Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 9 U 108/15
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 27.03.2015 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bochum wird zurückgewiesen.
Die Beklagten tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
Gründe:
2I.
3Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO abgesehen.
4II.
5Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg, weil das angefochtene Urteil weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne des § 546 ZPO beruht noch nach § 529 ZPO zugrundezulegende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 Abs. 1 ZPO).
6Zu Recht hat das Landgericht die Beklagten zur Tragung des dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls vom 27.02.20## entstandenen Schadens nach den §§ 7 Abs. 1, 17 StVG, 115 Abs. 1 VVG verurteilt, wobei auch die vom Landgericht angenommene Haftungsquote von 25 % zu 75 % zu Lasten der Beklagten nicht zu beanstanden ist.
7Die vom Landgericht im Rahmen der Parteianhörung und Beweisaufnahme gewonnenen Feststellungen werden von der Berufung nicht angegriffen. Danach steht für den Senat bindend fest, dass die von beiden unfallbeteiligten Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr, jeweils erhöht um ein Verschulden ihrer Fahrer, ursächlich für den streitgegenständlichen Unfall geworden ist. Der Beitrag des Klägers zur Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug besteht darin, dass er die der Unfallstelle vorgelagerte Fußgängerampel unter Missachtung des Rotlichts überquert hat, während die Beklagte zu 1) bei ihrem vom rechten Parkstreifen aus nach links durchgeführten Wendemanöver nicht die ihr gemäß § 10 StVO obliegenden besonderen Sorgfaltspflichten beobachtet hat.
8Es begegnet keinen Bedenken, dass das Landgericht den Verstoß der Beklagten zu 1) höher gewichtet hat als denjenigen des Klägers. Der Senat schließt sich dieser Wertung an.
9Nach § 10 StVO hat derjenige, der nach einem Einfahren auf die Fahrbahn ein Wendemanöver ausführt, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Ein solches Manöver erfordert äußerste Sorgfalt. Der derart Wendende trägt deshalb in der Regel die Hauptverantwortung für einen Unfall, was fremde Mitschuld nicht ausschließt. Gegen ihn spricht allerdings der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden an dem Zustandekommen des Unfalls (BGH DAR 1985, 316).
10Die Beklagte zu 1) vermochte auch in ihrer Anhörung vor dem Senat den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis nicht zu widerlegen, vielmehr ist von einem Verschulden der Beklagten zu 1) auszugehen. Die Beklagte zu 1) hat vor dem Senat angegeben, dass sie aus einer auf der rechten Fahrbahnseite befindlichen Einfahrt herausgefahren sei, in einer Entfernung von etwa zwei Fahrzeuglängen hinter dem Fußgängerüberweg gestanden habe und dann auf dem Parkstreifen nach vorne gefahren sei, um über die Straße zu wenden. Sie habe in den Rückspiegel, über die linke Schulter und in den Seitenspiegel geblickt. Dabei habe sie den Kläger bzw. sein Fahrzeug nicht gesehen, dieser sei „aus dem Nichts“ gekommen.
11Diese Angabe kann offensichtlich nicht zutreffend sein. Denn es ist unstreitig, dass der Kläger eine Geschwindigkeit von 50 km/h eingehalten hat, als er sich der Unfallstelle näherte. Dies bedeutet, dass er 13,8 m in der Sekunde zurückgelegt hat. Der Kläger muss also 10 Sekunden vor dem Unfall etwa 138 m von der Unfallstelle entfernt gewesen und somit angesichts der klaren Sichtverhältnisse auf der gut ausgebauten Straße für die Beklagte zu 1) gut zu sehen gewesen sein, wie die zur Akte gereichten Fotografien belegen.
12Tatsächlich muss jedoch ein wesentlich kürzerer Zeitraum zwischen dem letzten Blick der Beklagten zu 1) nach links und der Kollision verstrichen sein, da sie lediglich die linke und einen Teil der rechten Fahrspur überwunden hatte, als es zum Unfall kam. Wenn man einen Zeitraum von-großzügig gerechnet- 4 Sekunden für den letzten Blick nach links, den Anfahrentschluss und das Anfahren bis zur Kollisionsstelle zugrundelegt, so muss sich das Klägerfahrzeug zum Zeitpunkt des letzten Blickes der Beklagten zu 1) nach links in einer Entfernung von nur noch 55,2 m zur Unfallstelle befunden haben und eindeutig zu erkennen gewesen sein. Dies bedeutet, dass die Beklagte zu 1) entweder das Klägerfahrzeug übersehen hat oder, was wahrscheinlicher ist, nicht mehr über die Schulter gesehen hat, weil sie, wie sie selbst angegeben hat, gesehen hat, wie die Fußgängerampel für den fließenden Verkehr auf Gelb umgeschlagen ist. Somit hat sie möglicherweise einfach darauf vertraut, dass sämtliche Fahrzeuge an der Fußgängerampel anhalten würden. Dieses Vertrauen war auch in gewissem Umfang schützenswert, entband die Beklagte zu 1) jedoch nicht von den erhöhten Sorgfaltspflichten des § 10 StVO.
13Dem Kläger ist ein unfallursächlicher Verstoß gegen § 37 StVO nicht vorzuwerfen. Auf seiner Seite ist lediglich ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO festzustellen. Denn die Beklagte zu 1) war nicht unmittelbar als Verkehrsteilnehmerin in den Schutzraum der Fußgängerampel einbezogen. Vielmehr diente der Schutzraum der Fußgängerampel primär dem gefahrlosen Überqueren der Straße durch Fußgänger. Ob darüber hinaus noch weitere Verkehrsteilnehmer in den Schutzraum einbezogen waren, kann dahinstehen. Jedenfalls kann dies nicht für Fahrzeuge gelten, die ein mit besonderen Gefahren verbundenes Verkehrsmanöver wie das Wenden über vier Fahrspuren ausführen. Die von den Beklagten mit der Berufung herangezogenen Entscheidungen rechtfertigen keine andere Beurteilung. Sowohl der BGH (Urteil vom 02.03.1982, Az. VI ZR 230/80) als auch das Oberlandesgericht Düsseldorf (1 U 138/90) haben ausdrücklich ausgeführt, dass an der Unfallstelle befindliche Fußgängerüberwegsampeln nicht dem Schutz anderer Verkehrsteilnehmer, dort dem des Linksabbiegers, in dem anderen Fall dem aus der einmündenden Straße Einfahrenden, dienten. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle (3 U 46/98) besagt zum Schutzbereich einer Ampel nichts. Nur der 27. Senat des Oberlandes-gerichts Hamm (27 U 240/96) hat die Einbeziehung des aus einer untergeordneten Querstraße in die bevorrechtigte Straße einfahrenden Verkehrs in den Schutzbereich einer Fußgängerampel bejaht. Abgesehen davon, dass der Fall des lediglich aus einer untergeordneten Straße in die Hauptstraße einfahrenden Fahrzeuges nicht mit dem vorliegenden Wendemanöver vergleichbar ist, wurde diese Einschätzung mit den Richtlinien für Lichtsignalanlagen des Bundesverkehrsministers vom 24.06.1992 begründet, die offenbar in ihren Bestimmungen zu Anordnung und Schaltung von Fußgängerlichtzeichenanlagen in unmittelbarer Nähe untergeordneter Straßeneinmündungen ausdrücklich Rücksicht auf die Belange des einbiegenden Verkehrs gebieten.
14Auch ein Verstoß nur gegen § 1 Abs. 2 StVO begründet ein unfallursächliches Mitverschulden an der Entstehung des Unfalls. Allerdings hat dies erhebliche Auswirkungen auf die Abwägung der Verursachungsbeiträge.
15Wie bereits ausgeführt, stellt das in der vorliegenden Art nach unmittelbar vorangeganenem Einfahren auf die Fahrbahn vorgenommene Wenden ein atypisches und besonders gefährliches Verkehrsmanöver dar, weshalb der Gesetzgeber dieses mit besonderen Sorgfaltspflichten belegt und die Rechtsprechung einen Anscheinsbeweis gegen den Wendenden an der Verursachung des im Zusammenhang mit dem Wendemanöver stattfindenden Unfalls bejaht. Deshalb ist grundsätzlich von einer überwiegenden Haftung bis hin zu einer Alleinhaftung des Wendenden für die Unfallfolgen auszugehen.
16Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht den Verursachungsbeitrag des Klägers hierbei in der vorliegenden Konstellation vertretbar nur mit 25 % angesetzt. Denn während der Beklagten zu 1) vorzuwerfen ist, dass sie bei dem außergewöhnlichen und besonders gefährlichen Fahrmanöver des Wendens über vier Spuren die erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat, indem sie entweder nicht ausreichend den fließenden Verkehr beobachtet oder aber den Kläger schlichtweg übersehen hat, beschränkt sich der Vorwurf gegen den Kläger darauf, das berechtigte Vertrauen der Beklagten zu 1), dass er das für ihn geltende Rotlicht an der Fußgängerampel respektieren werde, enttäuscht hat.
17Der Senat sieht sich bei dieser Wertung im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
18Dieser hatte in einer Entscheidung vom 7. Februar 2012 (Az. VI ZR 133/11) über die Verursachungsbeiträge eines Linksabbiegers und eines bevorrechtigten Geradeausfahrers zu entscheiden, der möglicherweise bei Rot-, jedenfalls aber bei lang andauernder Gelbphase, über eine Ampel gefahren war. Er hat hier grundlegend ausgeführt, dass der Linksabbieger in der Regel in vollem Umfang für die Unfallfolgen zu haften habe, wenn er seiner Wartepflicht nicht genüge. Eine überwiegende Haftung des Geradeausfahrenden als auch eine Haftungsquote von 50 % sei nur ausnahmsweise in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt. Eine Haftungsteilung sei in der Rechtsprechung teilweise bei einer Kollision zwischen dem wartepflichtigten Linksabbieger und einem entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer auf einer mit Lichtzeichenanlage geregelten Kreuzung etwa dann angenommen worden, wenn der entgegenkommende Unfallgegner in später Gelbphase oder beginnender Rotphase an anderen, auf einem parallelen Fahrstreifen bereits anhaltenden Fahrzeugen vorbei in den Kreuzungsbereich eingefahren sei. Ausdrücklich postuliert der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung, dass selbst derjenige, der gegen das Haltegebot an einer Lichtzeichenanlage verstößt, nur in Ausnahmefällen hälftig, geschweige denn überwiegend hafte.
19Ein solcher Ausnahmefall ist hier nach dem Dafürhalten des Senats nicht gegeben. Zum Einen stellt das Wendemanöver ein deutlich gefährlicheres Fahrmanöver dar als das Linksabbiegen, weil der Wendende, anders als der Linksabbieger, nicht nur eine, sondern zwei Spuren, im vorliegenden Fall sogar vier Spuren, zu überqueren hat und hierbei, ebenfalls anders als der Linksabbieger, den bevorrechtigten Verkehr nicht ständig im Auge hat, sondern während seines Fahrmanövers zunächst nach links und sodann nach rechts schauen muss. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass andere Fahrzeuge an der Fußgängerampel gehalten hätten, was das Vertrauen der Beklagten zu 1) auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Klägers hätte erhöhen können. Sie selber vermochte dies vor dem Senat nicht sicher zu schildern.
20Als besonders schwerwiegend muss auf Seiten der Beklagten zu 1) gewertet werden, dass diese nicht nur ein Vertrauen auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Klägers in Anspruch genommen hat, sondern sich gewissermaßen blind hierauf verlassen haben muss, was daraus erhellt, dass sie eben nicht den Verkehr beobachtet hat und dann davon ausgegangen ist, der Kläger werde an der Ampel halten, sondern den Kläger überhaupt nicht wahrgenommen hat. Ansonsten hätte sie insbesondere auch erkennen müssen, dass dieser keinerlei Anstalten machte, an der Ampel anzuhalten, indem er seine Geschwindigkeit reduzierte. Bei dieser Sachlage ist die vom Landgericht vorgenommene Bewertung und Gewichtung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge zutreffend (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 20.09.2010, 6 U 222/09).
21Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO.
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Referenzen
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- 3 U 46/98 1x (nicht zugeordnet)
- 27 U 240/96 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO 3x (nicht zugeordnet)
- 6 U 222/09 1x (nicht zugeordnet)
- VI ZR 230/80 1x (nicht zugeordnet)
- StVG § 17 Schadensverursachung durch mehrere Kraftfahrzeuge 1x
- VI ZR 133/11 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 529 Prüfungsumfang des Berufungsgerichts 1x
- ZPO § 546 Begriff der Rechtsverletzung 1x
- § 1 Abs. 2 StVO 2x (nicht zugeordnet)
- § 10 StVO 3x (nicht zugeordnet)
- §§ 7 Abs. 1, 17 StVG, 115 Abs. 1 VVG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 U 138/90 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- StVG § 7 Haftung des Halters, Schwarzfahrt 1x
- ZPO § 97 Rechtsmittelkosten 1x