Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 4 Ws 106/21
Tenor
Die sofortige Beschwerde wird aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses, die durch das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht ausgeräumt werden, auf dessen Kosten (§ 473 Abs. 1 StPO) verworfen.
1
Zusatz:
21.
3a) Ergänzend bemerkt der Senat bzgl. der Voraussetzungen des § 63 S. 2 StGB, dass erhebliche strukturelle Parallelen zwischen der Tat, welche der Verurteilung vom 15.02.2005 zu Grunde lagen und der vorliegenden bestehen. Ausgangspunkt der früheren Verurteilung war ein Mietstreit zwischen seiner Großmutter als Vermieterin und deren Mietern. Auf dem Gelände des Mietshauses wohnte auch der Beschuldigte, der sich in dem Mietstreit persönlich engagierte und schließlich in einem Schub seiner paranoiden halluzinatorischen Psychose zu einem Spaten und einem Kittmesser griff, gewaltsam in die Wohnung eines der Mieter eindrang und versuchte, diesem mit dem Spaten den Kopf einzuschlagen. Im Rahmen von Verteidigungsmaßnahmen des Opfers erlitt dieses Schürfwunden, konnte den Beschuldigten aber überwältigen. Im vorliegenden Fall hat der Beschuldigte nach Angaben der Zeugin A – nach Lage der Dinge ebenfalls im Rahmen eines psychotischen Schubes - seine Wohnungsschlüssel herausverlangt, welche aber die Zeugin zuvor auf Bitten des Beschuldigten der Hausverwaltung übergeben hatte. In der Folge versuchte der Beschuldigte dann, in die Wohnung der Zeugin und ihres Freundes einzudringen, indem er mittels eines Staubsaugerrohres gegen die Tür schlug, um sie so aufzubrechen. Er soll dabei Äußerungen getätigt haben, wie: „Ihr lasst mich hier verhungern und verdursten. Soll ich erst richtig sauer werden?“ Das Türblatt, welches der Freund der Zeugin von innen zugedrückt hatte, wurde teilweise eingedrückt, der Türrahmen ebenfalls beschädigt. Der Beschuldigte soll auch mit einem Messer, welches später aber nicht bei ihm aufgefunden wurde, am Türblatt gekratzt haben. Es kam sodann zu einem Polizeieinsatz, woraufhin die weitere Tatausführung endete.
4Die mit dem o.g. Urteil angeordnete Unterbringung ist zwar mit Beschluss des Landgerichts Paderborn vom 02.10.2015 zur Bewährung ausgesetzt worden. Die damalige günstige Legalprognose gründete wesentlich darin, dass der Beschuldigte seinerzeit Krankheitseinsicht und Medikamentencompliance zeigte und eines beschützenden Raumes, welchen er seinerzeit in einer Außenwohngruppe des „B“ hatte (der Verbleib dort war ihm als Führungsaufsichtsweisung auferlegt worden), bedürfe. Alle diese Umstände waren zum Tatzeitpunkt weggefallen und bestehen derzeit auch – ausweislich des Kurzgutachtens des Sachverständigen C vom 22.03.2021 - nicht.
5b) Damit bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass es bei ungehindertem Fortgang der Tat auch zu erheblichen körperlichen Übergriffen des Beschuldigten auf die Zeugin bzw. ihren Freund gekommen wäre. Ungeachtet dessen ist auch darauf hinzuweisen, dass bereits die begangene Tat die Zeugin so in Todesangst versetzt hat, dass sie umgezogen ist und Abends nicht mehr gern das Haus verlässt. Hier liegen gewichtige Anhaltspunkte dafür vor, dass von dem Beschuldigten Taten drohen, durch welche die Opfer auch seelisch erheblich geschädigt werden.
6Anlass, bzgl. der von dem Beschuldigten drohenden rechtswidrigen Taten einen erhöhten Maßstab anzulegen, weil er bereits einmal nach § 63 StGB untergebracht war, besteht nicht. Der Senat teilt die Auffassung des LG Hagen (Urt. v. 06.01.2021 – 49 KLs – 510 Js 152/20 – 29/20 – juris), dass dann, wenn bereits eine Maßregel nach § 63 StGB vor ihrer Beendigung bereits zehn Jahre vollstreckt wurde, für die erneute Anordnung dieser Maßregel wegen neuer Anlasstaten nicht allein die Voraussetzungen des § 63 StGB vorliegen müssen, sondern bzgl. der Gefahrenprognose aus Verhältnismäßigkeitsgründen die erhöhten Maßstäbe nach § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 StGB anzuwenden seien, in dieser Pauschalität nicht. Der Wortlaut des § 63 StGB gibt für eine solche Auslegung nichts her, systematische und historische Auslegung ebenfalls nicht. Im Gegenteil: Der Gesetzgeber hat in den Materialien ausdrücklich klargestellt, dass es für die Anordnung der Maßregel im Rahmen des § 63 StGB keiner Gefahr der schweren seelischen oder körperlichen Schädigung bedürfe, sondern diese erhöhte Schwelle allein für die Fortdauer über zehn (bzw. sechs) Jahre hinaus von Relevanz ist (BT-Drs. 18/7244 S. 19).
7Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet eine solche pauschale Übertragung der Voraussetzungen des § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 StGB auf § 63 StGB nicht. Die vom Gesetz vorgesehen Vorwertung bzgl. der Verhältnismäßigkeit ergibt ein Regelungsgefüge, in dem bei drohenden zustandsbedingten erheblichen Straftaten die Maßregel anzuordnen ist und dann die Anforderungen an die Fortdauer der Maßregel mit zunehmender Vollstreckungsdauer steigen, bis sie, wenn keine schwere seelischen oder körperlichen Schäden durch zukünftige Taten (mehr) drohen, nach sechs bzw. zehn Jahren für erledigt zu erklären ist.
8Das LG Hagen argumentiert damit, dass es aus Sicht des Betroffenen keinen Unterschied mache, ob eine frühere Maßregel fortdauere oder statt ihrer eine neue angeordnet werde und zu Lasten des Betroffenen ein „Drehtüreffekt“ entstünde, wenn nicht für die erneute Maßregelanordnung der höhere Maßstab des § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 StGB anzuwenden wäre. Es sei ein nicht aufzulösender Widerspruch, „wenn ein- und dieselbe Prognose den Beschuldigten in einem bestimmten juristischen Kontext - Fortdauerentscheidung - zunächst aus der Maßregel herausführt, ihn aber sodann in einem anderen juristischen Kontext - Anordnungsentscheidung - wieder in die Maßregel hineinführt“ (LG Hagen a.a.O.). Dabei verkennt das LG Hagen allerdings bereits den Maßstab der anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung: Neben der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßregelanordnung sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (um die es dem Landgericht offenbar geht) die in der Vorschrift des § 62 StGB genannten Kriterien in einer Gesamtbetrachtung zusammenfassend zu würdigen und zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs in Beziehung zu setzen (BGH NStZ-RR 2019, 305 m.w.N.). Bezugspunkte der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind also die begangenen und zu erwartenden Taten sowie der Grad der vom Täter ausgehenden Gefahr. Nach dem Willen des Gesetzgebers sind (u.a.) die konkrete Art der drohenden Taten, das Gewicht der konkret bedrohten Rechtsgüter und die zu erwartende Häufigkeit und Rückfallfrequenz von Bedeutung (BT-Drs. 18/7244 S. 19). Das Landgericht stellt aber nahezu ausschließlich auf die Beeinträchtigungen einer erneuten Maßregelanordnung für den Täter ab. Geht es aber um den Schutz der Allgemeinheit vor erheblichen Straftaten, durch welche die Opfer erheblich seelisch oder körperlich geschädigt oder gefährdet werden. Wenn man hierunter (u.a.) Gewalt- und Agressionsdelikte jenseits des Bagatellbereichs versteht (vgl. etwa BGH, Urt. v. 01.09.2020 - - 1 StR 371/19 = BeckRS 2020, 27260), wird man kaum sagen können, dass die Schutzinteressen der Allgemeinheit im Rahmen der Gesamtbetrachtung nur wegen einer längerfristigen vorherigen Unterbringung hinten anstehen müssen. Die Auffassung des LG Hagen würde nämlich generell – ohne Ansehung des Einzelfalls - einen „Freibrief“ für die im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene erheblicher rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich („lediglich“) erheblich geschädigt oder gefährdet werden oder („lediglich“) erheblicher wirtschaftlicher Schaden droht, bedeuten. Die Auffassung wird zudem auch der nach Begehung einer neuen Anlasstat im Vergleich zum Zeitpunkt einer Erledigung der Maßregel aktualisierten Tatsachenbasis nicht gerecht. Dem oben dargestellten Normengefüge wird man nur durch eine einzelfallbezogene Betrachtungsweise Genüge tun. Im Einzelfall mag dann eine Angemessenheitsprüfung ergeben, dass nicht jede drohende erhebliche, rechtswidrige Tat eine erneute Maßregelanordnung nach langjähriger Unterbringung rechtfertigt (etwa, wenn die drohenden Taten nur knapp die Erheblichkeitsschwelle erreichen und die zu erwartende Tatfrequenz gering ist). Eine pauschale Übertragung der Anforderungen des § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 StGB bereits auf die Anordnungsebene ist in solchen Fällen hingegen nicht angängig.
9Ungeachtet dessen wird man im vorliegenden Fall, wie die Tat, die der ersten Maßregelanordnung zu Grunde lag, zeigt, sogar das Drohen schwerer körperliche Schädigungen durch zukünftige rechtswidrige Taten des Beschuldigten annehmen können.
102.
11Die öffentliche Sicherheit erfordert die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten angesichts seines gegenwärtigen Zustands auch. Ob ggf. eine erneute Maßregel nach § 63 StGB bereits anfänglich nach § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt werden könnte, hängt wesentlich von dem Zustand des Beschuldigten zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung und davon ab, ob die o.g. Umstände, die wesentlich zu einer Maßregelaussetzung zur Bewährung in dem früheren Verfahren geführt haben, zukünftig sichergestellt werden können. Für die Unterbringung nach § 126a StPO ist dies gegenwärtig ohne Belang.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- StGB § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 8x
- StPO § 473 Kosten bei zurückgenommenem oder erfolglosem Rechtsmittel; Kosten der Wiedereinsetzung 1x
- 510 Js 152/20 1x (nicht zugeordnet)
- StGB § 67b Aussetzung zugleich mit der Anordnung 1x
- StPO § 126a Einstweilige Unterbringung 1x
- 1 StR 371/19 1x (nicht zugeordnet)
- StGB § 62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 1x
- StGB § 67d Dauer der Unterbringung 4x