schließlich aus dem Umstand, dass nach dem Dekret vom 5. Dezember 2012 die genannte Charta der Rechte und Pflichten der Gefangenen und Internierten, deren Bestandteil die genannten Möglichkeiten nach dem Gesetz Nr. 354 vom 26. Juli 1975 sind, jedem Gefangenen im Verlaufe des ersten Gesprächs mit dem Direktor oder mit einem Strafvollzugsmitarbeiter bei Eintritt in die Strafvollzugsanstalt ausgehändigt werden soll, um „die beste Ausübung der darin enthaltenen Rechte zu ermöglichen“ (vgl. S. 5 der deutschen Fassung der genannten Charta).
35d)
36Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG gegen die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung geltend zu machen, lässt keinen Ermessensfehler erkennen. Das entsprechende Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft 23. Oktober 2014 ist der Beiständin des Verfolgten bekannt gegeben worden. Damit ist dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs in ausreichender Form Genüge getan.
372.
38Auch die Voraussetzungen für die Fortdauer der Auslieferungshaft gemäß § 78 IRG in Verbindung mit § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG liegen vor.
39Die in den Senatsbeschlüssen vom 14. August 2014 und 10. Oktober 2014 angeführten Gründe gelten fort.
40Die Fortdauer der Auslieferungshaft und ihr Vollzug sind auch weiterhin verhältnismäßig. Der Umstand, dass bislang noch nicht über die Auslieferung entschieden worden ist (§ 83 c Abs. 1 IRG), führt nicht dazu, dass der Auslieferungshaftbefehl aufzuheben wäre. Die Regelung ist ausdrücklich als bloße Sollvorschrift gefasst und enthält keine Sanktionierung einer Missachtung des Beschleunigungsgebotes (vgl. Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 83c, Rn. 4). Dies gilt umso mehr, als die bisherige Verzögerung einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung ihren Grund allein in dem Auslieferungsverfahren selbst hatte, nämlich durch die vor allem gemäß § 83 Nr. 3 IRG erforderlichen weiteren (noch rechtzeitig übermittelten) ergänzenden Angaben durch die italienischen Behörden und deren Prüfung bedingt war. Anhaltspunkte für einen vorwerfbaren Verstoß gegen das im Auslieferungsverfahren geltende Gebot der besonderen Beschleunigung sind nicht erkennbar. Fortdauer und Vollzug der Auslieferungshaft stehen schließlich insbesondere nicht außer Verhältnis zum – erheblichen – Unrechtsgehalt der dem Verfolgten zur Last gelegten Tat.
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